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Rollentausch

Thomas Wittinger

veröffentlicht am 22.07.2024

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Englisch: Role reversal

Geltungsbereich: Psychodrama

Fassung: Überarbeitung

Der Rollentausch ist eine Grundtechnik des Psychodramas, bei dem sich zwei Personen wechselnd in die Rolle des bzw. der jeweiligen Interaktionspartner:in einfühlen und sich in dessen bzw. deren Haltung körperlich, emotional und geistig hineinversetzen. Anschließend kehrt er bzw. sie wieder in die eigene Rolle zurück.

Überblick

  1. 1 Grundlagen
  2. 2 Ziele des Rollentauschs
  3. 3 Der Rollentausch als Bühnentechnik
  4. 4 Indikationen und Kontraindikationen für einen Rollentausch
  5. 5 Abgrenzungen
  6. 6 Quellenangaben
  7. 7 Literaturhinweise

1 Grundlagen

Der Rollentausch ist – neben dem Doppeln und dem Spiegeln – eine der drei Grundtechniken des Psychodramas. Der Begründer des Psychodramas, Moreno, erklärt sie nicht aus seiner Rollentheorie, sondern entwicklungspsychologisch:

„Diese Verfahren im Psychodrama können in plausibler Weise mit drei Stufen in der Entwicklung des Kindes verglichen werden: (a) das Stadium der Identität (oder das Stadium des Doppelns); (b) das Stadium der Selbsterkenntnis (das Stadium des Spiegelns); (c) das Stadium des Erkennens des anderen (das Stadium des Rollentauschs).“ (Hutter und Schwehm 2009, S. 330)

Der Rollentausch meint ein wechselseitiges Geschehen zwischen zwei Personen:

„Im Rollentausch sind zwei Individuen A und B körperlich präsent; A übernimmt die Rolle von B und B nimmt die Rolle von A. A ist der wirkliche A und B ist der wirkliche B wie z.B. im Rollentausch von Mann und Frau oder Vater und Sohn. Nachdem aber der Tausch abgeschlossen ist, kehrt A zurück in ‚A‘ und B kehrt zurück in ‚B‘ – das ist die Rollenrückkehr zum ursprünglichen Selbst. […] Rollentausch ist für die Untersuchung zwischenmenschlicher Beziehungen und für die Kleingruppenforschung unumgänglich.“ (a.a.O., S. 328)

Allerdings hat Moreno in anderen Formulierungen nicht systematisch zwischen Rollenwechsel und Rollentausch unterschieden (Pruckner und Schacht 2003, S. 13). Die Terminologie des Rollentauschs ist aufgrund der heutigen Praxis gegenüber Morenos Begriffsbestimmung weiterentwickelt und dementsprechend auch terminologisch ausdifferenziert worden.

2 Ziele des Rollentauschs

Das generelle Ziel des Rollentauschs ist Beziehungsklärung. Die Hypothese des Psychodramas ist, dass durch den Rollentausch festgefahrene Kommunikations- und Erfahrungsmuster aufgebrochen werden können, indem die jeweiligen Interaktionspartner:innen:

  • sich selbst (A) aus der Perspektive des bzw. der anderen (B) sehen und erleben;
  • körperlich-geistig-emotional erfahren, wie sich (B) selbst in der Interaktion mit (A) erlebt (bei anwesenden Interaktionspartner:innen gilt dies auch umgekehrt);
  • die jeweilige Erfahrung in die je eigene Interaktion mit einfließen zu lassen.

Der besondere Wert gegenüber einem nur imaginierten Rollenwechsel ist die zusätzliche körperlich-emotionale Ebene, die in dieser Qualität rein rational nicht erreicht werden kann.

3 Der Rollentausch als Bühnentechnik

Grundsätzlich wird zwischen dem kollektiven Rollentausch im Soziodrama und dem Rollentausch im Protagonistenspiel unterscheiden. Der kollektive Rollentausch ist eine Technik im Soziodrama, geht allerdings nicht auf Moreno zurück, sondern auf Augusto Boal. Der Rollentausch als Bühnentechnik erfolgt im Protagonistenspiel, wie im Zitat von Moreno dargestellt immer wechselseitig und am Schluss wieder zurück. Er wird „eingesetzt, um

  • dem Hilfs-Ich, der Gruppe und dem Leiter die Einfühlung in die neu eingeführte Rolle zu ermöglichen,
  • dem Hilfs-Ich im Handlungsverlauf Informationen zu geben, die es für das Ausfüllen der Rolle braucht (insbesondere Antworten auf von der Protagonistin gestellte Fragen).“ (Ameln und Kramer 2014, S. 58)

Die Personen müssen von der Leitung mit dem Namen der getauschten Person angesprochen werden, um den Rollentausch so weit reichend wie möglich zu erleben und zu gestalten. Prinzipiell wird zwischen einem Rollentausch mit einer anwesenden Person und dem Rollentausch mit einer abwesenden Person unterschieden.

  1. Beim Rollentausch mit einer anwesenden Person schlüpfen beide Personen in die Rolle des Gegenübers und fühlen sich in dessen bzw. deren körperlich-geistig-emotionale Haltung ein und führen erneut das (meist konflikthafte) Gespräch aus dessen bzw. deren Sicht heraus durch. Danach kehren beide wieder in ihre ursprüngliche Rolle zurück.
  2. Der Rollentausch mit einer abwesenden Person (B) kann als direkter oder als indirekter Rollentausch erfolgen. In beiden Formen erfolgt der Rollentausch in der Regel mit einem Gruppenmitglied als Hilfs-Ich. Dieses Hilfs-Ich vertritt den bzw. die Interaktionspartner:in des bzw. der Protagonist:in. Deshalb wird diese Form auch stellvertretender Rollentausch genannt. (Pruckner und Schacht 2002, S. 13)

Auch beim direkten Rollentausch tauscht die Person A mit der Person B die Rolle und umgekehrt. Allerdings wird hier die Person B durch ein Gruppenmitglied vertreten.

Beim indirekten Rollentausch wird ein weiteres Gruppenmitglied als Hilfs-Ich hinzugezogen. Wenn die Person A mit dem bzw. der Stellvertreter:in von Person B die Rolle tauscht, tritt das weitere Gruppenmitglied quasi als Doppelgänger an die Stelle von Person A. Der bzw. die Stellvertreter:in von Person B tritt dann für einen Moment zur Seite.

Wichtig ist beim stellvertretenden Rollentausch, dass nur die inneren Repräsentationen der Person B in der Person A zum Ausdruck kommen. In der Realität kann die Person B die Repräsentationen verifizieren und/oder falsifizieren. Der Rollentausch mit einer abwesenden Person ist eine der wesentlichen Techniken im Einsatz des Leeren Stuhls.

Der kollektive Rollentausch im Soziodrama bezeichnet, dass zwei ganze Gruppen die Rolle tauschen. Sie tauschen aber meistens nicht zurück, „because the goal is […] to explore a role in its complexity and generality. Therefore, the aim is to incorporate as many individual variations into the role as possible, to increase the chances of a shift occurring within the given constellation“ (Blaskó, et al. 2021). Der kollektive Rollentausch als Technik im Soziodrama ist von Augusto Boal entwickelt worden (Ursula Hauser im persönlichen Gespräch mit dem Autor).

4 Indikationen und Kontraindikationen für einen Rollentausch

„Die Technik des Rollentauschs ist umso effektiver, je näher sich die zwei Individuen in psychologischer, sozialer und ethnischer Hinsicht stehen: Mutter-Kind, Vater-Sohn, Mann-Frau.“ (Hutter und Schwehm 2009, S. 328) Dies ist insofern zu differenzieren, dass die Bearbeitung eines Eltern-Kind-Konflikts voraussetzt, dass der Sohn bzw. die Tochter sich bereits im Erwachsenenalter befindet. Dies muss als Regel dahingehend verallgemeinert werden, dass die Person, die eine Rolle tauscht,

  • die Differenz zwischen Ist-Zustand und Wunschvorstellung wahrnehmen und emotional (auch in einer zeitlichen Differenz) aushalten kann;
  • zu einer Konfliktwahrnehmung und -gestaltung in der Lage sein muss. Mit anderen Worten: „Das Erkunden von Ursachen und Wirkung in einem Beziehungskonflikt und die neue Selbst- und Beziehungsverwirklichung im Spiel gelingt nur bei ausreichender Identitätssicherheit.“ (Krüger 2003, S. 109)

Für den Rollentausch unterscheidet Krüger eine relative von einer absoluten Kontraindikation.

Relative Kontraindikation:

  • Nach Krüger ist dies bei suchtkranken Menschen erst dann der Fall, wenn sie nach wenigstens zwei Jahren Therapie zu der Erkenntnis gelangt sind: „Ich trinke, dadurch habe ich Probleme.“ (ebd.).
  • Bei Jugendlichen ist erst ab etwa 16 Jahren ein Rollentausch indiziert, weil die Erlangung einer Identitätssicherheit ein charakteristisches Merkmal der Pubertät ist. Jüngere Jugendliche haben noch nicht diese Identitätssicherheit entwickelt, die z.B. durch eine bewusste Unterscheidung zwischen eigenem Selbst und dem Selbst von Interaktionspartner:innen geprägt ist.

Absolut kontraindiziert ist der Rollentausch nach Krüger (a.a.O., S. 111–114)

  • bei psychotischen Patienten;
  • bei durch (sexualisierte) Gewalt traumatisierten Menschen. Hier verbietet sich der Rollentausch mit den Täter:innen (Kellermann und Hudgins 2001).

5 Abgrenzungen

Im Alltag werden häufig Formulierungen verwendet wie: „Wenn ich … (Chef, Bruder, Ehemann o.a.) wäre, dann würde ich…“ Oder: „Wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich…“ Bei genauerer Betrachtung handelt es sich bei solchen Formulierungen weder um einen Rollentausch noch um einen Perspektivwechsel. Vielmehr werden der genannten Person nur die Ideen, Ansichten oder Ratschläge des bzw. der Sprecher:in in den Mund gelegt.

6 Quellenangaben

Ameln, Falk und Josef Kramer, 2014. Psychodrama: Grundlagen. Heidelberg: Springer Verlag. ISBN 978-3-6424-4920-8

Blaskó, Ágnes, Móni Durst, Orsolya Fóti, Krisztina Galgóczi, Kata Horváth, Andrea Kocsi und Eszter Pados (2021). Fejezet a szociodrama folzamata. In: Ágnes Blaskó, Móni Durst, Orsolya Fóti, Krisztina Galgóczi, Kata Horváth, Andrea Kocsi und Eszter Pados, Hrsg. Tágulo realtás. A szociodráma módszere. Budapest: L'Harmattan, S. 99–160. ISBN 978-9-6341-4858-6

Hutter, Christoph, 2000. Psychodrama als Experimentelle Theologie. Münster: Lit-Verlag. ISBN 978-3-8258-4666-4 [Rezension bei socialnet]

Hutter, Christoph und Helmut Schwehm, 2009. J. L. Morenos Werk in Schlüsselbegriffen. Wiesbaden: VS-Verlag. ISBN 978-3-5311-9593-3

Kellermann, Peter F. und Kate Hudgins, 2001. Psychodrama with Trauma Survivors. London: Kingsley. ISBN 978-1-8530-2893-9

Krüger, Reinhard T., 2003. Indikationen und Kontraindikationen für den Rollentausch. In: Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie. (2)1, S. 91–115. ISSN 1619-5507

Pruckner, Hildegard & Michael Schacht, 2003. Machen Sie bitte einen????. In: Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie. 2(1), S. 7–15. ISSN 1619-5507

Schacht, Michael (unveröffentlichter Vortrag). Theorie und entwicklungspsychologische Begründung psychodramatischer Techniken

7 Literaturhinweise

Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie (ZPS) (2)1, 2003. Rollenwechsel und Rollentausch. ISSN 1619-5507

Verfasst von
Thomas Wittinger
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Es gibt 21 Lexikonartikel von Thomas Wittinger.

Alle Versionen

  1. 22.07.2024 Thomas Wittinger [aktuelle Fassung]
  2. 24.04.2024 Thomas Wittinger
  3. 27.10.2021 Inge-Marlen Ropers

Zitiervorschlag
Wittinger, Thomas, 2024. Rollentausch [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 22.07.2024 [Zugriff am: 10.10.2024]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/30236

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