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Schrader-Breymann, Henriette

Manfred Berger

veröffentlicht am 16.01.2025

Amtlicher Name: Johanne Juliane Henriette Schrader, Geburtsname Breymann

GND: 118795422

* 14.09.1827 in Mahlum

25.08.1899 in Schlachtensee

Henriette Schrader-Breymann
Abbildung 1: Henriette Schrader-Breymann (Ida-Seele-Archiv)

Henriette Schrader war eine bedeutende Pädagogin des 19. Jahrhunderts, die sich besonders für die Professionalisierung des Erziehungswesens sowie für die umfassende Bildung von Frauen einsetzte. Sie gründete das „Pestalozzi-Fröbel-Haus“ in Berlin, das national wie international als Vorbild für ähnliche Einrichtungen diente.

Überblick

  1. 1 Zusammenfassung
  2. 2 Lebenslauf
    1. 2.1 Kindheit und Jugendjahre
    2. 2.2 Lehr- und Wanderjahre
    3. 2.3 In Watzum, Wolfenbüttel und Berlin
    4. 2.4 Lebensende
  3. 3 Lebenswerk und Wirkungsstätten
    1. 3.1 Mädchenpensionat Watzum
    2. 3.2 Mädchenpensionat Neu-Watzum
    3. 3.3 Pestalozzi-Fröbel-Haus
  4. 4 Auswahl konzeptioneller Innovationen
    1. 4.1 „Geistige Mütterlichkeit“ als Berufsprofil
    2. 4.2 Die Kraft der Wohnstube
    3. 4.3 Freies Spiel
    4. 4.4 Der Monatsgegenstand
  5. 5 Würdigung
  6. 6 Quellenangaben
  7. 7 Informationen im Internet

1 Zusammenfassung

Die Idee des Kindergartens als wichtige Erziehungs- und Bildungseinrichtung sowie die Ausbildung junger Frauen zu Kindergärtnerinnen ist in Deutschland vor allem von Frauen durchgesetzt worden (Berger 1995). Dazu gehörte Henriette Schrader, Großnichte und Schülerin Friedrich Fröbels (1782–1852). Ab 1848 verbrachte sie einige Zeit in den pädagogischen Einrichtungen ihres „Oheims“ in Keilhau und Liebenstein. Dabei lernte sie seine Vorstellungen und Ansätze der Arbeit mit Kindern sowie die Kindergärtnerinnenausbildung intensiv kennen. Fortan war sie im „Dienste Fröbels“ (Müller 1928) tätig und wurde „nach seinem Tod eine der wichtigsten Protagonistinnen der ‚Kindergartenbewegung‘“ (Kuhlmann 2013, S. 63).

1872 übersiedelte sie nach Berlin. Dort übernahm sie den Vorsitz für den „Berliner Verein für Volkserziehung“ und begann mit dem Auf- und Ausbau einer sozialpädagogischen Modelleinrichtung, dem „Pestalozzi-Fröbel-Haus“. Die praktische Arbeit in den verschiedenen Abteilungen der Erziehungs- und Bildungsinstitution, wie Kindergarten, Hort, Elementarklasse, und die Ausbildung für diese Tätigkeiten waren von Anfang an untrennbar miteinander verknüpft. Dabei standen für Henriette Schrader die „Geistige Mütterlichkeit“, die Kraft der Wohnstube, das freie Spiel sowie der „Monatsgegenstand“ im Mittelpunkt ihres sozialpädagogischen Professionalisierungskonzepts.

2 Lebenslauf

2.1 Kindheit und Jugendjahre

Am 14. September 1827 erblickte Johanna Juliane Henriette im Pfarrhaus zu Mahlum (bei Braunschweig, seit 1924 Ortsteil der Stadt Bockenem) das Licht der Welt. Sie war das erste Kind des streng lutherischen Pastors Ferdinand Breymann (1797–1866) und dessen Frau Louise Breymann, geb. Hoffmann (1802–1876). Das Ehepaar bekam noch neun weitere Kinder.

Wie dem Mahlumer Kirchenbuch zu entnehmen ist, war Henriette eine „‚schwere Geburt‘“, die „‚durch die Hülfe des […] Doctors […] zur Welt befördert‘“ wurde (Berger 1999, S. 82). Das Aufwachsen in einer so großen Kinderschar wird nach Einschätzung der psychoanalytisch orientierten Kinderanalytikerin Nelly Wolffheim (1879–1965) nicht „ohne Einfluß auf ihre Entwicklung geblieben sein“ (Wolffheim 1960, S. 102). Henriette wurde als das Sorgenkind der Familie betrachtet. Sie war oft launisch, reizbar und häufig krank. Ihr Temperament wurde als stürmisch beschrieben und sie hatte eine „verhältnismäßig alles überwuchernde Phantasie“ (Lyschinska 1927a, S. 8).

Der erste Unterricht bei ihrem Vater und einem Lehrer vermag das fantasievolle und wissenshungrige Mädchen nicht zu fesseln. Auch der sich anschließende dreijährige Besuch der Mädchenschule in Wolfenbüttel war nicht gerade von Erfolg gesegnet. Henriette lernte dort „so gut wie nichts“ (Lyschinska 1927a, S. 27).

Henriette Breymann in jüngeren Jahren
Abbildung 2: Henriette Breymann in jüngeren Jahren (Ida-Seele-Archiv)

Wieder zuhause begann für die Heranwachsende eine Zeit der Langweile. Sie begann an den Grundsätzen des „weiblichen Daseins“ zu zweifeln und wehrte sich mit aller Entschiedenheit gegen die verbreitete Ansicht, dass die täglichen häuslichen Arbeiten der natürlichen Bestimmung des weiblichen Geschlechts entsprechen würden. Zudem ging sie „nicht mehr gerne bzw. noch weniger als vorher zur Kirche und lehnt die orthodoxe Verkündigung ab“ (Augustin 2012, S. 138).

Mit großer Sorge verfolgten die hilflosen Eltern die Entwicklung ihrer Tochter. Auch ein einjähriger Aufenthalt auf dem Landgut ihres geliebten Onkels Fritz in Reichenbach (Oberlausitz), wo sie ohne Rücksicht auf ihre körperliche Verfassung schwer arbeiten musste, brachte keine Besserung. Ins Elternhaus zurückgekehrt, verfiel sie „in den alten Schlendrian; schrieb nachts Romane und begann (ihre) Tage auf dem Sofa“ (Lyschinska 1927a, S. 40). Ein Wendepunkt in das Leben der „verzogenen Tochter“ (a.a.O., S. 36) trat ein, als sie 1848 zusammen mit ihrer jüngeren Schwester Marie (1835–1867) zu ihrem Großonkel Friedrich Fröbel kam.

2.2 Lehr- und Wanderjahre

Fröbel, der 1840 in (seit 1911 Bad) Blankenburg den ersten Kindergarten der Welt „stiftete“, leitete in Keilhau, unweit von Blankenburg, die „Allgemeine deutsche Erziehungsanstalt“. Die nahezu alle Züge der Landerziehungsheime tragende Erziehungs- und Bildungseinrichtung war seinerzeit geradezu revolutionär. Der Umgang zwischen Lehrkräften und Zöglingen war partnerschaftlich. Man redete sich mit „Du“ an, trug einfache und einheitliche Kleidung, die lange Haartracht beim männlichen Geschlecht war üblich. Henriette Breymann bekam „den 48er ‚Wind‘ zu spüren“ (Dinghaus 1993, S. 182 f.). Sie war beeindruckt von den Ansichten, „die über die Frauen vertreten wurden. Die Frau wurde als ‚Mensch‘ gesehen. Frauen wurde hier eine weitergehende Bildung zugestanden, als die übliche, unzulängliche Mädchenbildung des 19. Jahrhunderts“ (a.a.O., S. 183). Mit großem Eifer vertiefte sie sich in „des Oheims Lehren“ (Lyschinska 1927a, S. 64). Sie lernt

„verstehen, wie die Welt von einem großen göttlichen Gesetz durchwaltet ist, das im Kreisen der Gestirne, im Wachsen und Blühen der Pflanzen, im Werden der Kristallwelt, aber auch im Inneren des Menschen wirksam ist; sie erkennt, wie alle Erziehung darin bestehen muß, diesem innersten Wesen des Menschen, diesem Göttlichen in ihm zur rechten Entwicklung und Ausbildung zu verhelfen, und wie gerade die Frauen dazu berufen sind, mit mütterlichen Sinn den werdenden Menschen zu pflegen und zu erziehen. Schon in frühester Jugend hat diese Pflege des Göttlichen im Kinde zu beginnen“ (Lück o.J., S. 159).

Henriette wurde plötzlich klar, was sie fortan wollte: ihr „Leben der Pflege der Kinderseelen widmen“ (Lyschinska 1927a, S. 64).

In Keilhau hielt sich auch Marius Bendsen auf, „ein Deutsch sprechender Däne, […] ein blonder Hüne von Gestalt, mit schönen Gesichtszügen“ (a.a.O., S. 52). „Dieser junge Däne ist jetzt mein Lehrer“, schrieb Henriette an ihre Schwester Anna (1832–1903), „er führt mich auf Höhen und Tiefen, die ich wohl geahnt, aber nie so klar geschaut habe“ (a.a.O., S. 67).

Während der Wintermonate 1848/49 weilte sie als Schülerin von Fröbel in Dresden, der dort Ausbildungskurse für Kindergärtnerinnen abhielt. Freudig schrieb sie ihren Eltern, dass der Oheim sie „zu seiner Jüngerin auserkoren“ habe und sie ihm folge, „wohin es sei“ (a.a.O., S. 93). So begleitete die frischgebackene Kindergärtnerin Fröbel nach (seit 1907 Bad) Liebenstein. Dort begann der Pädagoge 1849 mit der Ausbildung von Kindergärtnerinnen, bevor man im Frühjahr 1850 in das nahegelegene Schlösschen Marienthal übersiedelte.

Doch bald tauchten Unstimmigkeiten auf, zuletzt gesteigert durch des Großonkels innere Unruhe, jedem Angebot zu folgen und immer neue Aufgaben zu stellen. Henriette verließ Liebenstein, machte sich von jedem inneren und äußeren Einfluss Fröbels frei, „blieb aber der Idee umso treuer“ (Müller 1928, S. 100). Für kurze Zeit hielt sie sich bei Verwandten in Mühlhausen auf. Dort verlobte sie sich auf Druck der Eltern mit Marius Bendsen. Es folgten drei unglücklich verlaufende Jahre.

Aus Schweinfurt erhielt sie vom liberalen Frauenverein, der einen Kindergarten eröffnet hatte und diesem eine konfessionslose Schule angliedern wollte, das Angebot die Bildungsstätte zu leiten. Kaum hatte die Fröbelkindergärtnerin ihre Tätigkeit aufgenommen, setzte sich die orthodoxe Geistlichkeit und Lehrerschaft erfolgreich für die Auflösung der freireligiösen Einrichtung ein.

Anschließend arbeitete sie als Kindergärtnerin in dem von Jan-Daniel Georgens (1823–1886) in Baden (seit 1931 Baden-Baden) gegründeten Erziehungsanstalten. Der „Glanz der Georgenschen Ära dauert nur bis in den Sommer 1852. […] Die Anstalt stand vor dem Bankrott“ (Lyschinska 1927a, S. 160 f.). Eine weitere bittere Enttäuschung kam hinzu: Die 26-Jährige musste erkennen, dass „sie sich in Marius Bendsen getäuscht hatte“ (Lück o.J., S. 164). Die Verlobung wurde ihrerseits aufgelöst.

2.3 In Watzum, Wolfenbüttel und Berlin

Die „Schiffbrüchige“ kehrte wieder einmal zu ihrer Familie zurück, die zwischenzeitlich ihren Wohnsitz in das Pfarrhaus von Watzum (bei Wolfenbüttel) verlegt hatte. Nach einigen Monaten entstand nach ihrem Plan im Pfarrhaus von Watzum ein nach Fröbelschen Grundsätzen geführtes Mädchenpensionat. Da die Anstalt bald aus allen Nähten platzte, wurde sie nach Wolfenbüttel verlegt. Dort engagierte sich Henriette Breymann in dem im Januar 1866 gegründeten „Verein für Erziehung“ (VfE), zu dessen 1. Vorsitzenden sie gewählt wurde. Der Interessenverband unterstützte die „Förderung der Jugenderziehung mit besonderer Berücksichtigung der Fröbelschen Ideen“ (Lyschinska 1927a, S. 298).

Karl Schrader (1834–1913), seinerzeit Verwaltungsbeamter der „Herzoglich-braunschweigischen Landesbahnen“, zeichnete als Schriftführer verantwortlich. Todesfälle in der Familie, die Auslagerung von Ausbildungsangeboten des Breymannschen Instituts in die „Schlossanstalten“ von Wolfenbüttel, vor allem aber die unüberbrückbaren Querelen im VfE, insbesondere mit der Kassenführerin Anna Vorwerk (1839–1900), forderten ihren Tribut. Der Gesundheitszustand Henriette Breymanns verschlechterte sich spürbar: Herzbeschwerden, Ohmachten, Schwächeanfälle, und Gelenkrheumatismus machten sich breit.

„Ich bin hier eigentlich menschenscheu geworden“ (Lyschinska 1927a, S. 377), klagte sie Anfang Juni 1870 in einem Brief an Karl Schrader. Sie überlegte ihren Lebensmittelpunkt nach Frankfurt, Mannheim oder Heidelberg zu verlegen. 18 Monate später schrieb die 44-Jährige an den sieben Jahre jüngeren Vereinsprotokollanten: „Du weißt, ich liebe Dich über alles, […] über alles was ich mir denken kann“ (a.a.O., S. 494). Am 30. April 1872 heirateten die beiden in Wolfenbüttel. Bei der Eheschließung nahm die Braut den Namen ihres Mannes an. Unmittelbar nach der Trauung übersiedelten die Schraders nach Berlin. Die Verantwortung für das Mädchenpensionat übernahm Carl Breymann (1832–1909).

Der frischgebackenen Ehefrau fiel die Eingewöhnung in die prosperierende Reichsmetropole nicht leicht. Hinzu kam, dass das eheliche Leben „zuerst Enttäuschungen […] brachte, da Karl Schrader oft auf beruflichen Reisen war und Henriette das Alleinsein nur schlecht ertrug“ (Wolffheim 1957, S. 559). Bedingt durch das soziale Engagement des Ehepaares entstanden mit der Zeit Kontakte auf beruflicher wie persönlicher Ebene. Lernende und Suchende aus dem In- und Ausland, geistreiche und bedeutende Persönlichkeiten aus der Politik, Wirtschaft, Kunst und der Frauenbewegung gingen im Hause der Schraders ein und aus (Nitsch 1988, S. 64 ff.; Augustin 2012, S. 510 ff.).

Hervorgerufen durch ihr Engagement im Bereich der Volkserziehung kam Henriette Schrader mit der damaligen Kronprinzessin Victoria (1840–1901), Tochter der Queen Victoria (1819–1901) und Gattin Friedrichs III. (1831–1888), in Kontakt. Im Dezember 1877 besuchte sie erstmals die Hochadelige „und gleich traten sich die beiden Frauen persönlich nahe“ (Wolffheim 1957, S. 563). Mit Unterstützung der Prinzessin konnte sie ihr großes Lebenswerk verwirklichen, „ein Zentrum für sozial-pädagogische Arbeit und Berufe in Berlin-Schöneberg, das weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt werden sollte“ (Ebert 2006, S. 68 f.).

2.4 Lebensende

Henriette Schrader litt mit Beginn der 1890er-Jahre verstärkt an einer Nierenerkrankung. Dennoch engagierte sie sich unermüdlich für die von ihr ins Leben gerufenen sozialen Projekte und Organisationen. Ihre Arbeit unterbrach sie nur für Kur- und Erholungsaufenthalte oder als Reisebegleiterin ihres Mannes, der als Direktor der „Berlin-Anhaltische Eisenbahngesellschaft“ beruflich viel im In- und Ausland unterwegs war. Im Sommer 1898 war sie für Monate ans Bett gefesselt. Eine kurze Besserung des Krankheitszustandes erlaubte noch einen mehrwöchigen Kuraufenthalt in Schlachtensee bei Berlin. Dort starb die Pädagogin am 25. August 1899 abends um 22.30 Uhr im Kurhaus „Hubertus“, wo sie Linderung für ihr Leiden gesucht hatte. Vier Tage später wurde die Verstorbene im Breymannschen Erbbegräbnis auf dem Wolfenbütteler Friedhof „Vor dem Herzogtore“ beigesetzt. Helene Lange (1848–1930), die Grande Dame der gemäßigten bürgerlichen Frauenbewegung, schrieb zum Tod ihrer Freundin: „So ist denn wieder eine der groß angelegten, vornehmen Naturen dahingegangen, an denen die deutschen Frauen nicht eben reich sind!“ (Lange 1899, S. 690).

Grabstätte von Henriette Schrader, geb. Breymann
Abbildung 3: Grabstätte von Henriette Schrader, geb. Breymann (Manfred Berger)

3 Lebenswerk und Wirkungsstätten

3.1 Mädchenpensionat Watzum

Im Oktober 1854 begann mit neun Schülerinnen, von den Breymanns Pensionärinnen genannt, der erste Unterricht. Die Erziehungs- und Bildungseinrichtung im Pfarrhaus von Watzum ist als ein Vorläufer der späteren Frauenschulen und Landerziehungsheime für Mädchen zu sehen. Das Besondere war jedoch, dass hier Erziehung, Unterricht, häusliche Beschäftigung, Spiel, Unterhaltung, besondere Festlichkeiten etc. organisch miteinander verknüpft, bewusst in den Kreis der Familie verlegt und im engsten Anschluss an sie ausgeübt wurden. Das Ziel dieser „Heimschule war ja die Erziehung zum Familiengeiste, die Weckung und Pflege mütterlicher Kräfte in der Mädchenseele, mehr noch den Verantwortungsgefühlen gegenüber der Menschheit“ (Müller 1928, S. 104).

Die jungen Lehrkräfte, einschließlich der Pensionatsleiterin, wurden von den „Zöglingen [die] meist aus Familien [stammten], die in guten Verhältnissen lebten“ (Schumann 1925, S. 45), mit Vornamen und „Du“, die älteren Mitglieder der Breymannschen Familie mit „Tante“ oder „Onkel“ angesprochen. Eltern und Geschwister waren am Erziehungs- und Bildungsunternehmen intensiv beteiligt, jede:r fand seiner bzw. ihrer Individualität und Begabung entsprechend seinen bzw. ihren eigenen Lehr- und Aufgabenbereich.

Eine besondere Errungenschaft war sicher die Einführung des Turnunterrichts, der seinerzeit von den konservativen Parteien als eine gefährliche Befreiungsübung der Reformer:innen und Revolutionär:innen desavouiert wurde. Henriette Breymann zeichnete neben der Hauptverantwortung für das Familienunternehmen für die Unterrichtsfächer Deutsch, Erziehungslehre, Literatur und Geschichte verantwortlich. Die gezielt auf die weibliche Natur ausgerichtete Unterrichts- und Erziehungsarbeit des Breymannschen Instituts hatte „den Zweck im Auge, die Mädchen zu befähigen und zu vervollkommnen für ihren, von der Natur angewiesenen Beruf: Pflegerin des häuslichen, die leitende oder helfende Hand in der Sorge für der andern leibliches und gemütliches Wohl, Erzieherin der Kleinen in der eigenen Familie oder der ihnen sonst anvertrauten Kinder zu sein“ (Lyschinska 1927a, S. 167).

Turnunterricht für Mädchen, seinerzeit ein absolutes Novum
Abbildung 4: Turnunterricht für Mädchen, seinerzeit ein absolutes Novum (Ida-Seele-Archiv)

In kürzester Zeit erfreute sich die Erziehungs- und Bildungsinstitution eines regen Zuspruchs, entwickelte sich regelrecht zu einem Erfolgsmodell. Wie sehr das Breymannsche Institut mit seiner von Friedrich Fröbel beeinflussten Pädagogik weit über die Landesgrenze hinaus bekannt war, wird daran deutlich, dass die russisch-finnische Regierung zwei Russinnen und zwei Finninnen dorthin entsandte, um

„die fröbelsche Methode zu studiren und sich zu Lehrerinnen der Volksschule auszubilden […]. Die Damen sind seit Juni 1861 in Watzum und werden wenigstens ein Jahr dort bleiben; sie widmen sich mit dem größten Eifer und vielem Talente, ihrem Berufe, lernen, außer den bekannten fröbelschen Arbeiten, Pappen, Korbflechten, Blumenmachen u.s.w., um so das, was Fröbel in seinen Handbeschäftigungen giebt, zur schönsten Entwicklung zu führen“ (o.V. 1861, S. 91 f.).

Auf Drängen von Bertha von Marenholtz-Bülow (1810–1893), der Fröbelepigonin schlechthin (Berger 1995, S. 127 ff.), die Henriette in Liebenstein kennengelernt hatte, wurden dem aufblühenden Mädchenpensionat ab Oktober 1857 noch eine Ausbildungsklasse für die Kleinkinderziehung hinzugefügt. Damit sollte nach der Aufhebung des preußischen Kindergartenverbots von 1852, für das sich die Adelige erfolgreich einsetzte, den vermehrt gebrauchten Kindergärtnerinnen eine geeignete Ausbildungsstätte zur Verfügung stehen.

Um den angehenden Kindergärtnerinnen ein praktisches Übungsfeld anbieten zu können, wurde im nahegelegenen Schöppenstedt für Mittwoch und Sonnabend ein Kindergarten eingerichtet, für den Marie Breymann verantwortlich zeichnete. Wenige Jahre später konnten Henriette und ihre Schwester mit ihren Ersparnissen „in Watzum selbst aus einer Dorfscheune einen eigenen Kindergarten bauen lassen. Nun ist auch die Fröbelpädagogik in Watzum installiert“ (Moltmann-Wedel 2003, S. 80).

3.2 Mädchenpensionat Neu-Watzum

Da die Zahl der Pensionärinnen unaufhaltsam anstieg, bedurfte es einer Vergrößerung und somit auch einer Verlegung der Ausbildungsstätte. Mitte Oktober 1864 erfolgte der Umzug von Watzum in das nur wenige Kilometer entfernte Wolfenbüttel. „Neu-Watzum“ nannte man die Erziehungs- und Bildungseinrichtung vor den Toren der konservativen Residenzstadt des Herzogtums Braunschweig, „damit der Segen von Watzum auch über dieser neuen Wirkungsstätte walten möge“ (Lück o.J., S. 168).

Auch hier glich das ganze Zusammenleben von „Schülerinnen, Vorsteher und Vorsteherinnen einer erweiterten Familie“ (Lyschinska 1927a, S. 244). Die Anzahl der Pensionärinnen sollte nicht allzu groß werden, damit jede Individualität „volle Beachtung fände. Als der Kreis sich dennoch wider Erwarten vergrößerte, wurden die Schülerinnen in mehrere kleine Kreise unter jedesmaliger besonderer Leitung eingeteilt“ (ebd.). Das Breymannsche Institut gliederte sich, neben Kindergarten und einer Elementarklasse, in folgende Abteilungen:

  1. für Mädchen im Alter von 12 bis 14 Jahren,
  2. für Mädchen im Alter von 14 bis 17 Jahren und
  3. eine Fortbildungsklasse für „erwachsene Mädchen die sich im allgemeinen oder besonderen auf ihren Beruf als Erzieherinnen, Lehrerinnen resp. Kindergärtnerinnen vorbereiten wollten“ (a.a.O., S. 243).

Auch in „Neu-Watzum“ entsprachen die Erziehungs- und Bildungsziele der polaren Geschlechterordnung des Bürgertums. Demnach wurden die Pensionärinnen in erster Linie auf ihre späteren Aufgaben als Ehe- und Hausfrau sowie als Mutter vorbereitet. Neben den traditionellen Schulfächern wurden noch folgende unterrichtet: Lehre von Körper- und Geistesleben der Menschen, Gesundheitspflege, Geschichte der Pädagogik, als auch Allgemeine Pädagogik mit besonderer Berücksichtigung der Fröbelschen Prinzipien, die in Kindergarten, Elementar- und Erzieherinnenklassen Anwendung fanden. Auf besonderen Wunsch erhielten die Schülerinnen Privatstunden in Musik und Kompositionslehre, Singen, Zeichnen, Malen, Italienisch, Handarbeiten und Pappen. Außerdem standen noch häusliche Beschäftigungen, Gartenarbeit, Sparziergänge, Spiel- und Turnübungen sowie mehrtägige Wanderungen im nahegelegenen Harz auf dem Programm. Auch Lagern im Freien und Übernachtungen im Heu sowie Abende der Geselligkeit rundeten die ganzheitliche Erziehung ab (Berger 1999, S. 44 f.).

Das Breymannsche Institut existierte bis 1941.

3.3 Pestalozzi-Fröbel-Haus

In den ersten Berliner Jahren befasste sich Henriette Schrader intensiv mit der Pädagogik Johann Heinrich Pestalozzis (1746–1827). Dazu hielt sie in ihrem Tagebuch fest:

„Ich kenne keinen Geist der Welt, keinen Geist der Mit- und Vorwelt, der uns Frauen für unseren erzieherischen Beruf mehr geben könnte als Pestalozzi, wenn wir uns in seine Liebe, in seinen Glauben und sein Schauen hineinleben, denn zarter und tiefer hat nie eine Mutter ihr Kind geliebt als Pestalozzi die Kindheit. […] Ich begehe keine Ungerechtigkeit gegen Fröbel und andere pädagogische Geister, wenn ich das ausspreche, es liegt keine Unterschätzung der Wissenschaft und ihrer Erforschung des menschlichen Wesens darin. Fröbel steht hoch bei mir, er und die wissenschaftlichen Forschungen müssen, was Pestalozzi gab, ergänzen, unterstützen“ (Lyschinska 1922b, S. 369).

Im Dezember 1872 trat die Wahlberlinerin dem Komitee des 1866 von Bertha von Marenholtz-Bülow speziell für Kinder der Arbeiterschicht ins Leben gerufenen „Volkskindergarten der südwestlichen Friedrichstadt“ (Berlin-Tiergarten), der kurz vor dem finanziellen Ruin stand, bei. Zur Absicherung der vorschulischen Einrichtung gründete das Ehepaar Schrader am 16. Mai 1874 den „Berliner Verein für Volkserziehung“. Statuten wurden festgelegt und Frau Schrader zur „Vorstandsdame“ gewählt. Damit war der Grundstein gelegt für ein umfangreiches Ausbildungs-, Fürsorge-, Erziehungs- und Bildungsangebot, das peu à peu zu einem „Volkserziehungshaus“ ausgebaut wurde (Nitsch 1999, S. 57 ff.) und sich ab 1883 „Pestalozzi-Fröbel-Haus“ (PFH) nannte. Wohl überlegt wählte Henriette Schrader als Namensgeber Fröbel und Pestalozzi, da, wie sie schrieb, deren pädagogische Ansätze „innigst verschmolzen werden […] müssen“ (Voß 1937, S. 122).

Dem Volkskindergarten wurde Oktober 1878 eine Arbeitsschule für Schulkinder angegliedert, „in der gestrickt, genäht und Laubsägearbeiten gelehrt und in häuslichen Beschäftigungen unterwiesen wurde. Sie war ein Anfang des damals in Norddeutschland noch kaum bekannten Hortwesens und des Handfertigkeitsunterrichts“ (Droescher 1923, S. 49). Ebenfalls 1878 wurde ein Kindergärtnerinnenseminar ins Leben gerufen und im selben Jahr erfolgten die ersten Prüfungen. Im Jahr 1894 umfasste der Lehrplan folgende Fächer: „1. Kindergartenlehre. 2. Pestalozzis und Fröbels Leben. 3. Fröbelsche Beschäftigungen. 4. Gesundheitslehre. 5. Naturkunde. 6. Zeichnen. 7. Handarbeit. 8. Gesang. 9. Turnen, Ball und Bewegungsspiele. 10. Kinderbaden. 11. Gartenarbeit im Sommer. 12. Häusliche Beschäftigungen, Kochen von Kinderspeisen, Plätten. 13. Ausbildung in der Praxis des Kindergartens“ (Voß 1937, S. 146).

Die im PFH Ausgebildeten fanden schnell eine Anstellung als Kindergartenleiterin oder eröffneten „eine eigene Einrichtung, zum Teil sogar im Ausland“ (Augustin 2012, S. 566). Erstmals wurde die Ausbildung zur Kindergärtnerin durch eine sogenannte „Fortbildungsklasse“ ergänzt. Aus dieser ging später die Ausbildung zur „Jugendleiterin“ hervor (Berger 2023, S. 42 ff.). Zudem bot man mit der Fortbildungsklasse „Frauen und Erwachsenen, gut vorgebildeten Töchtern […] die Möglichkeit an, sich in die grundlegende Erziehung zu vertiefen, ohne an den Kursus für Fachkindergärten gebunden zu sein. Sie entsprach damit einem Bedürfnis nach statushomogenen universitätsähnlichen Ausbildungsgängen im sozialen Bereich“ (Nitsch 1988, S. 173).

1879 folgte die Gründung einer Elementarklasse, der bald eine zweite Klasse hinzugefügt wurde. Im gleichen Jahr richtete Frau Schrader „Mütterabende“ ein. Hierbei handelte es sich um „Zusammenkünfte der natürlichen Erzieher, der ‚Erziehungsberechtigten‘ und der Erzieherinnen von Beruf, den Erziehungsbevollmächtigten“ (Droescher 1933, S. 20). Das Zusammentreffen war keine „Belehrungsveranstaltung“ (Ebert 2006, S. 70), es diente der Replizierung der „Erfahrungen an den Kindern und sollten dazu beitragen, in volkstümlicher Weise Fragen der Gesundheit und der Erziehung zu erörtern und damit Aufklärung in die Elternhäuser zu tragen“ (Droescher 1933, S. 20).

Mitte der 1880er-Jahre kam, dank der Zusammenarbeit mit Hedwig Heyl (1850–1934), einer ehemaligen Schülerin in Watzum, eine Koch- und Haushaltungsschule hinzu, „die eine neue Auffassung der Hauswirtschaft und eine sichere Tradition in wirtschaftlicher Beziehung gebracht hatte“ (Droescher 1923, S. 49).

Die zunehmende Ausdifferenzierung der Ausbildungs-, Fürsorge- und Erziehungspalette erforderte schließlich einen Neubau. Es wurden zwei stattliche Gebäude „auf Schöneberger Gebiet, am Ende der Barbarossastraße, mit dem Blick hinaus ins Freie, weit über Wiesen und Felder hin“ (Triepel 1901, S. 1) errichtet. Der Komplex gliederte sich auf „in das Haus I mit Volkskindergarten, Ausbildungsstätte für Kindergärtnerinnen und Erzieherinnen, Mädchenheim sowie in das Haus II mit der Haushaltungs- und Kochschule. Zum Territorium gehörten neben einem großen Garten mit Beeten, ein Hühnerstall sowie ein ausgedehnter Wirtschaftsbereich“ (Augustin 2015, S. 262). Schließlich wurde 1898 vom „Berliner Krippen-Verein“ in angemieteten Räumen des gerade fertiggestellten PFHs I eine Krippe eingerichtet. Nach einigen Wochen versorgte der Verein bereits 25 Säuglinge und Kleinstkinder bis zu drei Jahren. Die Krippe hatte von 6 bis 21 Uhr geöffnet und kostete eine Mark pro Woche. Sie war vor allem eine „Heimstätte für arme, kleine Menschenkinder“ (Triepel 1901, S. 2).

Pestalozzi-Fröbel-Haus
Abbildung 5: Pestalozzi-Fröbel-Haus (Ida-Seele-Archiv)

4 Auswahl konzeptioneller Innovationen

4.1 „Geistige Mütterlichkeit“ als Berufsprofil

Henriette Schrader prolongierte die von Friedrich Fröbel und Johann Heinrich Pestalozzi postulierte „angeborene Mütterlichkeit“ zur „geistigen Mütterlichkeit“. In einem Aufsatz aus dem Jahre 1868 mit dem Titel „Zur Frauenfrage“ konstatierte die kinderlos gebliebene Pädagogin u.a.:

„Die Natur hat das Weib zur Mutter erschaffen, diesen Ausspruch setzten die Gegner der Emancipationsbestrebungen den Frauen entgegen, und sie haben Recht; aber hat man sich auch die ganze Bedeutung, die ganze Tragweite des Mutterberufes klar gemacht? Ist dieses Berufes geistige Bedeutung verstanden, ist innerhalb dieser Sphäre der Geist in seine Rechte eingesetzt, welcher die Jetztzeit fordern muß? Hat in Bezug auf den mütterlichen Beruf das Wort Menschheit schon eine Bedeutung für das Weib gewonnen? so, daß die geistige Mütterlichkeit mit ihrer pflegenden Kraft, ihrer wärmenden Liebe sich nicht allein an die eigene Kinderstube, nicht allein an die physische Mütterlichkeit bindet; sondern daß überall, wo Hülfsbedürftige sind an Leib und Seele, die Frau auch außerhalb des Hauses zum mütterlichen Wirken berufen ist, wenn keine eigenen Familienbande sie fesseln oder ihre Zeit genügend ausfüllen können. Und hat man verstanden, daß Instinkt und Liebe, so hoch bedeutungsvoll diese beiden Factoren auch sind zum wahrhaft mütterlichen Wirken, doch nicht mehr allein ausreichen in unserer Zeit, weder bei der Erziehung eigener Kinder, noch bei der Pflege Anderer?“ (Breymann 1868, S. 11 f.).

Das Schradersche mütterliche Berufsprofil, das später um „soziale Mütterlichkeit“ oder „organisierte Mütterlichkeit“ ergänzt und parallel dazu in der bürgerlichen Frauenbewegung Deutschlands zu einem weiblichen Emanzipationsideal ausformuliert wurde, ging über die biologische Mutterschaft hinaus und befreite Mütterlichkeit aus den engen Fesseln der privaten Familie (Augustin 2015, S. 262 f.).

Sie gab damit den Frauen, ob verheiratet oder nicht, ob mit oder ohne eigene Kinder, „die Möglichkeit, sich aus der privaten Sphäre des eigenen Heimes zu lösen und mit ihrer spezifisch mütterlichen Gestaltungskraft in der Öffentlichkeit zu wirken“ (Augustin 2012, S. 569). Oder anderes gewendet: „‚Geistige Mütterlichkeit‘ wird demnach sowohl als Qualifikation für den privaten Bereich in der Familie als auch im beruflichen Bereich der Kinderpflege verstanden und ist nicht in erster Linie auf die Selbstverwirklichung der Frau, sondern im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Nützlichkeit ausgerichtet“ (Pfeiffer 2013, S. 55).

Obwohl das weibliche Geschlecht von Natur aus über notwendige und wesentliche Instinkte verfügt, die es für den Beruf der Kindergärtnerin (und ähnlichen Berufen) bedarf, sollte die „Wartung und Beaufsichtigung der Kleinen“ nur von „wahrhaft gebildeten Frauen“ ausgeführt werden; Frauen welche mit den „Anfängen des Geisteslebens“ eines Kindes und „der Behandlung derselben“ vertraut sind, welche sich einem Studium des Menschen und „mit der Behandlung derselben“ befasst haben (a.a.O., S. 12).

Und weiter:

„Das ewig Bleibende in dem Berufe der Frau ist also ihre Bestimmung zur directen Erzieherin der Menschheitskinder. Das Neue, welches in unserer Zeit auf diesem Gebiete in die Erscheinung treten muß – ist die spezielle Vorbereitung zum Mutter- resp. Erzieherberufes und die Erweiterung der Kreise, in welchen die Frau erzieherisch zu wirken und überhaupt zu arbeiten hat“ (a.a.O., S. 13).

4.2 Die Kraft der Wohnstube

Pestalozzis Gedanken der „Wohnstubenkraft“ aufgreifend, kritisierte Henriette Schrader, dass in den Kindergärten die Anzahl der in einer Gruppe zu betreuenden Kinder, die seinerzeit bei 50 und mehr lag, zu hoch sei. Demnach sei Fröbels Idee zu einer „Massenerziehung in überfüllten Kindergärten verkommen“ (Wasmuth 2011, S. 189). Jedoch: „Je jünger die Kinder sind, desto mehr bedürfen sie einer individuellen Behandlung, einer möglichst warmen Familien-Atmosphäre“ (Schrader 1893, S. 82).

Der Grundgedanke der Pädagogin bestand darin, „Familie und Kindergarten so ähnlich wie möglich zu machen“ (Voß 1937, S. 130). Sie verurteilte die gegenwärtigen überwiegend schulmäßig ausgerichteten Kindergärten und betonte, dass die „Leitung der Kinder […] weniger eine schulmäßige, als eine wahrhaft mütterliche“ sein solle, denn der Kindergarten „entlehnt die Grundzüge seiner Einrichtung und Leitung nicht der Schule, sondern dem gesunden, sittlich religiösen Familienleben. Die Kinder finden demgemäß in der Anstalt, wie Pestalozzi sagt, alle Anreize und Kräfte durch den Gebrauch derselben zu entwickeln, aber nicht nur zum eigenen Nutzen, sondern auch im liebevollen Dienste für andere“ (Schrader 1890, S. 191).

Vorbild der erzieherischen Kraft der „Wohnstube“ folgend, entwickelte Henriette Schrader eine sozialpädagogische Kindergartenpraxis mit häuslicher Atmosphäre und entsprechenden Beschäftigungen. Sie plädierte für alters- und geschlechtsgemischte Gruppen mit jeweils etwa acht bis zwölf Kindern, für Wohnstuben mit Bildern, Pflanzen, Haushaltsgeräten und den Kindern angepasstem Mobiliar. Der Tagesablauf sollte sich an den Aufgaben und häuslichen Tätigkeiten einer Familie orientieren:

„Sie werden angehalten zum Reinhalten und Schonen, Ordnen, Erhalten und Verwenden verschiedener Dinge im Haushalte des Kindergartens, zum Beispiel verteilen und räumen sie das Spiel- und Arbeitsmaterial weg, helfen beim Reinigen der Zimmer, Möbel und Beschäftigungsmittel, stellen Ordnung und Sauberkeit her, indem sie zerrissene Tapeten und Bilder kleben, Umschläge um Bücher machen, beim Kochen und bei der Vorbereitung zu demselben, beim Tischdecken, Abwaschen des Geschirrs und anderen kleineren leichten Arbeiten helfen“ (Schrader 1890, S. 193).

Die Achtung auf Reinlichkeit erstreckte sich auch auf die Kinder selbst: So waren zum Beispiel Wäsche waschen, Schuhe putzen sowie die Notwendigkeit der körperlichen Hygiene eine in den Tagesablauf integrierte Selbstverständlichkeit.

Wäsche waschen und Schuhe putzen Wäsche waschen und Schuhe putzen
Abbildung 6 und 7: Wäsche waschen und Schuhe putzen (Ida-Seele-Archiv)

4.3 Freies Spiel

Neben den Verpflichtungen betonte Henriette Schrader die Bedeutung des freien und ungestörten Spiels für die Entwicklung des Kindes. Entschieden wehrte sie sich gegen die Vermengung von Arbeit und Spiel, das frei bleiben soll von jedem Zwang. Damit grenzte sie sich strikt von der seinerzeit vorherrschenden „orthodoxen Fröbelmethodik“ ab (Franke-Meyer und Reyer 2015, S. 247).

Schon 1848 forderte die junge Henriette eine Vereinfachung der Kindergartenpraxis, diese „von dem Mathematisch-Philosophischen und dem vielfach Symbolisierenden zu erlösen. Ich halte es geradezu für ein Unrecht an der kindlichen Natur“, bemängelte sie weiter, die Jungen und Mädchen „so früh zur Reflexion zu führen, wie z.B. zur Betrachtung und Unterscheidung geometrischer Formen am Würfel, am Faltblatt usw. Die Fröbelschen Gaben, wie sie dem Kinde geboten werden sollten, sind zu sehr mit dem Seziermesser philosophischer Ideen zerlegt“ (Lyschinska 1922a, S. 78).

Und weiter: „Ja, ich muß sagen, einiges erschien mir sogar lächerlich. Es kommt mir so eng, so begrenzt, so klein vor, daß so vieles Spielen nach Vorschrift den Menschen veredeln soll“ (a.a.O., S. 76). Anderen Orts klagte sie: „Die meisten Kindergärten spielen zu reflektierend und arbeiten zu spielerisch – das liegt […] auch darin, daß die Kindergärtnerinnen viel mehr Lehrerinnen als hausmütterlich sind“ (Lyschinska 1922b, S. 218).

Wenn ein Kind nach Vorschrift seiner Erzieherin tätig ist, „dann spielt es nicht, sondern es arbeitet. […] Kleinkinderarbeit, mit Maß und Verständniß ins Kinderleben eingeführt, ist von großer, pädagogischer Bedeutung, aber das freie Spiel, dessen das Kind, je jünger desto mehr bedarf, soll in keiner Weise zu früh und zu stark von der Arbeit beeinträchtigt werden“ (Schrader 1893, S. 13).

4.4 Der Monatsgegenstand

Neben der familienähnlichen Raum-, Gruppen- und Alltagsgestaltung implementierte Henriette Schrader für den Volkskindergarten des PFHs, sozusagen „als Kristallisation der didaktischen Vorgehensweise“ (Augustin 2012, S. 414), den „Monatsgegenstand“. Sie begründete dessen Einführung folgendermaßen:

„Unsere jetzige, so schnellebige Zeit führt die Menschen leicht zur Oberflächlichkeit und Zerstreutheit. Solchen Gefahren muß die Kunst der Erziehung das nöthige Gegengewicht bieten. Das Kind muß früh Gelegenheit finden zur Vertiefung und Konzentration der Anschauungen und Thatkraft, zur Erfassung des einheitlichen Zusammenhangs aller Dinge, zu der Lebenseinigung wie Fröbel sagt“ (Schrader 1893, S. 18 f.).

Der „Monatsgegenstand“ stellte, entsprechend dem Charakteristischen der jeweiligen Jahreszeit und des betreffenden Monats, bestimmte Dinge, Gegenstände oder Erscheinungen aus der Lebensumwelt der Kinder in den Mittelpunkt. Durch die Gruppierung der Erziehungs- und Bildungsinhalte in Form einer monatlichen Planung sollte gemeinsam mit den Jungen und Mädchen Erfahrungen, Verhaltensweisen, Fertigkeiten und Kenntnisse aus ihrem Leben bearbeitet werden.

Ein von der Kindergärtnerin gewähltes Thema, z.B. die Kuh, ihr Zuhause, ihre Lebensweise und ihr Nutzen für den Menschen, wurde in den Interessenkreis der Kinder gerückt. Die „theoretischen“ Informationen wurden durch praktische Tätigkeiten vertieft: z.B. Butter, Quark, Sahne und Käse aus Milch herstellen, während „die grösseren Kindergartenzöglinge mancherlei thonen, wie Butterfass, Milcheimer und Töpfe“ (Hamminck-Schepel 1893, S. 43). Bastelarbeiten oder Bauaufgaben aus der Reihe der Fröbelschen Beschäftigungen, z.B. einen Kuhstall oder Bauernhof bauen, die Hineinnahme poetischer Elemente wie Bilderbetrachtung, Lieder, Gedichte, Märchen, Erzählungen, Bewegungsspiele, themenbezogene Spaziergänge vertieften das pädagogische Anliegen.

Liste von Monatsgegenständen für 2 Jahre
Abbildung 8: Liste von Monatsgegenständen für 2 Jahre (Schrader 1893, S. 26 f.)

5 Würdigung

Die von Friedrich Fröbel noch selbst ausgebildete Kindergärtnerin gehörte zu den ersten Frauen, die eine Theorie zur Frauenbildung und Kindererziehung – in Anlehnung an ihre pädagogischen Vorbilder Pestalozzi und Fröbel – entwickelte „und den Kindergarten umfassend mit der Familienerziehung, der weiblichen Bildung und der Frauenfrage zu verbinden verstand“ (Metzinger 1993, S. 62). Damit weist sie sich zu ihrer Zeit „als innovative und moderne Pädagogin aus“ (Augustin 2015, S. 266). Die Einzigartigkeit ihres erzieherisch-bildenden Weges erkennend, schrieb Henriette Schrader an ihren Mann: „Ich habe einen neuen, grünen Zweig an Pestalozzis und Fröbels Lehre getrieben“ (Lyschinska 1927b, S. 160). Mit der Gründung des PFHs, seinen Einrichtungen sowie seiner konzeptionellen Innovation, setzte sie Maßstäbe, die seinerzeit einen Richtungswechsel innerhalb der verschulten Kindergartenpädagogik und Ausbildung junger Frauen und Mädchen für die Berufsarbeit als Kindergärtnerinnen auslösten. Die Ausbildungs-, Fürsorge-, Erziehungs- und Bildungseinrichtung avancierte auf nationaler wie internationaler Ebene zum Vorbild für moderne fortschrittliche Pädagogik. Beispielsweise bestanden Verbindungen nach Siebenbürgen (Schiel 2018, S. 162) und, wie weiter oben bereits erwähnt, nach Finnland sowie Russland.

Heute ist das PFH, das 2024 sein 150-jähriges Bestehen feierte, Träger einer Beruflichen Schule mit mehreren Bildungsgängen rund um den Erzieher:innenberuf sowie zahlreicher psychosozialer und sozialpädagogischer Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe.

6 Quellenangaben

Augustin, Brigitte, 2012. Henriette Schrader-Breymann. Biografische Rekonstruktion unter besonderer Berücksichtigung ihres Beitrages zur Professionalisierung der pädagogischen Berufsarbeit für Frauen im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Kiel: buchwerft. ISBN 978-3-86342-276-9

Augustin, Brigitte, 2015. Henriette Schrader-Breymann (1827–1899). Schulgründerin und Ideengeberin Anna Vorwerks. In: Gabriele Ball und Juliane Jacobi, Hrsg. Schule und Bildung in Frauenhand: Anna Vorwerk und ihre Vorläuferinnen. Wiesbaden: Harrassowitz. ISBN 978-3-447-10484-5

Berger, Manfred, 1995. Frauen in der Geschichte des Kindergartens: Ein Handbuch. Frankfurt am Main: Brandes und Apsel. ISBN 978-3-86099-255-5

Berger, Manfred, 2023. Die Jugendleiterin – Recherchen zu einem verschwundenen sozialpädagogischen Berufszweig. Teil 1: Von den Anfängen bis zur Nazi-Diktatur. In: gilde rundbrief. 77(1–2), S. 41–51. ISSN 2940-8822

Berger, Manfred,1999. Henriette Schrader-Breymann: Leben und Wirken einer Pionierin der Mädchenbildung und des Kindergartens. Frankfurt am Main: Brandes und Apsel. ISBN 978-3-86099-287-6

Breymann, Henriette, 1962 [1868]. Zur Frauenfrage. In: Erika Hoffmann, Hrsg. Henriette Schrader-Breymann. Kleine pädagogische Texte, Band 5. 2. Auflage. Weinheim: Julius Beltz, S. 8–18

Dinghaus, Angela, 1993. Mütterlichkeit als Beruf? Henriette Schrader-Breymann (1827–1899). In: Angela Dinghaus, Hrsg. Frauenwelten: Biographisch-historische Skizzen aus Niedersachsen. Hildesheim: Georg Olms. ISBN 978-3-487-09727-5

Droescher, Lili, 1923. Fünfzig Jahre. Geschichte des Pestalozzi-Fröbel-Hauses I Berlin. In: Kindergarten. 64(3), S. 48–53

Droescher, Lili, 1933. Henriette Schrader-Breymann und die Mütterbildung. Im Gedanken an das sechzigjährige Bestehen des Pestalozzi-Fröbel-Hauses in Berlin. In: Die Frau. 41(1), S. 18–23

Ebert, Sigrid, 2006. Erzieherin – ein Beruf im Spannungsfeld von Gesellschaft und Politik. Freiburg im Breisgau: Herder. ISBN 978-3-451-29196-8 [Rezension bei socialnet]

Franke-Meyer, Diana und Jürgen Reyer. 2015. Klassiker der Pädagogik der frühen Kindheit: Ideengeber und Vorläufer des Kindergartens. Weinheim: Beltz Juventa. ISBN 978-3-7799-3302-1 [Rezension bei socialnet]

Hamminck-Schepel, Annette, 1893. Ausführliche Bearbeitung der „Vier Monatsgegenstände“ im Pestalozzi-Fröbel-Hause. Berlin: Eigenverlag

Kuhlmann, Carola, 2013. Erziehung und Bildung: Einführung in die Geschichte und Aktualität pädagogischer Theorien. Wiesbaden: Springer VS. ISBN 978-3-531-19386-1 [Rezension bei socialnet]

Lange, Helene, 1899. Henriette Schrader †. In. Die Nation. 15(49), S. 689–690

Lück, Conradine, [ohne Jahr]. Frauen: Acht Lebensschicksale. Reutlingen: Ensslin & Laiblin

Lyschinska, Mary J., 1927a. Henriette Schrader-Breymann. Ihr Leben aus Briefen und Tagebüchern. Erster Band. Berlin: Walter de Gruyter & Co.

Lyschinska, Mary J., 1927b. Henriette Schrader-Breymann. Ihr Leben aus Briefen und Tagebüchern. Zweiter Band. Berlin: Walter de Gruyter & Co.

Metzinger, Adalbert, 1993. Zur Geschichte der Erzieherausbildung: Quellen – Konzeptionen- Impulse – Innovationen. Frankfurt am Main: Peter Lang. ISBN 978-3-631-45561-6

Moltmann-Wedel, Elisabeth, 2003. Macht der Mütterlichkeit: Die Geschichte der Henriette Schrader-Breymann. Pädagogin und Gründerin des Berliner Pestalozzi-Fröbel-Hauses. Berlin: Wichern. ISBN 978-3-88981-141-7

Müller, Maria, 1928. Frauen im Dienste Fröbels (Wilhelmine Hoffmeister, Bertha von Marenholtz-Bülow, Henriette Schrader-Breymann, Henriette Goldschmidt). Leipzig: Felix Meiner

Nitsch, Meinolf, 1988. Die praktische Umsetzung bürgerlicher Sozialreform im Berlin der Kaiserzeit am Beispiel von Karl und Henriette Schrader. Berlin: Eigenverlag

Nitsch, Meinolf, 1999. Private Wohltätigkeitsvereine im Kaiserreich. Berlin: de Gruyter. ISBN 978-3-11-016154-0

Ohne Verfasser, 1861. Zur Geschichte der Kindergärten. In: Die Erziehung der Gegenwart. 1(12), S. 91–92

Pfeiffer, Silke, 2013. Reformpädagogische Ansätze in der Elementarpädagogik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. ISBN 978-3-525-70152-2 [Rezension bei socialnet]

Schiel, Ingrid, 2018. Frei – Politisch – Sozial: Der Deutsch-sächsische Frauenbund für Siebenbürgen 1921–1939. Köln: Böhlau. ISBN 978-3-412-50954-5

Schrader, Henriette, 1893. Häusliche Beschäftigungen und Gartenarbeit als Erziehungsmittel im Pestalozzi. Fröbel-Hause zu Berlin W., Steinmetzstraße 16. Berlin: Rosenbaum & Hart

Schrader, Henriette, 1979 [1890]. Der Volkskindergarten im Pestalozzi-Fröbel-Hause Berlin. In: Margot Krecker, Hrsg. Quellen zur Geschichte der Vorschulerziehung. Berlin: Volk und Wissen, S. 190–197

Schumann, Eugenie. 1925. Erinnerungen. Stuttgart: J. Engelhorns Nachf.

Triepel, Gertrud. 1901. Das Pestalozzi-Fröbelhaus zu Berlin. Berlin: Eigenverlag

Voß, Jo. 1937. Geschichte der Berliner Fröbelbewegung. Weimar: Hermann Böhlaus Nachf.

Wasmuth, Helge, 2011. Kindertageseinrichtungen als Bildungseinrichtungen: Zur Bedeutung von Bildung und Erziehung in der Geschichte der öffentlichen Kleinkindererziehung in Deutschland bis 1945. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt. ISBN 978-3-7815-1809-4 [Rezension bei socialnet]

Wolffheim, Nelly, 1957. Henriette Schrader im Spiegel der Zeit. In: Die Sammlung 12(6), S. 558–566. ISSN 0179-3128

Wolffheim, Nelly, 1960. Nachwirkungen ihrer Kindheitseindrücke auf die Erziehungsmethode Henriette Schraders. In: Blätter des Pestalozzi-Fröbel-Verbandes 11(11), S. 101–105

7 Informationen im Internet

Verfasst von
Manfred Berger
Mitbegründer (1993) und Leiter des „Ida-Seele-Archivs zur Erforschung der Geschichte des Kindergartens“
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