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Selbsthilfe

Prof. Dr. Annemarie Jost

veröffentlicht am 24.01.2024

Englisch: self-help

Unter Selbsthilfe versteht man die in Eigeninitiative und Eigenverantwortung unternommenen Aktivitäten zur Bewältigung von Herausforderungen und Problemen. Dieser Prozess kann sowohl bei Einzelpersonen stattfinden als auch in sog. Selbsthilfegruppen, d.h. in Zusammenschlüssen gleichermaßen Betroffener.

Überblick

  1. 1 Selbsthilfe in den Bereichen Eingliederung, Rehabilitation und Gesundheitsförderung
  2. 2 Selbsthilfe im neoliberalen Kontext
  3. 3 Quellenangaben

1 Selbsthilfe in den Bereichen Eingliederung, Rehabilitation und Gesundheitsförderung

Selbsthilfe spielt im Gesundheitssystem und bei der Eingliederungshilfe eine wichtige Rolle, insbesondere bei der Bewältigung chronischer Erkrankungen. Das in der Rehabilitation und in der Eingliederungshilfe grundlegende Klassifikationssystem der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit ICF (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte 2023) setzt sich neben den klassischen Struktur- und Funktionseinbußen daher mit der Aktivität und der Teilhabe der gesundheitlich beeinträchtigten Menschen auseinander und berücksichtigt biografische Aspekte und Umweltbedingungen bei der Abschätzung von Krankheitsfolgen. Im Rahmen von Hilfeplanungsprozessen, die auf der ICF basieren, wird systematisch erhoben, was die Zielpersonen selbst mit eigenen Ressourcen oder durch Unterstützung im Nahfeld bewältigen können. Aber auch hier kann gesundheitliche Selbstverantwortung nur dort gedeihen, wo Menschen in ihre Kraft kommen, sich selbst gut wahrzunehmen, für sich gut zu sorgen und sich wissenschaftsbasierte, zugleich von Wirtschaftsinteressen unabhängige Gesundheitsinformationen zu besorgen. Ein Gesundheitssystem, das insbesondere im kurativen Akutbereich expert:innengeleitet unter Zeitdruck über die individuellen Gesundheitskonzepte und konkreten sozialen Gegebenheiten hinwegsieht, die Menschen eher materialistisch wahrnimmt und leitliniengerecht einheitlich behandelt, kann dabei die später erwünschten Selbsthilfepotenziale untergraben.

Eine besondere Bedeutung hat die Selbsthilfe bei der Überwindung von Abhängigkeitsstörungen. Eine oft unterschätzte Anzahl an Menschen mit Suchtproblemen kann ihren Konsum (auch dauerhaft) reduzieren oder ohne Inanspruchnahme professioneller Hilfe beenden (Stöver und Hornig 2023, S. 12). Gerade in diesem Bereich werden Selbsthilfegruppen als besonders hilfreich erlebt.

Auch in Gesundheitsförderung und Verhaltensprävention spielt die Selbsthilfe eine wichtige Rolle, insbesondere, wenn der Teilaspekt der Entwicklung gesundheitlicher Kompetenzen betont wird. Die 1986 publizierte, auch heute noch in vielen Bereichen der Gesundheitsförderung als grundlegend erachtete Ottawa Charta der WHO (zur deutschen Übersetzung z.B. Deutsche gesetzliche Unfallversicherung 2023) betont das Ziel, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und entwickelt u.a. die Handlungsmaximen, gesundheitsbezogene Gemeinschaftsaktionen zu unterstützen und persönliche Kompetenz zu entwickeln. Dies sind wichtige Aspekte zur Stärkung der Selbsthilfemöglichkeiten.

2 Selbsthilfe im neoliberalen Kontext

In neoliberalen Kontexten besteht dabei die Gefahr, Verantwortung für mangelnde Problembewältigung zu individualisieren, obgleich die Ursachen von Lebensschwierigkeiten und Problemen nicht nur auf individueller Ebene liegen, sondern auch in strukturellen Benachteiligungen (soziale Ungleichheit) und Diskriminierungen wurzeln können. Man beruft sich bei der Selbsthilfe oft auf das Subsidiaritätsprinzip, nach dem übergeordnete Instanzen, wie z.B. der Staat, nicht etwas übernehmen sollten, was Einzelne oder Familien oder kleine Gruppen aus eigener Kraft bewältigen können. Um Selbsthilfe zu stärken, braucht es Erziehungs- und Bildungssysteme, die von Kindheit an alle Menschen dabei unterstützen, in ihre eigene Kraft zu kommen, selbstwirksam zu werden und fühlend, denkend und handelnd Herausforderungen zu bewältigen. Hierbei geht es nicht nur um Individuen, sondern auch um solidarisches, diskriminierungssensibles Handeln und Verbundenheit in Gemeinschaften.

Das in der Sozialen Arbeit bedeutsame Konzept Empowerment (Brandes und Stark 2012) ist deutlich auf die Erweiterung von Selbsthilfepotenzialen gerichtet, wobei in diesem Konzept eher der Begriff Selbstbemächtigung gewählt wird. Empowerment zielt darauf ab, dass Menschen die Fähigkeit entwickeln und verbessern, ihre soziale Lebenswelt und ihr Leben selbst zu gestalten. In diesem Konzept werden immer auch die Rahmenbedingungen mitgedacht, die die Entwicklung und den Einsatz persönlicher Ressourcen mitbedingen, sodass Machtverteilungsfragen nicht außen vor bleiben. Beim Selbsthilfe-Begriff werden diese Machtfragen oft weniger beleuchtet.

3 Quellenangaben

Brandes, Sven und Wolfgang Stark, 2021. Empowerment/Befähigung. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), Hrsg. Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden [online]. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 08.03.2021 [Zugriff am: 22.01.2024]. Verfügbar unter: https://leitbegriffe.bzga.de/systematisches-verzeichnis/​kernkonzepte-und-entwicklungen-der-gesundheitsfoerderung/​empowerment-befaehigung/

Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, 2023. ICF: Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit [online]. Bonn: Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte [Zugriff am: 02.11.2023]. Verfügbar unter: https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/​Klassifikationen/ICF/_node.html

Deutsche gesetzliche Unfallversicherung, 2023. Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung [online]. Berlin: Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e.V. [Zugriff am: 02.11.2023]. Verfügbar unter: https://www.dguv.de/medien/​inhalt/​praevention/​themen_a_z/​gesundheitsfoerderung/​anlage_1.pdf

Stöver, Heino und Larisse Hornig, 2023. Suchtprävention in der Sozialen Arbeit. Nomos: Baden-Baden. ISBN 978-3-8487-6678-9 [Rezension bei socialnet]

Verfasst von
Prof. Dr. Annemarie Jost
Professorin für Sozialpsychiatrie an der Fakultät 4 der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg
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Zitiervorschlag
Jost, Annemarie, 2024. Selbsthilfe [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 24.01.2024 [Zugriff am: 19.02.2025]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/920

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