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Ruhensanordnung

Prof. Dr. Annegret Lorenz

veröffentlicht am 03.05.2022

Synonyme: Ruhensfeststellung; Ruhensbeschluss

Geltungsbereich: Sorgerecht

Rechtlicher Disclaimer: Herausgeberin und Autor:innen haften nicht für die Richtigkeit der Angaben. Beiträge zu Rechtsfragen können aufgrund geänderter Rechtslage schnell veralten. Sie ersetzen keine individuelle Beratung.

Die Ruhensanordnung ist eine gerichtliche Entscheidung, die das Ruhen der Sorge des betroffenen Elternteils bewirkt.

Überblick

  1. 1 Zusammenfassung
  2. 2 Voraussetzung einer Ruhensanordnung
    1. 2.1 Tatsächliche Verhinderung …
      1. 2.1.1 Abwesenheit
      2. 2.1.2 Gründe in der Person des Elternteils
    2. 2.2 … für längere Zeit
  3. 3 Folgen einer Ruhensanordnung
    1. 3.1 Auswirkungen auf die Sorge des Elternteils
    2. 3.2 Sicherung der Sorge für das Kind
  4. 4 Aufhebung einer Ruhensanordnung
  5. 5 Verhältnis der Ruhensanordnung zu Eingriffen in die elterliche Sorge
  6. 6 Verfahrensrechtliche Hinweise
  7. 7 Quellenangaben
  8. 8 Literaturhinweise

1 Zusammenfassung

Eine Ruhensanordnung ergeht bei einer längeren tatsächlichen Verhinderung eines Elternteils. Sie führt zu einer Suspension der Sorge des verhinderten Elternteils. Der Ruhensbeschluss wird aufgehoben, wenn die Verhinderung endet. Für die Zeit des Ruhens übt der andere Elternteil oder ein Vormund die Sorge für das Kind aus.

2 Voraussetzung einer Ruhensanordnung

Das Ruhen der elterlichen Sorge wird gerichtlich angeordnet, wenn ein Elternteil auf längere Zeit tatsächlich verhindert ist, die elterliche Sorge auszuüben (§ 1674 Abs. 1 BGB).

2.1 Tatsächliche Verhinderung …

Eine tatsächliche Verhinderung liegt immer dann vor, wenn der betroffene Elternteil aus tatsächlichen Gründen die Sorge – oder zumindest wesentliche Teile – faktisch nicht ausüben kann oder nicht ausübt (Veit 2022, BGB § 1674 Rn. 3). Die Gründe für das Ausübungshindernis können in einer räumlichen Trennung zwischen Elternteil und Kind, aber auch in der Person des Elternteils liegen.

2.1.1 Abwesenheit

Der klassische Anwendungsfall eines tatsächlichen Ausübungshindernisses ist die physische Abwesenheit eines Elternteils. Sie allein reicht jedoch nicht zwingend aus (Friederici und Reinhardt 2021, BGB § 1674 Rn. 2). Vielmehr kommt es in diesem Fall darauf an, ob der abwesende Elternteil ausreichende Möglichkeiten zur Kommunikation aus der Ferne hat, die es ihm erlauben, gestaltend auf die Kindesentwicklung einzuwirken (Friederici und Reinhardt 2021, BGB § 1674 Rn. 2.).

Kein Anwendungsfall für einen Ruhensbeschluss ist daher die Delegation sorgerechtlicher Befugnisse an Dritte, etwa die Unterbringung des Kindes in einer Pflegefamilie, einem Heim oder Internat (Veit 2022, BGB § 1674 Rn. 3). Ebenfalls kein Anwendungsfall der tatsächlichen Verhinderung ist das Getrenntleben der Eltern (Veit 2022, BGB § 1674 Rn. 5). Ein Ruhensbeschluss scheidet im Übrigen aus, wenn der Elternteil für die Versorgung des Kindes während seiner Abwesenheit gesorgt hat und in der Lage ist, auch während seiner Abwesenheit Einfluss auf die Ausübung der elterlichen Sorge zu nehmen (Völker und Clausius 2020, S. 116). Dafür reicht allerdings die Erteilung einer Vollmacht an einen Dritten, etwa das Jugendamt, nicht aus (Veit 2022, BGB § 1674 Rn. 3).

Inhaftierte Elternteile können mit Blick auf ihre eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten ihre Sorge nicht mehr ausreichend ausüben. Gleiches ist bei einer anonymen Geburt oder dem Ablegen des Kindes in einer Babyklappe anzunehmen (Veit 2022, BGB § 1674 Rn. 7). Auch bei der Einreise unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge ist regelmäßig das Ruhen der elterlichen Sorge festzustellen (Völker und Clausius 2020, S. 116). Dies gilt selbst dann, wenn der Minderjährige in Begleitung einer volljährigen Person einreist, der die Eltern eine Sorgerechtsvollmacht erteilt haben (Veit 2022, BGB § 1674 Rn. 3.1).

2.1.2 Gründe in der Person des Elternteils

Denkbar ist eine Ruhensfeststellung weiter auch bei schweren körperlichen (eine schwere Krebserkrankung z.B.), psychischen oder geistigen Erkrankungen eines Elternteils (Völker und Clausius 2020, S. 117). Gleiches gilt für Suchterkrankungen, bei denen es zu längeren Ausfällen kommen kann (Friederici und Reinhardt 2021, BGB § 1674 Rn. 5). Bei schweren psychischen oder geistigen Erkrankungen können sich Abgrenzungsschwierigkeiten zum Ruhen wegen Geschäftsunfähigkeit eines Elternteils stellen (Friederici und Peter 2021, BGB § 1674 Rn. 5).

2.2 … für längere Zeit

Der unbestimmte Begriff der „längeren“ Zeit ist gesetzlich nicht weiter definiert und wird in der Praxis durch die Rechtsprechung konkretisiert. Unerheblich ist, ob ein Ende der Verhinderung absehbar ist. Daher ist eine Ruhensanordnung auch dann denkbar, wenn keine Aussicht auf ein Ende des Ruhens besteht (Veit 2022, BGB § 1674 Rn. 12).

Eine mehrjährige Freiheitsstrafe des Elternteils löst im Regelfall eine Ruhensanordnung aus (Friederici und Reinhardt 2021, § 1675 Rn. 3). Ob Untersuchungshaft ausreicht, ist hingegen zweifelhaft (Friederici und Reinhardt 2021, § 1675 Rn. 3).

Bei lediglich vorübergehenden Verhinderungen scheidet eine gerichtliche Ruhensfeststellung hingegen aus. Die Sorge für das Kind wird in diesem Fall durch § 1678 Abs. 1 BGB geregelt: Teilen sich die Eltern die Sorge, übt der andere Elternteil die Sorge allein aus (§ 1678 Abs. 1 BGB). Steht dem verhinderten Elternteil die Sorge allein zu, ist ein Vormund bzw. Pfleger zu bestellen, ggf. hat das Familiengericht erforderliche Maßnahmen zu treffen (§ 1693 BGB).

3 Folgen einer Ruhensanordnung

3.1 Auswirkungen auf die Sorge des Elternteils

Die Ruhensanordnung suspendiert die Sorge des betroffenen Elternteils. Dieser darf sie mithin nicht mehr ausüben und kann das Kind während dieser Zeit nicht wirksam vertreten. Der betroffene Elternteil ist verpflichtet, das Kindesvermögen an den gesetzlichen Vertreter herauszugeben (§ 1698 Abs. 1 BGB).

3.2 Sicherung der Sorge für das Kind

Für die Frage, wer während des Ruhens anstelle des ausgefallenen Elternteils die Sorge für das Kind ausübt, ist zu differenzieren:

  • Besitzen die Eltern die gemeinsame Sorge, so übt der andere Elternteil die Sorge allein aus (§ 1678 Abs. 1 BGB).
  • Ist der ausgefallene Elternteil alleinsorgeberechtigt, so ist eine gerichtliche Übertragung des Sorgerechts auf den anderen Elternteil denkbar, wenn keine Aussicht besteht, dass der Grund des Ruhens wieder wegfällt (§ 1678 Abs. 2 BGB).
  • Kommt eine Übertragung auf den anderen Elternteil nicht in Betracht, so hat das Familiengericht dem Minderjährigen einen Vormund zu bestellen (§ 1773 Abs. 1 Nr. 2 BGB [bis 31.12.2022: § 1773 Abs. 1 BGB]).
  • Das Familiengericht selbst besitzt gem. § 1693 BGB die Befugnis, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, solange keine anderweitige sorgerechtliche Zuständigkeit etabliert ist (Hennemann 2020, BGB § 1674 Rn. 18).

4 Aufhebung einer Ruhensanordnung

Fällt das Hindernis weg, so lebt die Sorge des ausgefallenen Elternteils nicht automatisch wieder auf.

Vielmehr bedarf es einer Aufhebung der Ruhensanordnung durch das Familiengericht. Die Ruhensanordnung wird dabei aufgehoben, wenn das Gericht feststellt, dass der Grund des Ruhens nicht mehr besteht (§ 1674 Abs. 2 BGB).

Wurde allerdings dem anderen Elternteil in der Folge des Ruhensbeschlusses die Sorge allein übertragen (das kommt in Betracht, wenn ein alleinsorgeberechtigter Elternteil ausgefallen ist und keine Aussicht auf Wegfall des Hindernisses besteht, § 1678 Abs. 2 BGB), so wird diese nicht durch die „Rückkehr“ des ausgefallenen Elternteils in Frage gestellt (Veit 2022, BGB § 1678 Rn. 19). Es bleibt daher bei der Sorge des anderen Elternteils. Diese Entscheidung kann jedoch aus triftigen Gründen des Kindeswohles geändert werden (§ 1696 BGB).

5 Verhältnis der Ruhensanordnung zu Eingriffen in die elterliche Sorge

Im Verhältnis zu einem Sorgerechtseingriff nach § 1666 BGB ist die Ruhensanordnung die speziellere Norm. Eine Ruhensanordnung geht mithin im Regelfall einem Sorgerechtseingriff vor (Friederici und Reinhardt 2021, BGB § 1674 Rn. 1). Ist das Kindeswohl daher durch eine Ruhensanordnung für die Zeit der Abwesenheit des Elternteils ausreichend geschützt, scheidet ein Eingriff in die Sorge regelmäßig aus. Nur, wenn die Ruhensanordnung nicht ausreicht, um das Kindeswohl zu schützen, kommt ein Eingriff in die Sorge gem. § 1666 BGB in Betracht. Dies wurde etwa angenommen bei einem Vater, der wegen der Ermordung der Kindesmutter eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßte, weil es für die traumatisierten Kindern für ihre Traumaverarbeitung nötig war, ihnen größtmöglichen Abstand zu ihrem Vater zu verschaffen (OLG Brandenburg, Beschluss v. 3.8.2020, 13 UF 64/19). 

Denkbar ist aber ein Sorgerechtseingriff im Anschluss an das Ruhen, etwa, weil nach dem Wiederaufleben der Sorge die Befürchtung einer Kindeswohlgefährdung besteht (Friederici und Reinhardt 2021, BGB § 1674 Rn. 10). Im Rahmen der Aufhebung eines Ruhensbeschlusses wird das Gericht daher prüfen, ob die Eltern in der Lage sind, die Sorge eigenverantwortlich auszuüben (Völker und Clausius 2020, S. 118). Ein Sorgerechtseingriff kommt z.B. in Betracht, wenn ein Elternteil sein Kind unversorgt zurückgelassen und dadurch das Wohl des Kindes gefährdet hat und nach seiner Rückkehr die Aufhebung der Ruhensanordnung anstrebt.

6 Verfahrensrechtliche Hinweise

Die Ruhensanordnung ergeht von Amts wegen (Hennemann 2020, BGB § 1674 Rn. 12). Eines gesonderten Antrags bedarf es nicht. Gleiches gilt für ihre Aufhebung (Völker und Clausius 2020, S. 118).

7 Quellenangaben

Friederici, Peter und Jörg Reinhardt, 2021. BGB §§ 1674, 1675. In: Barbara Dauner-Lieb, Thomas Heidel und Gerhard Ring, Hrsg. NomosKommentar BGB Familienrecht Band 4: §§ 1297–1921. 4. Auflage. Baden-Baden: Nomos. ISBN 978-3-8487-4990-4 [Rezension bei socialnet]

Hennemann, Heike, 2020. BGB § 1674. In: Franz Jürgen Säcker, Roland Rixecker, Hartmut Oetker und Bettina Limperg, Hrsg. Münchener Kommentar zum BGB. Band 10 Familienrecht II. §§ 1589–1921 – SGB VIII. 8. Auflage. München: C.H. Beck. ISBN 978-3-406-72610-1

Veit, Barbara, 2022, BGB §§ 1674, 1678. In: Wolfgang Hau und Roman Poseck, Hrsg. Beck’scher Online-Kommentar BGB [online]. 61. Edition. München: C.H.Beck [Zugriff am: 02.03.2022]. Verfügbar unter: https://beck-online.beck.de/?vpath=bibdata%2fkomm%2fBeckOKBGB_61%2fcont%2fBECKOKBGB%2ehtm

Völker, Mallory und Monika Clausius, 2020. Sorge- und Umgangsrecht: Handbuch für die familienrechtliche Praxis. 8. Auflage. Baden-Baden: Nomos. ISBN 978-3-8487-6814-1 [Rezension bei socialnet]

8 Literaturhinweise

Fröschle, Tobias, 2019. Familienrecht. 4. Auflage. Stuttgart: Kohlhammer. ISBN 978-3-17-038086-8 

Hoffmann, Birgit, 2018. Personensorge. 3. Auflage. Baden-Baden: Nomos. ISBN 978-3-8487-4602-6

Lorenz, Annegret, 2022. Zivil- und familienrechtliche Grundlagen der Sozialen Arbeit. 4. Auflage. Baden-Baden: Nomos. ISBN 978-3-8487-8692-3

Marx, Ansgar, 2018. Familienrecht für soziale Berufe: Ein Leitfaden mit Fällen, Mustern und Übersichten. 2. Auflage. Köln: Bundesanzeiger Verlag. ISBN 978-3-8462-0817-5 [Rezension bei socialnet

Münder, Johannes, Rüdiger Ernst, Wolfgang Behlert und Britta Tammen, 2021. Familienrecht: Eine sozialwissenschaftlich orientierte Darstellung. 8. Auflage. Baden-Baden: Nomos. ISBN 978-3-8487-5976-7 [Rezension bei socialnet]

Schleicher, Hans, 2020. Jugend- und Familienrecht. 15. Auflage. München: C.H.Beck. ISBN 978-3-406-74579-9 [Rezension bei socialnet

Völker, Mallory und Monika Clausius, 2020. Sorge- und Umgangsrecht: Handbuch für die familienrechtliche Praxis. 8. Auflage. Baden-Baden: Nomos. ISBN 978-3-8487-6814-1 [Rezension bei socialnet]

Verfasst von
Prof. Dr. Annegret Lorenz
Professorin für Recht mit Schwerpunkt Familien-, Betreuungs- und Ausländerrecht am Fachbereich Gesundheits- und Sozialwesen der Hochschule Ludwigshafen am Rhein

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Zitiervorschlag
Lorenz, Annegret, 2022. Ruhensanordnung [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 03.05.2022 [Zugriff am: 07.10.2024]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/29393

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