Selbstevaluation
Prof. Dr. Joachim König
veröffentlicht am 20.10.2020
Selbstevaluation meint die empirisch regelgeleitete Beschreibung und Bewertung der eigenen Praxis nach festgelegten Kriterien mit dem Ziel, aus den Ergebnisse Konsequenzen für die Verbesserung und Weiterentwicklung dieser Praxis zu ziehen.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Entwicklungslinien
- 3 Begriffliche Abgrenzung des Konzepts
- 4 Methoden
- 5 Nutzen und Ziele
- 6 Praktische Umsetzung – Arbeitsschritte
- 7 Qualitätskriterien und Standards
- 8 Bilanz: Vorteile, Limitierungen und Kritik
- 9 Quellenangaben
- 10 Literaturhinweise
- 11 Informationen im Internet
1 Zusammenfassung
Selbstevaluation als ein in der Literatur zur empirischen Sozialforschung eigenständig beschriebener Ansatz innerhalb der verschiedenen Evaluationskonzepte kennzeichnet diejenigen Methoden, die von denjenigen Praktiker*innen entwickelt und angewendet werden, die in ihrem Praxisfeld für die Konzeption und/oder Umsetzung der zu evaluierenden Praxis selbst verantwortlich sind. Sie sind „Herr des Verfahrens“ und haben damit wesentlichen Einfluss auf Evaluationsziele, Fragestellungen, Design, Umsetzung und Verwendung von Evaluationsergebnissen. D.h. bei einer Selbstevaluation geht es im Wesentlichen um die empirisch geleitete Beschreibung und Bewertung von genau definierten Ausschnitten des eigenen beruflichen Alltagshandeln und/oder seiner Auswirkungen nach selbst bestimmten Kriterien vor dem Hintergrund des Eigeninteresses der Fachkräfte, ihre Praxis möglichst unmittelbar aufgrund systematisch gewonnener Daten zu bewerten und zu verbessern.
2 Entwicklungslinien
In den 1990er-Jahre entstanden aus der Praxis und für die Praxis der Sozialen Arbeit aufgrund der großen Verdienste von Maja Heiner (1988; 1994; 1996; 1998) erstmals eine große Zahl an Selbstevaluationsprojekten. In den Jahren danach und darauf aufbauend wurden viele Konzeptualisierungsversuche, Systematisierungen und feste methodentheoretische Verankerungsansätze entwickelt, vor allem durch die Arbeiten von Wolfgang Beywl (Beywl und Bestvater 1998; Beywl und Schepp-Winter 1999; 2000; Beywl und Müller-Kohlenberg 2001; Beywl et al. 2011), zusammen mit vielen weiteren Autor*innen im Umfeld von Univation (www.univation.org) und der Deutschen Gesellschaft für Evaluation (www.degeval.org) sowie an sozialwissenschaftlich orientierten Fachhochschulen.
Parallel dazu haben sich seit den 2000er-Jahren weitere konzeptionelle und methodologische Ansätze entwickelt, vor allem in den Bereichen der Sozialen Arbeit, der Schulen, der Hochschulen und der Gesundheit (dazu vor allem www.selbstevaluation.de und die dort bereichsspezifisch ausgewiesene Literatur).
3 Begriffliche Abgrenzung des Konzepts
Innerhalb der verschiedenen Ansätze, Konzepte und Designs wird zum einen nach Herkunft der bewertenden Akteure unterschieden: Externe Evaluation als Bewertung von außen (außerhalb der Organisation) wird von interner Evaluation unterschieden, mit der eine Einrichtung selbst versucht, sich insgesamt oder in Teilbereichen einer Bewertung zu unterziehen.
Interne Evaluation wiederum lässt sich zum anderen unterscheiden im Hinblick auf den zu bewertenden Gegenstand: Handelt es sich um die jeweils eigene alltägliche berufliche Arbeit der Evaluator*innen, so ist von Selbstevaluation die Rede. Wird hingegen das berufliche Handeln anderer Fachkräfte untersucht, so kann dies als Fremdevaluation bezeichnet werden. Externe Evaluation ist dieser Logik zufolge also immer Fremdevaluation, während umgekehrt auch interne Fremdevaluationen denkbar sind.
Alle Formen von Evaluation stehen in einem mehr oder weniger eng eingebundenen Verhältnis zu den Fragen des Qualitätsmanagements (QM) und der Qualitätsentwicklung (QE) in sozialen Organisationen. Selbstevaluation ist dabei eng mit dem Anliegen verbunden, Fachkräfte als Expert*innen bei der Evaluation ihrer eigenen Praxis partizipativ in QM- und QE-Prozesse einzubinden.
4 Methoden
Alle im Zuge einer Selbstevaluation einsetzbaren Methoden sind in ihrer Grundform der allgemeinen empirischen Sozialforschung entnommen und werden für die spezifische Situation vor Ort modifiziert und spezifiziert:
- Dokumentationsmethoden halten das eigene berufliche Handeln anhand eines vorher erarbeiteten Rasters fest.
- Befragungsmethoden (Interviews, Fokusgruppen, Fragebögen, Onlinetools) dienen dazu, ausgewählte Aspekte des Erlebens und Verhaltens von Fachkräften, Klient*innen, Teilnehmer*innen oder Besucher*innen systematisch zu erfassen.
- Beobachtungsmethoden erlauben die strukturierte Erhebung des Verhaltens anderer Personen in bestimmten Situationen der Alltagspraxis.
- Methoden zur Kriterienentwicklung ermöglichen eine gezielte, regelgeleitete und fachlich begründete Bewertung des eigenen beruflichen Handelns und/oder seiner Auswirkungen.
5 Nutzen und Ziele
Nach allen Erfahrungen zeigen sich im Verlauf solcher Selbstevaluationsprozesse – unter guten Bedingungen – ganz unterschiedliche, oft vielfältige Nutzen für die Einrichtungen:
- Kontrolle: Leistungsbezogene Selbstkontrolle als Bewertungsgrundlage, um Erfolg und Misserfolg auf der fachlichen und auf der politischen Ebene diskutierbar zu machen.
- Aufklärung: Beiträge zur Strukturierung, zur besseren Transparenz und Klarheit in der Unübersichtlichkeit und Komplexität alltäglicher Aufgabenstellungen.
- Qualifizierung: Beitrag zur Fortentwicklung methodischen Handelns, Optimierung von Fachlichkeit und empirischer Kompetenzen im Rahmen der Personalentwicklung.
- Innovation: Verbesserung struktureller Kontexte und Bedingungen alltäglicher Handlungsabläufe, Erneuerung von Strukturen und Hilfeprozessen.
- Legitimierung: Nachweis von Qualität, Effektivität und Effizienz nach innen und außen, evidenzbasierte Belege für die konzeptionelle und volkswirtschaftliche Bedeutung einer Praxis.
6 Praktische Umsetzung – Arbeitsschritte
In einer Einführung in die Selbstevaluation (König 2007) werden für die konkrete und praktische Umsetzung eines Selbstevaluationsprojekts zehn Arbeitsschritte vorgeschlagen, die im Sinne einer Heuristik und Systematik, verbunden mit Checklisten und Arbeitshilfen, die regelgeleitete Umsetzung unterstützen können:
- Ziele formulieren
- Bedingungen klären
- Gegenstand bestimmen
- Gegenstand operationalisieren
- Kriterien entwickeln
- Datenquelle(n) bestimmen
- Methode(n) entwickeln
- Daten erheben und auswerten
- Qualität der Evaluation einschätzen
- Ergebnisse verwerten.
7 Qualitätskriterien und Standards
Die wohl ausführlichsten und differenziertesten Überlegungen, welche Kriterien speziell an Selbstevaluationsvorhaben anzulegen wären, stellen die „Standards für Selbstevaluation“ der Deutschen Gesellschaft für Evaluation dar. Sie sind unter Federführung von Hildegard Müller-Kohlenberg und Wolfgang Beywl (2003) in einem sehr langfristig und aufwendig angelegten Diskussions-, Konsultations- und Beratungsprozess und unter Beteiligung einer großen Zahl von Fachkräften und Expert*innen aus vielen Feldern der Sozialen Arbeit entwickelt und 2016 in einer revidierten Kurzform überarbeitet und publiziert worden (DeGEval 2016). Selbstevaluationen erfordern demnach klar vereinbarte und gesicherte Rahmenbedingungen (Muss-Standards) und sollen vor allem vier grundlegende Eigenschaften (Soll-Standards) aufweisen: Nützlichkeit, Durchführbarkeit, Fairness und Genauigkeit.
Allerdings gibt es einer so ausführlich und differenziert formulierten Anforderung gegenüber auch kritische und relativierende Überlegungen (König 2003), die es zu bedenken gilt und in die Frage münden könnten, ob denn nicht die Messlatte zu hoch liegt. Es scheint ein grundsätzliches Dilemma zu sein: Obwohl die Notwendigkeit solcher Standards gerade für Selbstevaluationen angesichts der immer wieder erhobenen Vorwürfe mangelnder Objektivität evident erscheint, werden an vielen Stellen dieser Standards sehr hohe methodische und den Aufwand betreffende Ansprüche formuliert. Es macht daher Sinn, über eine Bündelung und Konzentration der wesentlichen Aussagen der Standards nachzudenken. Insgesamt erscheinen vor diesem Hintergrund die folgenden fünf Kriterien zur Prüfung der Qualität von Selbstevaluationsprojekten besonders wichtig und geeignet (dazu ausführlicher König 2007, S. 127 ff.):
- Realisierbarkeit – sie bezieht sich auf die Bedingungen, Ressourcen und die Effizienz des Verfahrens.
- Angemessenheit – sie bezieht sich auf die Auswahl der Methoden und der Datenquellen.
- Gültigkeit – sie bezieht sich auf die Auswahl, Formulierung und Operationalisierung des Gegenstandes.
- Regelgeleitetheit – sie bezieht sich auf die Offenlegung und Dokumentation der Systematik des Verfahrens insgesamt.
- Verwertbarkeit – sie bezieht sich auf die Umsetzung der Ergebnisse im Sinne der Ziele des Verfahrens.
8 Bilanz: Vorteile, Limitierungen und Kritik
Die Vorteile von Selbstevaluationen gegenüber Evaluationsverfahren, die von externen Fachleuten durchgeführt werden, liegen darin, dass die Evaluator*innen aufgrund ihrer Identität als professionell Handelnde zugleich die Expert*innen des Evaluationsgegenstandes sind und deshalb über ein detailliertes Feld- und Prozesswissen verfügen. Diese Nähe ist andererseits jedoch auch mit methodologischen Problemen verbunden und birgt die Gefahr der Betriebsblindheit. Auch ist Selbstevaluation häufig eng auf die speziellen Gegebenheiten des jeweiligen Arbeitsbereichs zugeschnitten und ihre Resultate sind kaum übertragbar. Aufgrund ihres Selbstbestimmungscharakters sind Selbstevaluationsverfahren darüber hinaus mit einer hohen Motivation und daraus folgender Aktivitätsbereitschaft der Beteiligten verbunden. Aus dem gleichen Grund führen sie schließlich in der Regel auch zu einer höheren Identifikation mit den Evaluationsergebnissen, da die Bewertungen und Schlussfolgerungen dann als valide gelten, wenn sie von den Evaluator*innen in einem dialogischen Prozess als adäquat beurteilt werden (kommunikative Validierung). Daraus resultiert wiederum eine höhere Bereitschaft, Handlungskonsequenzen aus den Ergebnissen zu ziehen. Fazit: Soziale Dienste können in der Debatte um die Wirtschaftlichkeit ihrer Arbeit einen selbst gesteuerten Nachweis führen. Jedoch sind die Bedingungen entscheidend. Alle Beteiligten sind aufeinander angewiesen, der Ausgangs- und Rückbezugspunkt ist und bleibt dabei die Praxis im Wechselspiel mit den Personen, die in dieser Praxis Verantwortung tragen.
9 Quellenangaben
Beywl, Wolfgang und Hanne Bestvater, 1998. Selbst-Evaluation in pädagogischen und sozialen Arbeitsfeldern. In: Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung, Hrsg. Qualitätssicherung durch Evaluation. Remscheid: Selbstverlag, S. 33–43. ISBN 978-3-924407-56-8
Beywl, Wolfgang und Hildegard Müller-Kohlenberg, 2001. Qs 35: Perspektiven der Evaluation in der Kinder- und Jugendhilfe. Materialien zur Qualitätssicherung in der Kinder- und Jugendhilfe. Bonn: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Beywl, Wolfgang und Ellen Schepp-Winter, 1999. Qs 21: Zielfindung und Zielklärung – ein Leitfaden. Materialien zur Qualitätssicherung in der Kinder- und Jugendhilfe. Bonn: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Beywl, Wolfgang und Ellen Schepp-Winter, 2000. Qs 29: Zielgeführte Evaluation – ein Leitfaden. Bonn: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Beywl, Wolfgang, Hanne Bestvater und Verena Friedrich, 2011. Selbstevaluation in der Lehre. Ein Wegweiser für sichtbares Lernen und besseres Lehren. Münster: Waxmann. ISBN 978-3-8309-2577-4 [Rezension bei socialnet]
DeGEval – Gesellschaft für Evaluation e.V., 2016. Kurzfassung [online]. Standards für Evaluation. Mainz: DeGEval – Gesellschaft für Evaluation e.V., 21.09.2016 [Zugriff am: 14.10.2020]. Verfügbar unter: https://www.degeval.org/degeval-standards-alt/​kurzfassung/
Heiner, Maja, Hrsg., 1988. Praxisforschung in der Sozialen Arbeit. Freiburg: Lambertus. ISBN 978-3-7841-0393-8
Heiner, Maja, Hrsg., 1994. Selbstevaluation als Qualifizierung in der Sozialen Arbeit: Fallstudien aus der Praxis. Freiburg: Lambertus. ISBN 978-3-7841-0742-4
Heiner, Maja, Hrsg., 1996. Qualitätsentwicklung durch Evaluation. Freiburg: Lambertus. ISBN 978-3-7841-0892-6
Heiner, Maja, 1998. Experimentierende Evaluation: Ansätze zur Entwicklung lernender Organisationen. Weinheim: Juventa. ISBN 978-3-7799-1209-5
König, Joachim, 2003. Weniger ist mehr – Kommentar zu den Standards für Selbstevaluation der Deutschen Gesellschaft für Evaluation. In: Zeitschrift für Evaluation. 2(1), S. 83–88. ISSN 1619-5515
König, Joachim, 2007. Einführung in die Selbstevaluation: Ein Leitfaden zur Bewertung der Praxis Sozialer Arbeit. 2. Auflage. Freiburg: Lambertus. ISBN 978-3-7841-1780-5 [Rezension bei socialnet]
10 Literaturhinweise
Bestvater, Hanne und Wolfgan Beywl, 2015. Gelingensbedingungen von Selbstevaluation. In: Eberhard Bolay, Angelika Iser und Marc Weinhardt, Hrsg. Methodisch Handeln – Beiträge zu Maja Heiners Impulsen zur Professionalisierung der Sozialen Arbeit. Wiesbaden: Springer VS, S. 133–145. ISBN 978-3-658-09728-8 [Rezension bei socialnet]
11 Informationen im Internet
- Selbstevaluation.de
- Univation: Selbstevaluation
- Evangelische Hochschule Nürnberg: Institut für Praxisforschung und Evaluation
Verfasst von
Prof. Dr. Joachim König
Evangelische Hochschule Nürnberg
Allgemeine Pädagogik & Empirische Sozialforschung
Leiter des Instituts für Praxisforschung und Evaluation
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Es gibt 2 Lexikonartikel von Joachim König.
Zitiervorschlag
König, Joachim,
2020.
Selbstevaluation [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 20.10.2020 [Zugriff am: 10.10.2024].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/918
Link zur jeweils aktuellsten Version: https://www.socialnet.de/lexikon/Selbstevaluation
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