Scham
Prof. Dr. Katharina Gröning
veröffentlicht am 06.01.2025
Unter Scham wird als die unmittelbare somatische und emotionale Reaktion auf Bloßstellung, Erniedrigung und Entehrung verstanden. Unterschieden wird seelische Scham, soziale Scham und körperliche Scham. Beschämung zielt auf das kulturelle definierte Niedrige im Menschen und ist deshalb veränderbar. Sie umfasst das ganze Selbst.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Sozialwissenschaftliche Zugänge zur Scham
- 3 Klinische Schamtheorien und der Beitrag von Leon Wurmser
- 4 Scham in der Ethnologie – Mary Douglas und Jaques Attali
- 5 Entwicklungspsychologische Perspektiven
- 6 Philosophische Perspektiven bei Martha Nussbaum
- 7 Scham, Würde und Schamlosigkeit
- 8 Quellenangaben
1 Zusammenfassung
Die Scham gilt als das erste, und gleichwohl die ganze Person umfassende Sozialgefühl (Neckel 1991, Wurmser 1993a) und wird damit von der Angst, die als „Urgefühl“, als anthropologisch bedingtes Grundgefühl (Schultz 1995) verstanden wird, unterschieden. Während Angst z.B. bei Freud in der Todesangst/​Vernichtungsangst, später der Strafangst, und damit verbunden in der (kindlichen) Trennungserfahrung wurzelt, wird Scham als Bloßstellung, als Verlust der Ehre und als Reaktion auf die Erfahrung der Erniedrigung definiert. Das Wort Scham stammt aus dem Germanischen „skâm“ und wird übersetzt mit zudecken, verbergen. Die sich schämende Person wolle verschwinden, „in den Boden versinken“. Zur Scham gehört nach Wurmser das Erröten, das demütige Senken des Blicks und die Selbstversachtung (1993a, S. 79). Nach Scheler (1957) entsteht sie im Moment der Reflexion auf sich selbst. Der Blick der Anderen bzw. das Bewusstsein des Blickes der Anderen und damit die soziale Objektivität spielen als Auslöser von Schamgefühlen eine zentrale Rolle. Sowohl die Soziologie, die Sozialpsychologie, die klinische Psychologie und die Kulturwissenschaft haben wichtige Beiträge zur Schamtheorie und zur Schamforschung verfasst. Als klassische ältere Schamforscher gelten Georg Simmel (Psychologie der Scham und der Distinktion) und Max Scheler (1957), es folgen Norbert Elias und Erving Goffman.
Wichtige Beiträge kommen ebenfalls aus der Ethnologie z.B. von Mary Douglas und Mario Erdheim, hier in Bezug auf Distinktion und soziale Ungleichheit, ein Thema, das ebenfalls bei Bourdieu (1997a) zu finden ist.
2 Sozialwissenschaftliche Zugänge zur Scham
In den 1990er Jahren haben die Arbeiten von Leon Wurmser (1993a und 1993b) große internationale Bedeutung erfahren. Seine Werke „Die Maske der Scham“ und „Die Flucht vor dem Gewissen“ können als Grundlagenwerke der interdisziplinären Schamforschung verstanden werden. Die klinischen Schamtheorien heben die Destruktivität und „Giftigkeit“ der Scham hervor, wie schon Scheler (1915) diesen Aspekt der Scham in seiner Abhandlung über „das Ressentiment im Aufbau der Moralen“ aufgreift.
Als Soziologe hat Sieghard Neckel Anfang der 1990er Jahren mit seinem Buch „Status und Scham“ (Neckel 1991) große Beachtung erfahren. Geschlecht, Klasse, Ethnie sind als soziale Ordnungs- und Herrschaftskategorien von ihm beschrieben und die Dynamik der Scham für die Herstellung eben dieser sozialen (Ungleichheits-)Ordnung dekonstruiert worden. Neckels Denkweise entspricht an vielen Stellen dem Denken Bourdieus, weshalb dessen Werk in diesem Artikel ebenfalls Berücksichtigung findet. Scham kann faktisch als das zentrale Medium symbolischer Gewalt verstanden werden. Schamtheorien haben eine wichtige Bedeutung für das Verstehen von Lebenskrisen sowie für das Verstehen von sozialen Konflikten, diese Felder der angewandten Schamforschung finden sich in Arbeiten die das Verhältnis von Krankheit, Alter und Scham betreffen (Gröning 2014) sowie Schamkonflikte in Interaktionen untersuchen. Als weiterer Zweig ist die Forschung zur Schamlosigkeit zu nennen (Hell 2021).
2.1 Sozialdynamik der Scham bei Georg Simmel
Georg Simmel betonte schon 1901 den umfassenden und öffentlichen Charakter der Scham und ihren besonderen Körperbezug, der sich aus Nacktheit, Kreatürlichkeit und Sexualität ergäbe. Indem man sich schäme, fühle man das eigene Ich in der Aufmerksamkeit anderer negativ hervorgehoben, wobei die Beschämung zumeist eine negative Aufmerksamkeit intendiere (Simmel 1986, S. 141). Die Scham ist damit gleichsam ein Gegengewicht zum „niedrigen Teil des Ich“ und gilt deshalb als „Hüterin der Würde“.
Die soziale Dynamik der Beschämung beschreibt Simmel dahingehend, dass zunächst einmal jeder Mensch von einer Sphäre der Unnahbarkeit umgeben ist. Die Verletzung der Unnahbarkeit wird als ein Riss zwischen der Norm der Persönlichkeit und ihrer momentanen Verfassung empfunden. Die üblichen Beschämungen im Alltag sind beispielsweise:
- zur Rede gestellt werden,
- belehrt werden,
- angepöbelt werden.
In der Folge entsteht ein symbolischer Riss, der in der Regel mit Gesten der Unnahbarkeit abgewehrt wird. Simmel betont, dass die unbekleidete körperliche Erscheinung zur Sphäre der Distinktion gehört, denn diese dürfe nur unter ganz besonderen Umständen einem anderen zugänglich gemacht werden, wenn das Ich nicht von seiner Ganzheit und Unversehrtheit losgelöst werden solle. Das Schamgefühl wurzelt auch bei ihm in einem herabgesetzten Anteil des Selbstes, weshalb Simmel argumentiert, dass das Schamgefühl sich erst einstellt, wenn der ganze Mensch, nicht nur ein Teil seines Selbstes sich von der Beschämung betroffen fühle, wenn der herabgesetzte Ich-Anteil also als Repräsentant des ganzen Ich erscheine.
Besonders Schamrituale und die Rituale der Verachtung, der sozialen Ächtung und der Ausstoßung sind darauf angelegt, genau dieses Gefühl – Entehrung der ganzen Person – ritualisiert herzustellen. Die Herabsetzung, die zunächst nur einen Teil des Ich betrifft wird ritualisiert so ausgeweitet, bis das ganze Ich erfasst wird. Weinen, die Hände vor das Gesicht schlagen und ähnliche Gesten zeigen diesen Moment an, in dem die Person zusammenbricht.
Simmel argumentiert, dass deshalb auch ein angeborener Körperfehler, der dem ganzen Ich zugerechnet wird, stärker als Scham empfunden wird als eine Behinderung, die erworben ist, weil hier die Phantasie zwischen einem intakten und unversehrten Ich-Anteil und dem kranken Ich-Anteil besser aufrechterhalten werden kann, als bei einem angeborenen Handicap.
2.2 Die Schamkategorien von Max Scheler
Max Scheler nennt die Scham ein Seelenkleid (1957, S. 87) und sieht sie wie Simmel in engem Zusammenhang mit der Sexualität. Auch bei ihm wurzelt die Körperscham in der Sexualscham, allerdings argumentiert er anders als Simmel nicht mit der Distinktion des bekleideten unnahbaren Körpers, sondern damit, dass Geschlechts- und Entleerungsorgane eng beieinander liegen würden und organisch verbunden seien. Die schambetonten Organe des Leibes, „in denen die stärksten Wollustempfindungen“ stattfänden, seien zugleich dieselben, welche Defäkation und Urinentleerung begleiteten. Scham und Ekel liegen deshalb zusammen, weil die auszuscheidenden Körperinhalte (Sperma, Blut, Urin und Kot eine Einheit bildeten. Hierin wurzelt bei Scheler auch das Ekelgefühl (Scheler 1957, S. 84).
Naturhaftigkeit, Kreatürlichkeit und Fleischlichkeit verbunden mit den sexuellen und analen Lustempfindungen, lösen deshalb eine bei Scheler sogenannte Leibesscham aus, da sie einen Menschen immer wieder zum Objekt seiner eigenen Lüste und körperlichen Sensationen machen (können) – und ihm somit Scham und vielleicht sogar Ekel bescheren. Die Beherrschung und Intimisierung dieser Lüste und Regungen ist entsprechend Merkmal des Personseins.
2.3 Scham und Habitus bei Pierre Bourdieu
Direkt hat Pierre Bourdieu sich wenig mit dem Thema Scham befasst. Die Bedeutung seiner Soziologie für ein Verständnis von Scham ergibt sich aus der Habitustheorie. Mit dem Begriff des Habitus unterstreicht Bourdieu (1993a), dass der Körper als Ort der Inszenierung sozialer Stile und Stellungen ein Träger kultureller und sozialer Normen ist und der sozialen Unterscheidung dient.
Der Prozess der Sozialisation ist bei ihm ein Prozess der Inkorporation. Hier entsteht die Hexis, die verleiblichte, Körper gewordene Herrschaft oder Unterwerfung. Dieser Inkorporationsprozess, bei Bourdieu (1997b) allgemein als Konditionierung beschrieben, lässt sich ohne die Bedeutung der Scham als Trägerin der Inkorporationen (Gröning 2016) nicht verstehen.
Wenn der Satz Bourdieus – der Habitus sei ein System von Grenzen – auch in Bezug auf seine psychologische Bedeutung betrachtet wird, dann heißt das, das in dem Moment, wo wir eine Grenze der Distinktion verletzen, Schamgefühle entstehen. Das Übertreten sozialer und kultureller Grenzen löst starke Gefühle des Unwohlseins und des Befremdens aus. Diese Gefühle werden durch die soziale Scham hervorgerufen, etwas Ungehöriges, Unschickliches, Undenkbares zu tun.
Scham führt als Sozialgefühl dazu, dass der sozialisierte Mensch bis tief in seine körperlichen Empfindungen, seine Vorlieben, seinen Stil und seinen Geschmack Träger der jeweiligen sozialen Verhältnisse wird. Die Sozialisation und der Habitus sind deshalb keine bloßen kognitiven oder funktionalen Übermittlungen von Rollen und Sinnstrukturen einer Gesellschaft, sondern sie gehen „unter die Haut“, das heißt sie sind mit meist unbewussten, aber dennoch starken Emotionen und mit Moralität verbunden.
Auf die Bedeutung der Scham als für den Habitus bedeutend verweist Bourdieu u.a. in einem Essay zu den „Widersprüchen des Erbes“, (Bourdieu 1997). Am Anfang steht die existenzielle Bedeutung der Abstammungslinie, des Erbes, der Geburt als totalem Tatbestand. Dabei hat das Erbe als Institution eine eigene Würde, der entsprochen werden muss. Das Erbe zu übernehmen wird als Ehre verstanden, die Übernahme selbst ist stark ritualisiert und kann als „heilig“ gelten. Der Würde des Erbes muss der Erbe/die Erbin entsprechen und sich als der/die Richtige erweisen. Aus dem konkreten Ort der Abstammung (Geschwisterposition, Geschlechtszugehörigkeit, Gesundheit) entstehen Anrufungen des Erbes, deren Nichtbefolgen eine Verletzung der Familienloyalität bedeuten. Bourdieu hat dieses Verständnis des Habitus ebenso in einem Essay „der Tote packt den Lebenden“ (1993b) dargelegt.
2.4 Individualisierung und Scham bei Sieghard Neckel
Die moderne Schamsoziologie, wie sie Sieghard Neckel (1991) entwickelt hat, bezieht sich auf das Verhältnis von Scham und sozialer Distinktion im Kontext moderner, individualisierter Gesellschaften. Ausgangspunkt ist seine These, dass in diesen Gesellschaften Scham zunähme, obwohl z.B. sexuelle Tabus rückläufig seien.
Im Mittelpunkt der sozialen Scham, so Neckel, steht der Achtungsverlust. Einer Person kann die Achtung anderer völlig verwehrt werden (Neckel 2006, S. 45). Ob und wie viel Achtung jemand erwarten kann, hängt soziologisch von der Wertschätzung und diese wiederum vom Besitz verschiedener Kapitalien ab. In Bezug auf die soziologische Dimension der Scham nennt Neckel, orientiert an Pierre Bourdieus (1993a, 1993b, 1997) Theorie über die Kapitalformen:
- ökonomisches Kapital,
- kulturelles Kapital und
- soziales Kapital.
Zu den jeweiligen Kapitalformen gehören vier Dimensionen der sozialen Achtung und des Achtungsverlustes. Das jeweilige Kapital, also das, worüber man verfügt, lässt sich differenzieren in Geld, Wissen, Rang und schließlich Zugehörigkeit (Neckel 2006, S. 45 f.).
- Geld entspricht dem ökonomischen Kapital.
- Wissen dem kulturellen Kapital.
- Rang oder Mitgliedschaft entsprechen dem sozialen Kapital.
Verliert eine Person oder eine Gruppe an Wertschätzung, so spricht Neckel von Abwertung, wenn es sich um einen Entzug materieller Werte handelt, von Degradierung, wenn sie ihren Rang verliert, von Abschiebung oder Ausschluss, wenn die Person ihre Zugehörigkeit verliert und von Prüfungen, Disputation bzw. Assessments, um das Wissen und die Kompetenzen einer Person zu bestreiten.
- Abwertung bringt in der Konsequenz Armut hervor, so Neckel (2006, S. 47) und stigmatisiert den Abgewerteten gleichzeitig, da dem Geld, welches jemand verdient oder bezieht, eine moralische Komponente innewohne. Geld ist demnach nicht gleich Geld. Geld, welches aus den Zinsen entsteht wird moralisch anders bewertet als Geld, welches aus Transferleistungen kommt. Geld aus illegalen Aktionen ist per se unmoralisch. Verdienter Lohn und verdientes Gehalt gelten als moralisch wertvolles Geld, da die Bezieher sich als fleißig, ehrbar, tüchtig und leistungsbezogen ausweisen. Wer über Kapitalvermögen verfügt, wird besonders wertgeschätzt, da er als klug gilt, um sein Vermögen anzulegen, Bedürfnisse aufzuschieben, zu sparen und mit seinem Geld zu arbeiten. Dies wird als ein vernünftiger und rationaler Umgang mit Geld verstanden und deshalb am höchsten geschätzt. All das honoriert die Gesellschaft. Umgekehrt bedeutet der Verlust von Geld Abwertung. Diese Abwertung erfolgt auch, wenn jemand sein Einkommen nicht mehr steigern kann, die Ausgaben sich aber erhöhen, was besonders bei alten Menschen der Fall ist.
- Auch Prüfungen richten sich gegen das Selbstbewusstsein einer Person, obwohl Prüfungen sich als neutral, sachlich, technisch geben. Nach Bourdieu ist es gerade diese Neutralität, die den Kandidaten in eine Schamsituation bringt, denn durchgefallen zu sein ist etwas Objektives und Sachliches.
- Die Technik der Degradierung nimmt einer Person den Rang, den sie in einer Ordnung innehatte. Sie wird nachrangig, was starke soziale Scham auslösen kann.
- Besonders beschämend und geradezu existenziell ist die Scham, wenn es um Ausschluss oder Abschiebung geht. Jemanden abzuschieben heißt, so Neckel, ihn nutz- und wertlos zu machen, sein Vertrauen zu unterminieren, ihm jene Rechte abzusprechen, die man eigentlich als menschlich empfindet, nämlich zu Hause zu sein.
3 Klinische Schamtheorien und der Beitrag von Leon Wurmser
In den 1990er Jahren hat Leon Wurmser durch seine Werke, die „Maske der Scham“ und die „Flucht vor dem Gewissen“ (Wurmser 1993a, 1993b) eine international beachtete klinische Schamtheorie entworfen und damit die psychoanalytische Theorie des Selbst entscheidend weiterentwickelt. Aussagen zum Verhältnis von Scham und Ich-Ideal/Über-Ich, zur Schamphänomenologie, zur Destruktivität der Scham und zu ihren Maskierungen und Abwehrformen wie übertriebener Stolz, künstliches Gehabe, hin zur Depression und Sucht haben einer ganzen Generation ein tieferes Verständnis für die narzisstischen Konflikte der Person ermöglicht.
Wurmser beschreibt beginnend mit der Analyse des Schamaffektes zahlreiche Phänomene:
- Angst vor Bloßstellung und vor dem Erniedrigt werden,
- Entstehung eines depressiven Gefühls, welches das Bewusstsein über die Bloßstellung begleitet (Wurmser 1993a),
- die Angst vor der Verachtung durch andere,
- die Wahrnehmung dieser Verachtung der anderen und
- das Übergehen in Selbstverachtung, wenn die schützenden Funktionen des Gewissens (Wurmser 1993b) zusammenbrechen.
Scham sei, so Wurmser (1993a) gleichzeitig die Hüterin der Würde, sie sei eine innere Grenze, an der „unser besseres Selbst beginnt“ (Wurmser 1993a, S. 74). In jeder Kultur gelten bestimmte Charakterzüge und soziale Tatsachen als unehrenhaft und als beschämend. Insbesondere gehört alles, was mit mangelnder Umweltkontrolle und mangelnder Körperkontrolle einhergeht, dazu. Scham ist so verbunden mit Schwäche und mangelnder Autonomie, was nach sich zieht, dass sowohl Probleme bei der Kontrolle des Körpers als auch Probleme bei der Kontrolle der Umwelt als beschämend empfunden würden.
3.1 Scham und frühkindliche Zurückweisung
Weiterhin spricht Leon Wurmser (1993a) davon, dass eine wichtige Wurzel des Schamgefühls in der Zurückweisung der frühkindlichen Bindungsbedürfnisse liegt (Wurmser 1993a, S. 15 f.). Jedes Individuum wolle im Sinne seiner Würde als ein Selbstzweck geachtet werden, was schon in der frühen Kindheit durch die Erfahrung von gegenseitiger Spiegelung (Winnicott) und praktischer Intersubjektivität (Honneth 1994) im Rahmen von guten Objektbeziehungen entwickelt wird. Das Kind wolle gesehen, verstanden und erkannt werden. Diese, im Entwicklungsabschnitt der frühen Affektsozialisation sich vollziehende Spiegelung des Kindes und die zustimmende Resonanz, die das Kind in Bezug auf seinen Körper und hier gerade seine Fleischlichkeit, Analität, seine Ausscheidungen (Gutewort 2024) erfährt, ermöglichen die Entwicklung von Selbstwirksamkeit. Auf diese Weise entsteht die „psychische Haut“ und im Sinne der antiken Oikos-Lehre des Zenon ein „Wohnen in sich selbst“, welches den Kern der Ich-Identität ausmacht (Wolfstetter 1984, S. 69 ff.).
Umgekehrt besteht die frühste Quelle des Schamgefühls in frühen Erlebnissen der eigenen Wirkungslosigkeit und der Erfahrung der Nicht-Anerkennung. Scham entsteht, so Wurmser, wo der frühkindliche Versuch scheitert, in den Bezugspersonen Gefühle der emotionalen Zustimmung hervorzurufen, welche sich in dieser Lebensphase vor allem auf die Zustimmung zum Körper des Kindes beziehen. Fehlt diese Erfahrung, so entsteht, wie Wurmser (1993a, S. 15) ausführt, zunächst Angst und Einsamkeit, jedoch auch eine frühe Form der Scham, durch die kränkende Erfahrung der eigenen Wirkungslosigkeit, die als Minderwertigkeit verstanden wird. Hier liegen nach Wurmser die Quellen eines negativen Selbst, die, verbunden mit dem Gefühl von innerer Leere, Einsamkeit und Heimatlosigkeit, eine frühe Gestalt bilden.
3.2 Scham und Gewissen
In seinem zweiten, für die Schamforschung wichtigen Buch spricht Leon Wurmser (1993b) die Struktur des Gewissens an. Er erklärt die Funktion des Gewissens dahingehend, dass ein Ideal (die hochstehende innere Instanz) das Ich (die niedriger stehende innere Instanz) ständig beobachtet und alles „mitweiß“, was die niedrigstehende Instanz tut (Wurmser 1993 b). Das Ich ist nun mit dem naturhaften Körper, den Triebbedürfnissen, der Unvollkommenheit und Verletzbarkeit eng verbunden. Dies würde vom Über-Ich beobachtet und mit dem Ich-Ideal abgeglichen und beurteilt. Wurmser nennt sechs Funktionen des Gewissens:
- die Beobachtung des Ichs,
- Beurteilung und Kritik
- die Bestrafung des Ichs
- die Verachtung des Ichs
- die Fürsorge für das Ich
- der Schutz des Ich (bzw. der niedrigstehenden Ich-Anteile). Je reifer das Gewissen im Verlauf der Biografie werden konnte, desto mehr überwiegend diese schützenden Funktionen, je unreifer es bleiben musste, desto stärker sind die Schamgefühle.
Die innere Dynamik der Beschämung beschreibt Wurmser als die Selbstverurteilung gefolgt vom depressiven Gefühl von Isolation und Selbstverachtung. Mangelnde fürsorgliche Funktionen, vor allem eines unreifen Über-Ichs, nehmen beschämende Botschaften der Umwelt auf und übersetzen sie in Selbstverurteilung. Dies, so Wurmser (1993b), sei die Dynamik der schweren Neurosen und einer eigenen Form der Depression, die aus der Scham resultiert.
Schließlich spricht Leon Wurmser in seiner Arbeit „Maske der Scham“ (Wurmser 1993a) in einem eigenen Kapitel über die Kastrationsscham als eine besondere Körperscham, die in dem Gefühl wurzelt, verstümmelt, hässlich und eklig zu sein, verstümmelte, hässliche, eklige Organe und Körperteile sowie Körperinhalte zu haben oder Ekliges und Hässliches zu tun. Die Kastrationsscham hat ihren Ursprung auch bei Wurmser im engen Nebeneinander der Geschlechts- und Ausscheidungsorgane, in der Verbindung von Genitalem und Analem.
4 Scham in der Ethnologie – Mary Douglas und Jaques Attali
Aus einer anderen Disziplin, aber sehr ähnlich wie Bourdieu, hat die Ethnologin Mary Douglas (1994) den Prozess der Sozialisation als Verleiblichung von gesellschaftlichen Strukturen beschrieben.
4.1 Der Körper als Abbild der Gesellschaft
Douglas nimmt zum einen die These von Marcel Mauss auf, dass der menschliche Körper als ein Abbild der Gesellschaft verfasst ist. Sie stellt die These auf, dass die Körperkontrolle ein Ausdruck der sozialen Kontrolle ist. Je stärker, dichter und deutlicher die Rollenstruktur einer Gesellschaft verfasst ist, desto bedeutender werden formale Verhaltensweisen (Benehmen) bewertet und desto strikter ist die Körperkontrolle.
Unter Rückgriff auf die Lehre von den drei Stilebenen – erhabener, mittlerer und bescheidener Stil – verschwänden körperliche Ausdrucksformen im Laufe des Zivilisationsprozesses aus dem sozialen Raum und nähmen ätherische Gestalt an. Umgekehrt entstehe überall dort, wo wir öffentlich unserer Naturhaftigkeit gewahr werden, Scham. Dieses Verschwinden des Natürlichen aus dem öffentlichen Raum macht den Kern der Reinheitsregel aus. Körperliche Vorgänge werden aus dem sozialen Umgang ausgeschlossen. Besonders unerwünscht sind:
- Ausscheidungen,
- Defäkation,
- das Urinieren,
- das Erbrechen,
- das Spucken.
Diese könnten allerdings bei Bedarf verwendet werden, um Protest auszudrücken und soziale Kontext zu sprengen. Es ist dieses sehr Eigentümliche des Protestes, zum Beispiel in der Pubertät oder im Geschlechterverhältnis, dass Jugendliche den Erwachsenen und Männer den Frauen ihre Körper aufdrängen. Dieses Phänomen ist auch in der sozialen Dienstleistungsarbeit ein durchgängiges Problem (Gröning 2014).
4.2 Sozialer und physischer Körper
Mary Douglas vertritt eine Lehre von den zwei Körpern: Auf der einen Seite wird der „Körper als soziales Gebilde“, auf der anderen „als physisches Gebilde“ (Douglas 1974, S. 99 f.) gesehen. Dabei steuert der erste, soziale oder Gesellschafts-Körper die physischen Wahrnehmung des biologischen Körpers.
Gleichzeitig schreibt sich eine bestimmte Gesellschaftsauffassung in den Körper ein, ein Prozess den auch Bourdieu (1997) als Inkorporation benannt hat. Was wird nun inkorporiert? Bei Heinrich Popitz (1992) ist der physische Körper gleichzeitig verletzungsoffen wie auch verletzungsmächtig. Ob jemand mehr verletzungsoffen oder mehr verletzungsmächtig ist, wird von der jeweiligen Kultur und der sozialen Position bestimmt. Bei Bourdieu spielen Klasse, Geschlecht und Ethnie in Bezug auf die Verteilung von Verletzungsmächtigkeit oder Verletzungsoffenheit eine wichtige Rolle. Die Bewertung des Körpers und des Verhaltens unterliegt den Regeln der sozialen Distinktion. Nach Douglas bilden sich im Verlaufe der Sozialisation zwei Repräsentationen des Körpers heraus: der Selbstkörper und der Gesellschaftskörper, ein Körper, der als Ausdruckmedium des Selbstes dem in der Sozialisation erworbenen Ordnungs- und Gesellschaftskörper gegenübergestellt sei.
In der Schamsoziologie von Simmel (1901/1968) z.B. repräsentieren diese beiden Körperbilder die Dualität von hoch und niedrig. Der „hohe“ Gesellschaftskörper als Träger des Status ist dem niedrigen Selbstkörper als Träger der emotionalen und seelischen Bedürftigkeit entgegengesetzt. Gleichzeitig ist der Gesellschaftskörper auch der entfremdete und konforme Körper, der sichtbar nicht dem Selbst, sondern der Gesellschaft zugewandt ist, durch verschiedene Pflege- Hygiene und ästhetische Maßnahmen, die an ihm sichtbar sind, nicht auf das Selbst, sondern auf die Gesellschaft verweist.
4.3 Körper, Scham und Institution – Jaques Attali
Eine klassische Theorie zum Verhältnis von Körper, Scham und Institution ist jene, die besagt, dass in der Vergangenheit die Körper, die als Träger einer Krankheit galten, von den Institutionen besonders bewahrt wurden. In seiner Geschichte des Verhältnisses von Krankheit, Körper als Träger dieser Krankheit und Institution stellt Jaques Attali (1980) die These auf, dass kollektive Ängste vor ansteckenden Krankheiten durch polizeiliche Maßnahmen kontrolliert wurden.
Seit dem Mittelalter, so Attali, sei weniger die Kirche, sondern vielmehr die politische Macht zuständig für die Bewältigung der großen Krankheiten geworden. Die Eliten hätten auf sich verbreitende Krankheiten und Epidemien nicht mehr mit dem Gebet und dem Flehen um Gnade, sondern mit einer Polizei geantwortet, deren Aufgabe es gewesen sei, die Kranken von den Gesunden zu trennen, um die Gesellschaft zu schützen. „Der Körper, oder eher bestimmte Körper, geraten in den Verdacht, Träger des Übels zu sein, das eingedämmt werden musste“ (Attali 1980, S. 75 f.). Nach Attali begann nach der großen Pest in Europa eine Epoche, in der die Krankheit nicht mehr als Schicksal verstanden, sondern in den Körpern bestimmter Menschen vermutet wurde:
- der Fremden,
- der Armen und
- der Heimatlosen.
Diese Träger der Krankheit wurden zur Verkörperung des Bösen, wobei der böse Körper gleichzeitig auch der hässliche, der entstellte Körper war. Je hässlicher und entstellter ein Körper war, desto mehr schien sich das Böse hier eingenistet zu haben. Die Angst galt denn auch weniger der Krankheit, sondern der Phantasie von dem Bösen, das sich in der Krankheit und in den Körpern der Kranken verbirgt.
Der Henker, so Attali, sei der Nachfolger des Priesters geworden. Für die Kranken würde nicht mehr gebetet, sondern die Krankheit würde in den Kranken bekämpft. Im Mittelalter sei nicht mehr behandelt worden, sondern denunziert, verurteilt, abgesondert. Bedrohliche elende Körper wurden abgesondert und vergessen.
Die Funktion der Hospitäler wandelte sich damit. Sie dienten weder der Bekehrung, noch der Heilung, sondern der Internierung. Attalis zugespitzter Entwurf ist nicht nur eine Geschichte des Hospitals, sondern eine Institutions- und Kulturgeschichte in Bezug auf das Verhältnis von Krankheit und Gesellschaft und Körper und Gesellschaft. Krankheit wurde etwas, wofür man sich schämen musste. Institutionen gründen sich, um die Gesellschaft vor den Trägern der Krankheit zu schützen, denn diese werden zu Angstquellen.
Das Versprechen der Institution ist es, das Böse zu eliminieren oder zumindest zu kontrollieren. Es entsteht ein tiefes unbewusstes Urvertrauen in die Institution und deren Repräsentanten.
4.4 Verunreinigung, Selbstentweihung und Scham – Erving Goffman
Für das Verstehen von Scham und Institution stellt die interpretative Soziologie von Erving Goffman einen wichtigen Zugang dar, der sich mit Phänomenen der Schamlosigkeit und der Beschämung durch Aktionen in den sogenannten totalen Institutionen befasst hat. Der Körper wird in diesen gezielt zur eigenen Verunreinigung, aber auch zur Verunreinigung des Umfeldes und anderer Menschen eingesetzt.
Goffman konnte in den von ihm untersuchten Institutionen Verhaltensweisen beobachten, die er „selbstentweihend“ genannt hat. Mit diesem Interpretieren von beschämenden Handlungen legt Goffman eine ähnliche Verstehensfolie an, wie Douglas, die den Körper als restringiertes Ausdrucksmedium und Mittel zum Protest nennt.
Goffman untersucht Prozesse der Verrohung durch Verunreinigung als Mittel sozialer Disziplinierung in totalen Institutionen. Er spricht von dem Phänomen, dass jemand durch sich selbst entweihende Handlungen die Würde zuerst seiner eigenen Person verletze. Diese von Goffman so benannten Selbstentweihungen kommen dort vor, wo Menschen bewahrt und ihre Körper institutionell beobachtet, kontrolliert, erzogen und geformt werden. Für den Prozess der institutionellen Beobachtung, Kontrolle, Erziehung und Formung des Körpers seien Schamrituale der Nacktheit und die anale Kontrolle besonders wichtig. Sie stünden im Gegensatz zu dem, was Goffman als die Heiligkeit einer Person beschreibt und von der Intimsphäre geschützt wird, die in totalen Institutionen fehlt.
Wie auch Simmel, geht Goffman von einer gewissen Unnahbarkeit des Körpers aus, was aber in symbolischen Handlungen entfaltet werden müsse. Zuvorkommenheit und Ehrerbietung sind für das Erleben von Würde unabdingbar. Weiterhin müsse zur Aufrichtung der Würde in einer Person, um sich als solche anerkennen zu können, eine Identitätsausrüstung zur Verfügung stehen, damit jemand entscheiden kann, wie er/sie anderen gegenüber treten will. Goffman zählt zu den symbolischen Handlungen besonders Ehrerbietung und Benehmen und zur Identitätsausrüstung Gegenstände, die die Ästhetik des Körpers betonen. Das Gefühl von Souveränität entsteht durch die Entfaltung von Gesten der Zuvorkommenheit und Zeichen der Vermeidung in der Interaktion. Man vermeidet es, in die Intimsphäre eines anderen einzudringen. Geschieht dies jedoch doch unbeabsichtigt, bittet man um Entschuldigung. Umgekehrt zeigen Rituale der Zuvorkommenheit, dass ich mein Gegenüber wertschätze und als Träger von Rechten begreife.
All dies fehlt in den totalen Institutionen, wodurch das Kreatürliche, sei es durch Gerüche, Geräusche, Körperfunktionen hervortritt und den Träger beschämt. Goffman nennt dies Verunreinigung. Diese Verunreinigung wiederum hat zu Folge, dass die Bewohner totale Institutionen entweder abstumpfen und auf die Würde beachtende Interaktionsrituale verzichten oder dass sie absichtlich sich selbst und ihr Umfeld entehren, indem sie ihren Körper oder ihre Körperinhalte zum Protest nutzen.
5 Entwicklungspsychologische Perspektiven
5.1 Scham in der Kindheit
Verschiedene entwicklungspsychologische Theorien haben den engen Zusammenhang von mangelnder Körperbeherrschung mit Scham thematisiert.
5.1.1 Theorie der psychosexuellen Entwicklung
Die bekannteste dieser Entwicklungspsychologien ist die Theorie der psychosexuellen Entwicklung. Nach dieser Theorie ist die Körperbeherrschung das bestimmende Thema in der analen Phase (Heimann 1959). Hier lernt das Kind
- die Ausscheidung zu kontrollieren,
- sich den kulturellen Anforderungen nach Sauberkeit zu unterwerfen und
- bestimmte tabuisierte Formen der Lust zu verdrängen.
Zur analen Phase gehört auch die Verdrängung des Wissens um die Macht dieser Lust, denn die Erwachsenen reagieren mit Ekel und Befremden auf Körperausscheidungen und Körperinhalte und auf anale Lust – eine Haltung, die dem Kind in der analen Phase, das vor jedem Hundehaufen auf der Straße zumindest neugierig und interessiert stehenbleibt, zuerst fremd ist.
Bereits Freud (im „Kleinen Hans“), aber vor allem Paula Heimann, haben betont, dass die Bedeutung der analen Phase darin liegt, die gesellschaftlichen Codierungen von Körperinhalten und Körperausscheidungen, die Reinheitsregel und die Codierung der Körpergrenzen zu übernehmen und sich für diesen Teil des Selbstes zu schämen.
Dies ist insbesondere Heimanns These. Bei ihr ist die „anale Welt“ im Gegensatz zur „oralen Welt“ geschlossen und mit einem besonderen Narzissmus verbunden. Stolz auf die Körperausscheidungen und Scham darüber liegen hier sehr eng zusammen. Die Verwandlung des narzisstischen Affektes des Stolzes auf die eigens zuwege gebrachte Leistung in Scham über den schmutzigen und ekligen Körperinhalt (die Kotsäule) ist das Ergebnis einer rigiden Sauberkeitserziehung.
5.1.2 Theorie der Ich-Entwicklung
Auf der Eben der Ich-Entwicklung hat Erik Erikson die anale Phase unter das Thema „Autonomie versus Scham“ (Conzen 2005, S. 49) gestellt und neben der Sauberkeitserziehung und der Beachtung der Reinheitsregel die allgemeine, vor allem auch die motorische Beherrschung des Körpers in den Mittelpunkt gestellt.
Der Erikson-Experte Peter Conzen sagt zu dieser Phase, dass das Kind nun die zunehmende Beherrschung seines Körpers lerne und der Körper gleichzeitig Quelle der Autonomieerfahrung werde. Die Freude über die wachsenden Kompetenzen des Körpers stärken den Willen des Kindes und des unabhängigen Selbstes.
Andererseits müssen viele Kompetenzen eben noch gelernt werden und das Kind macht die Erfahrung der körperlichen Unterlegenheit, welche vor allem bei einem rigiden Erziehungsstil in Scham mündet (Conzen 2005).
Im Kontext der analen Phase ist zu beachten, was Michael Buchholz (1993) und Ulrich Sachse (1994) als psychosomatische Triangulation beschrieben haben: In der analen Phasen lernt das Kind, seiner Mutter/der Bezugsperson den eigenen Körper zur Pflege zu überlassen und erlaubt auch eine Beherrschung bis ins Körperinnere. Je nach Erziehungsstil ist die Präsenz der Mutter bzw. der Bezugsperson im Körperinneren durch hygienische und medizinische Maßnahmen und Kontrolle von Ernährung und Ausscheidung jedoch angsterzeugend, beschämend und bedrohlich und das Kind verteidigt die Grenzen seines Körpers. Es macht den Mund nicht auf, hält Stuhl und Urin zurück und trotzt.
5.2 Scham im Alter
Der psychodynamische Zusammenhang von Alter und Scham wurde 1955 zum ersten Mal vom Psychoanalytiker Martin Grotjahn (Grotjahn 1955/1978) erwähnt. Er beschreibt den Alterungsprozess als narzisstische Krise, die ausgelöst wird durch die Erfahrung der Schwäche und der zunächst rein körperlichen Unterlegenheit gegenüber Jüngeren.
Hartmut Radebold (1992) wiederum hat in seinen Arbeiten zur Psychologie des Alters und zur Psychodynamik alter Menschen das Phänomen der Verluste für den psychischen und psychosomatischen Alterungsprozess besonders hervorgehoben. Mit diesem qualitativen Fokus stellt seine Theorie einen qualitativen Rahmen für eine Theorie der Hochaltrigkeit dar.
Es seien insbesondere Verluste und Trennungen – und zwar sowohl auf der Ebene der Objekte, d.h. Bezugspersonen als auch auf der Ebene des Selbstes, die das Verhältnis des alten Menschen zu sich selbst und zu seiner Umwelt kennzeichneten. Aus Verlusten und Trennungen ergäben sich für das Ich notwendige Anpassungsleistungen bei gleichzeitig geminderten Chancen zur Bedürfnisbefriedigung. Altern ist deshalb belastend und potenziell traumatisierend, weil der alte Mensch immer wieder wichtige und wertvolle Objekte und Bezugspersonen unwiederbringlich verliert.
Auch Jean Amery (1976) hebt hervor, dass die Erfahrung des Alt-Seins bedeutet, sich selbst fremd zu werden. Der Blick in den Spiegel hat nicht mehr etwas Bestätigendes, Wiedererkennendes, sondern etwas Fremdes, Entblößendes. Die Selbstrepräsentanzen, d.h. das innere Bild, welches der Mensch von sich hat, bleiben im Unbewussten bestehen, das nicht altert. Die Schere zwischen dem inneren Bild von sich selbst und dem tatsächlichen (Eben-)bild geht aber immer mehr auseinander. Manchmal geht der Kontakt zum realen Selbstbild verloren. Der alte Mensch erkennt sich nicht mehr, nicht im Spiegel und nicht auf Fotos. Dieses Gefühl, sich selbst fremd zu sein, ein Gefühl depressiver Taubheit, wird von Leon Wurmser (1993a) der Scham zugeordnet.
Depression und Schamgefühl gehören für ihn im Alter zusammen. Leon Wurmser (1993a) spricht von der Schamdepression, von einer Trias der Schaminhalte, die das Gefühl der Selbstentfremdung auslösen. Die Scham über die eigene Schwäche, die als ein schwaches Selbst erlebt wird, die Scham über ekelige und schmutzige Körperinhalte, die nicht mehr unter Kontrolle sind, und die Scham über ein „impotentes Stummelglied“, d.h. entwertete Geschlechtsorgane.
6 Philosophische Perspektiven bei Martha Nussbaum
6.1 Scham und Fürsorge
Die Philosophin Martha Nussbaum hat in einer Kritik an John Rawls Theorie der Gerechtigkeit eine Argumentation entfaltet, die Hinweise für eine neue Beschreibung des Verhältnisses von Körper und Gesellschaft geben könnte.
Die zentralen westlichen Philosophien des Gesellschaftsvertrages, so Nussbaum (1999), klammerten Lebensphasen von unmittelbarer Bedürftigkeit aus und entwerfen die Gesellschaftsmitglieder als gleiche Menschen, die Verträge miteinander eingingen. Die Abspaltung der primären leiblichen Bedürfnisse aus dem Gesellschaftsvertrag habe Ursachen und Folgen.
Eine Ursache der Spaltung liege in der moralphilosophischen Tradition. Obwohl diese Philosophien, besonders die Philosophie Immanuel Kants, die Menschen als Zweck an sich sehen und nicht als Mittel zum Zweck für andere, sei die Würde, die sich aus dem Selbstzweck ergibt, gebunden an die moralische Urteilsfähigkeit und losgelöst von den kreatürlichen Seiten der Existenz.
Nussbaum kritisiert, dass Kant den Menschen als gespaltenes Wesen betrachtet, das quasi durch Zufall an eine kreatürlichen Körper gebunden sei. Sie spricht in Bezug auf die Folgen vor allem von den großen Gruppen von Menschen, die durch die Tatsache, dass sie keinen gesunden Körper haben, aus dem Gesellschaftsvertrag quasi herausfielen. Die Sorge für sie wird zur Last (Dörner 1994) umdefiniert. Dadurch wird nicht nur ein Gewaltverhältnis begründet. Wie Dörner sagt, entsteht auch eine Rechtfertigung zur Euthanasie, da das behinderte Leben nicht als lebenswert angesehen würde und der Leidende von seinem Leiden erlöst werden könne. Es entsteht eine Schamdynamik, die in tödliches Mitleid ausufern kann.
6.2 Bedeutung für eine körpersensible Altenhilfe
Wie in der Pflege (Gröning 2014) verbinden sich auch im Kontext der sozialen Dienstleistungsarbeit mit Menschen mit Behinderungen Dimensionen von Scham:
- die soziale Scham der Unterlegenheit, die sich bei den „ausgebeuteten Fürsorgespender:innen“ findet, welche sich nicht positiv auf den Wert ihrer Arbeit beziehen können, trifft auf
- die Scham der Menschen, die wissen, dass sie wegen eines kranken und nicht mehr funktionsfähigen Körpers, wenn auch nicht formal, so doch latent, aus dem Gesellschaftsvertrag herausfallen (und die z.B. immer noch rechtlich als eine Last definiert werden, wie dies z.B. im Begriff der Alterslastquote deutlich wird).
Nussbaum fordert, die Sorge für Menschen mit einem kranken, behinderten, alten (oder sehr jungen) Körper in die Liste der primären Güter aufzunehmen. Diese primären Güter sind jene, die alle Menschen brauchen um ein menschliches Leben zu führen und ihre Pläne verwirklichen zu können.
Nussbaum will diese primären Güter, zu denen alle Zugang haben sollen, um das Recht auf Fürsorge erweitern und im Sinne der Interdependenz und Vielfalt menschlicher Fähigkeiten modifizieren.
Die Förderung der Vielfalt menschlicher Fähigkeiten ist in Deutschland unter dem Namen capabiltiy-approach bekannt geworden. Ihre Forderung hätte geschlechterbezogene Auswirkungen, weil die Sorge für die abhängigen Körper eine Angelegenheit der Frauen ist, und sie hätte Anerkennungsdimensionen, weil die Herausdefinition des kreatürlichen Körpers aus dem Gesellschaftsvertrag eine Scham- und Missachtungsquelle ist.
7 Scham, Würde und Schamlosigkeit
Scham ist die Hüterin der Würde, argumentierte schon Leon Wurmser (1993a, S. 43) in seinem Werk „Maske der Scham“. Wurmser verwies, wie schon Simmel (1986), auf den psychodynamischen Zusammenhang von Scham und Selbstachtung. Dieser Zusammenhang wird, vor dem Hintergrund der in der Dynamik der Konsumgesellschaft liegenden Sexualisierung des Gesellschaftlichen durch den Konsum, schon 1970 von Baudrillard (Baudrillard 2015) und aktuell von Hell (2021) thematisiert. Allerdings argumentiert Hell aus klinischer, nicht aus soziologischer Sicht.
Er vertritt noch einmal deutlicher als Wurmser die Haltung, dass Scham und Selbstachtung sowie Selbstreflexion eine enge psychodynamische Einheit bildeten und dass nur der sich achtende und sich reflektierende und damit bewusste Mensch fähig sei zur Scham. Scham ist bei ihm eine Fähigkeit.
Hell verteidigt mit diesen Argumenten die Scham und bezieht einen Gegenhorizont zu Positionen, wie z.B. Neckel, die das Negative der Scham hervorheben. Schamverlust und Schamlosigkeit seien die Begleiter von psychischen Erkrankungen wie Demenz, einigen Formen der Psychosen oder Depressionen. Formen der sozialen Beschämung, die vor allem Sieghard Neckel thematisiert, qualifiziert Daniel Hell als Schande und unterscheidet diese vom persönlichem bzw. psychologischem Schamgefühl.
Hell stützt seine Argumentation unter zu Hilfenahme der Auseinandersetzung um die Scham zwischen Hans Peter Duerr (1994) und Norbert Elias (1976). Er stützt Duerrs Theorie zur historischen Entwicklung der Scham und zum Verhältnis von Scham und Kultur. Hans Peters Duerr hatte in einer großen Kritik an Norbert Elias Theorie zum Zivilisationsprozess dessen Argumente zurückgewiesen, dass dieser sich durch eine Grenzverlagerung ins Innere, durch die Zunahme von Selbstzwängen auszeichne. Norbert Elias habe Erkenntnisse aus der Ethnologie wie auch aus der Geschichte fehlerhaft kategorisiert. Nacktheit und ihr Verhältnis zur Scham würden bei ihm faktisch ethnozentristisch als Nachweis für die Schamlosigkeit nicht-europäischer, nicht-moderner Gesellschaften und Kulturen verstanden.
Hell kommt zu dem Schluss, dass es keine gradlinige Entwicklung von äußerer sozialer Schande zu innerer selbstreflexiver Scham gegeben habe. Epochen, in denen Scham ein Ausdruck menschlicher Würde gewesen sei, hätten sich mit Epochen abgewechselt, in welchen Scham als Schwäche kategorisiert war (Hell 2021, S. 45). Nach Hell gehört die Scham zum Stolz und Selbstschutz. Wo Scham fehlt, seien Selbsterkenntnis und Reflexion (der freie Blick auf das Selbst) nicht möglich. Scham kann deshalb als eine wesentliche salutogenetische Ressource begriffen werden.
8 Quellenangaben
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Hell, Daniel, 2021. Lob der Scham: Nur wer sich achtet, kann sich schämen. Gießen: Psychosozial Verlag, 2. aktualisierte Auflage. ISBN 978-3-8379-2810-5 [Rezension bei socialnet]
Honneth, Axel, 1994. Der Kampf um Anerkennung. Frankfurt am Main: Suhrkamp. ISBN 978-3-5182-8729-3
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Verfasst von
Prof. Dr. Katharina Gröning
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