Screeningverfahren zur Erfassung von Sprachentwicklungsverzögerungen
Prof. Dr. Tanja Jungmann
veröffentlicht am 02.05.2019
Die Zielstellung von Screeningverfahren zur Erfassung des Risikos von Sprachentwicklungsverzögerungen besteht darin, möglichst zeitökonomisch und frühzeitig die Kinder zu erkennen, die einer Förderung bedürfen, um die Ausbildung einer Sprachentwicklungsstörung oder einer Auffälligkeit bzw. einer Störung des Schriftspracherwerbs vorzubeugen (Prävention). Im Unterschied zu standardisierten Sprachtests sind Sprachscreenings zeitökonomischer in der Durchführung und Auswertung, zumeist einfacher handhabbar, aber auch weniger differenziert. Sie ermöglichen nur eine recht grobe Unterscheidung in „sprachlich auffällig“ bzw. „sprachlich unauffällig“. Bei gefundenen sprachlichen Auffälligkeiten ist das Screeningergebnis durch den Einsatz von Sprachtests zu objektivieren und zu differenzieren, worin genau die Auffälligkeit besteht (Kany und Schöler 2010).
Überblick
- 1 Verfahren
- 2 Anwendungsbereich
- 3 Diagnostische Merkmale von Screeningverfahren
- 4 Ausgewählte sprachspezifische Screeningverfahren
- 5 Quellenangaben
1 Verfahren
Der Begriff Screening leitet sich von dem anglo-amerikanischen „to screen“ (etwas durchrastern, durchsieben, durchleuchten) ab und wird u.a. in der Vorsorgemedizin häufig verwendet. Hier dient das Screening der Identifikation von Risikofaktoren oder dem Vorliegen von Krankheiten in einer definierten Bevölkerungsgruppe. In der entwicklungspsychologischen Diagnostik werden mit Screeningverfahren Kinder „herausgefiltert“ oder „ausgesiebt“, die ein erhöhtes Risiko für eine Entwicklungsstörung haben. Screenings werden auch als Siebverfahren oder Kurztests bezeichnet. Neben sprachspezifischen Screenings liegen auch Verfahren für die Früherkennung von Risikokindern im kognitiven, sozial-emotionalen, motorischen Entwicklungsbereich sowie hinsichtlich ihrer schulischen Kompetenzen vor.
2 Anwendungsbereich
Während standardisierte Sprachtests nur durch psychologische Fachkräfte angewendet werden dürfen, sind sprachspezifische Screenings (auch: Kurztests oder Siebverfahren) für alle Berufsgruppen konzipiert, die mit Kindern in entsprechenden Altersbereichen arbeiten. Häufig kommen diese Screeningverfahren auch im Rahmen von flächendeckenden Untersuchungen zum Einsatz (z.B. den ärztlichen Vorsorgeuntersuchungen U1 bis U9 oder bei der Einschulungsuntersuchung).
3 Diagnostische Merkmale von Screeningverfahren
Nach Marx und Lenhard (2010) sind vier wesentliche Kennwerte bei der Einschätzung der diagnostischen Güte von Screeningverfahren relevant:
- Sensitivität. Die Sensitivität gibt an, welcher prozentuale Anteil an Kindern mit späteren Entwicklungsstörungen durch das Screening identifiziert werden konnte. Wird dieser Wert von 100 Prozent subtrahiert, ergibt sich der Anteil an Kindern mit späteren Entwicklungsstörungen, die durch das Screening „übersehen“ wurden (sog. „falsch Negative“). Dieser Anteil von förderbedürftigen Kindern, die fälschlicherweise als nicht förderbedürftig eingeschätzt wurden, sollte bei einem guten Screening möglichst klein sein.
- Spezifität. Die Spezifität gibt an, welcher Anteil an später unauffälligen Kindern durch das Screening auch tatsächlich als unauffällig identifiziert wurde. Da dies auf die meisten Kinder zutrifft und daher eine hohe Spezifität zu erwarten ist, sollte dieser Wert mit Vorsicht interpretiert werden.
- Prädiktive Trefferquote. Der positive prädiktive Wert gibt an, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein durch das Screening identifiziertes „Risikokind“ später tatsächlich Probleme bekommt, der negative prädiktive Wert gibt an, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein „Nicht-Risikokind“ später tatsächlich von Problemen verschont bleibt.
- RATZ-Index. Mit dem RATZ-Index (Relativer Anstieg der Trefferquote gegenüber der Zufallstrefferquote) wird der Anstieg der Trefferquote gegenüber der Zufallstrefferquote nicht im Hinblick auf eine perfekte Klassifikation berechnet, sondern in Relation zur maximal möglichen Trefferquote. Die Werte variieren zwischen 0 (das Screening ist genauso gut wie der Zufall) bis 1. Werte ab 0,3 sind als leichte, Werte ab 0,6 als deutliche Verbesserung der Vorhersagegüte einzustufen. Negative Werte sind so zu interpretieren, dass eine völlig zufällige Aufteilung bessere Klassifikationsergebnisse erbringt als das Screening.
4 Ausgewählte sprachspezifische Screeningverfahren
Die nachfolgende Tabelle gibt einen Überblick der in Deutschland verfügbaren sprachspezifischen Screenings zur Früherkennung von Störungen der Sprachentwicklung und des Schriftspracherwerbs, die an großen Stichproben normiert und standardisiert wurden und für die Aussagen zu den Hauptgütekriterien getroffen werden können (für eine vertiefte Auseinandersetzung und einen breiteren Überblick s. Spreer 2018).
5 Quellenangaben
Brunner, Monika und Hermann Schöler, 2008. HASE. Heidelberger Auditives Screening in der Einschulungsuntersuchung. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Göttingen: Hogrefe
Brunner, Monika, Judith Troost, Barbara Pfeiffer, Christine Heinrich und Ute Pröschel, 2001. HVS. Heidelberger Vorschulscreening zur auditiv-kinästhetischen Wahrnehmung und Sprachverarbeitung. Wertingen: WESTRA
Grimm, Hannelore, Hildegard Doil, Maren Aktas und Sabine Frevert, 2019. ELFRA. Elternfragebögen für die Früherkennung von Risikokindern. 3., überarbeitete Auflage. Göttingen: Hogrefe
Grimm, Hannelore, 2017. SSV. Sprachscreening für das Vorschulalter. Kurzform des SETK 3–5. 2., überarbeitete und neu normierte Auflage. Göttingen: Hogrefe
Jansen, Heiner, Gerd Mannhaupt, Harald Marx und Helmut Skowronek, 2002. BISC. Bielefelder Screening zur Früherkennung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten. 2., überarbeitete Auflage. Göttingen: Hogrefe
Jungmann, Tanja und Timm Albers, 2013. Frühe sprachliche Bildung und Förderung. München: Ernst Reinhardt Verlag. ISBN 978-3-497-02399-8 [Rezension bei socialnet]
Kany, Werner und Hermann Schöler, 2010. Fokus: Sprachdiagnostik. Leitfaden zur Sprachstandsbestimmung im Kindergarten. Berlin: Cornelsen Scriptor. ISBN 978-3-589-24703-5
Mannhaupt, Gerd, 2005. MÜSC. Münsteraner Screening zur Früherkennung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten. Berlin: Cornelsen.
Marx, Peter und Wolfgang Lenhard, 2010. Diagnostische Merkmale von Screeningverfahren zur Früherkennung von möglichen Problemen beim Schriftspracherwerb.In: Marcus Hasselhorn und Wolfgang Schneider, Hrsg. Frühprognose schulischer Kompetenzen. Göttingen: Hogrefe, S. 68–84. ISBN 978-3-8017-2294-4
Suchodoletz, Waldemar von, 2018. Methoden zur Diagnostik und Therapie von Sprech- und Sprachentwicklungsstörungen [online]. Ergänzung zu Kapitel 3 des Leitfadens Kinder- und Jugendpsychotherapie, Band 18 „Sprech- und Sprachstörungen“ (2013), Göttingen: Hogrefe. [Zugriff am 28.04.2019]. Verfügbar unter: https://www.kjp.med.uni-muenchen.de/download/methoden_zur_diagnostik.pdf
Spreer, Markus, 2018. Diagnostik von Sprach- und Kommunikationsstörungen. München: Ernst Reinhardt Verlag. ISBN 978-3-8252-4946-5 [Rezension bei socialnet]
Wagner, Lilli, 2014. SCREENIKS. Screening der kindlichen Sprachentwicklung. München: Eugen Wagner Verlag. ISBN 978-3-9809871-2-7
Verfasst von
Prof. Dr. Tanja Jungmann
Universität Oldenburg, Professur für Sprache und Kommunikation und ihre sonderpädagogische Förderung unter besonderer Berücksichtigung inklusiver Bildungsprozesse
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