Selbsthilfegruppe
Prof. Dr. Annemarie Jost
veröffentlicht am 13.03.2024
Mitglieder von Selbsthilfegruppen treffen sich regelmäßig zum gleichberechtigten Erfahrungsaustausch, zur Selbstreflexion und gegenseitigen Hilfe. Selbsthilfegruppen haben so eine emanzipatorische Funktion. Die Gruppen organisieren sich informell oder als örtliche Untergliederung bundesweiter Organisationen und Verbände. Selbsthilfegruppen zeichnen sich durch gelebte Verbundenheit und Solidarität in Zusammenschlüssen gleichermaßen Betroffener aus.
Überblick
- 1 Definition der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V.
- 2 Wie arbeiten Selbsthilfegruppen?
- 3 Selbsthilfe im Gesundheits- und Pflegebereich
- 4 Unterstützung für Selbsthilfegruppen: Selbsthilfekontaktstellen
- 5 Quellenangaben
- 6 Informationen im Internet
1 Definition der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V.
Die Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V. (DAG SHG) ist der Fachverband zur Unterstützung von Selbsthilfegruppen und von Menschen, die sich für Selbsthilfegruppen interessieren. Der Fachverband erarbeitet Arbeitshilfen für die Gruppenarbeit und setzt sich für die sozial- und gesundheitspolitische Unterstützung von Selbsthilfegruppen ein.
Die DAG SHG hat den Selbsthilfegruppenbegriff maßgeblich geprägt und bereits 1987 eine definitorische Einordnung vorgenommen.
„Selbsthilfegruppen sind freiwillige, meist lose Zusammenschlüsse von Menschen, deren Aktivitäten sich auf die gemeinsame Bewältigung von Krankheiten, psychischen oder sozialen Problemen richten, von denen sie – entweder selber oder als Angehörige – betroffen sind. Sie wollen mit ihrer Arbeit keinen Gewinn erwirtschaften. Ihr Ziel ist eine Veränderung ihrer persönlichen Lebensumstände und häufig auch ein Hineinwirken in ihr soziales und politisches Umfeld. In der regelmäßigen, oft wöchentlichen Gruppenarbeit betonen sie Authentizität, Gleichberechtigung, gemeinsames Gespräch und gegenseitige Hilfe. Die Gruppe ist dabei ein Mittel, die äußere (soziale, gesellschaftliche) und die innere (persönliche, seelische) Isolation aufzuheben. Die Ziele von Selbsthilfegruppen richten sich vor allem auf ihre Mitglieder und nicht auf Außenstehende; darin unterscheiden sie sich von anderen Formen des Bürgerengagements. Selbsthilfegruppen werden nicht von professionellen Helfern geleitet; manche ziehen jedoch gelegentlich Experten zu bestimmten Fragestellungen hinzu“ (DAG SHG 1987, S. 5).
2 Wie arbeiten Selbsthilfegruppen?
Wichtigste Merkmale von Selbsthilfegruppen sind:
- Alle Gruppenmitglieder sind gleichberechtigt
- Jedes Mitglied bestimmt über sich selbst
- Die Gruppe entscheidet selbstverantwortlich
- Jedes Mitglied geht um ihrer bzw. seiner selbst willen in die Gruppe
- Es gibt eine Gruppenschweigeverpflichtung
- Die Teilnahme ist kostenlos
(Kofahl und Trojan 2021).
Ebenso wie bei gruppentherapeutischen Angeboten (Yalom 2021) kann man davon ausgehen, dass auch bei Selbsthilfegruppen einige der von Yalom beschriebenen Wirkfaktoren eine wichtige Rolle spielen: Die Teilnehmenden erfahren, dass sie nicht alleine sind mit ihren Problemen (Universalität des Leidens), können sich gegenseitig Hoffnung vermitteln, gemeinsame Lösungsstrategien entwickeln und tauschen Informationen aus; so entstehen gemeinsame Lernerfahrungen (konsensuales Lernen). Die Gruppenerfahrungen können die soziale Kompetenz erweitern und Teilnehmende durch altruistisches Handeln in ihrem Selbstwertgefühl stärken. Insbesondere, wenn die Gruppenmitglieder zusammenhalten (Gruppenkohäsion) und empathische, akzeptierende und wertschätzende Beziehungen aufbauen, entstehen wichtige korrigierende Erfahrungen. Hierzu ist es bedeutsam, dass ein verbindliches Setting und Gruppenregeln in Selbsthilfegruppen gemeinsam etabliert und aufrechterhalten werden.
Selbsthilfegruppen vereinbaren oft eine Verbindlichkeit, d.h. man meldet sich ab, wenn man nicht teilnehmen kann, und sie setzen einen klaren zeitlichen Rahmen (Pünktlichkeit und vorhersehbare Dauer der Sitzungen). Wer aus der Gruppe ausscheidet, sollte sich von der Gruppe verabschieden und nach Möglichkeit die Gründe für das Ausscheiden besprechen. Es gibt jedoch auch offene Gruppen ohne Verbindlichkeit der Teilnahme. Ob anonyme Teilnahme möglich ist, wird unterschiedlich gehandhabt. Dies ist jedoch in Gruppen, die sich mit Suchtproblemen befassen, üblich. Selbstverständlich wird Vertraulichkeit vereinbart, sodass das Besprochene nicht nach außen dringt. Jede(r) äußert nur das, was er bzw. sie äußern möchte und übernimmt Verantwortung für sich, die anderen hören aufmerksam zu, fallen sich nicht ins Wort und interpretieren nicht. Wenn Störungen (z.B. Seitengespräche, mangelnde Konzentration und Aufmerksamkeit) entstehen, werden diesen in der Gruppe Raum gegeben. Gruppenregeln umfassen oft auch, wie man mit Essen und Trinken während der Sitzungen umgeht, dies kann sich störend auf die Konzentration auswirken.
Manche Selbsthilfeverbände wie z.B. die Anonymen Alkoholiker (2017) etablieren noch spezielle auf ihr Gruppenthema zugeschnittene Gruppenregeln, wie das 12-Schritte-Programm, welches auch eine spirituelle Komponente hat.
Selbsthilfegruppen sind in den letzten Jahren der Tendenz zur Digitalisierung gefolgt und bieten Internetauftritte. Jede zweite Selbsthilfegruppe unterhält zudem Onlineforen oder Auftritte in Sozialen Medien (Kofahl und Trojan 2021).
3 Selbsthilfe im Gesundheits- und Pflegebereich
Selbsthilfegruppen spielen im Gesundheitsbereich in der Prävention und Rehabilitation eine wichtige Rolle. Hier richten sie sich auf die gemeinsame Bewältigung von Krankheiten, Krankheitsfolgen und/oder auch psychischen Problemen, von denen sie entweder selbst oder als Angehörige betroffen sind (GKV-Spitzenverband 2022, S. 9). Das Gesundheitsportal Bund hat auf YouTube ein Erklärvideo zur Bedeutung der Selbsthilfe im Gesundheitsbereich hochgeladen, das auch über Fördermöglichkeiten informiert und diesbezüglich an Selbsthilfekontaktstellen verweist (Gesundheitsportal Bund 2022).
Die Förderung von Selbsthilfe ist für den Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung im § 20h SGB V gesetzlich geregelt. Für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen (Soziale Pflegeversicherung) findet sich die Regelung in § 45d SGB XI. Die Konkretisierung lässt sich jeweils in den Leitfäden zur Selbsthilfeförderung des GKV-Spitzenverbandes nachlesen (GKV-Spitzenverband 2022 und 2023).
4 Unterstützung für Selbsthilfegruppen: Selbsthilfekontaktstellen
In Deutschland gibt es über 300 eigenständige Einrichtungen zur Anregung, Unterstützung und Beratung von Selbsthilfegruppen und interessierten Menschen (Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V. 2023), die Unterstützungsangebote an 347 (Stand 2022) Orten erbringen. „Diese Einrichtungen haben oft ganz verschiedene Namen. Sie heißen ‚Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen – KISS‘, ‚Selbsthilfekontakt- und Informationsstelle – SEKIS‘, ‚Kontakt, Information und Beratung im Selbsthilfebereich – KIBIS‘, ‚Selbsthilfebüro‘ oder ähnlich. Allgemein werden sie kurz ‚Selbsthilfekontaktstelle‘ genannt“ (Nakos 2023). Auf den Seiten von Nakos, der nationalen Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen, findet man konkrete Informationen zu lokalen Kontaktstellen sowie zu anderen Aspekten analoger und digitaler Selbsthilfe; u.a. ein Leitfaden mit Hilfestellungen zu Organisation und technischen Grundlagen digitaler Treffen (Nakos 2021).
5 Quellenangaben
Anonyme Alkoholiker, 2017. Die Zwölf Schritte der Anonymen Alkoholiker [online]. Berlin: Anonyme Alkoholiker Interessengemeinschaft e.V. [Zugriff am: 11.03.2024]. Verfügbar unter: https://www.anonyme-alkoholiker.de/downloads/Zw%C3%B6lf-Schritte.pdf
Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V. (DAG SHG), Hrsg., 1987. Selbsthilfegruppen-Unterstützung: Ein Orientierungsrahmen. Gießen
Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V. (DAG SHG), 2023. Startseite [online]. Berlin: Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V. [Zugriff am: 10.11.2023]. Verfügbar unter: https://www.dag-shg.de/
Gesundheitsportal Bund, 2022. Wie hilft Selbsthilfe? In: YouTube [online]. 15.06.2022 [Zugriff am: 10.11.2023]. Verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=ilBSwa0sWaU
GKV-Spitzenverband, 2022. Leitfaden zur Selbsthilfeförderung. Grundsätze des GKV-Spitzenverbandes zur Förderung der Selbsthilfe gemäß § 20h SGB V vom 10. März 2000 in der Fassung vom 21. Oktober 2022 [online]. Berlin: GKV-Spitzenverband [Zugriff am: 10.11.2023]. Verfügbar unter: https://www.gkv-spitzenverband.de/media/​dokumente/​krankenversicherung_1/​praevention__selbsthilfe__beratung/​selbsthilfe/​Leitfaden_Selbsthilfeforderung_ab_2023_barrierefrei.pdf
GKV-Spitzenverband, 2023. Leitfaden zur Selbsthilfeförderung. Grundsätze des GKV-Spitzenverbandes zur Förderung der Selbsthilfe gemäß § 45d Satz 3 und Satz 7 SGB XI Grundsätze des GKV-Spitzenverbandes und des Verbandes der Privaten Krankenversicherung e.V. zur Förderung der Selbsthilfe nach § 45d Satz 3 und Satz 7 SGB XI vom 16.03.2020 zuletzt geändert durch Beschluss vom 12.07.2023 [online]. Berlin: GKV-Spitzenverband [Zugriff am: 10.11.2023]. Verfügbar unter: https://www.gkv-spitzenverband.de/media/​dokumente/​pflegeversicherung/​selbsthilfe_pflege/​20230712_Leitfaden_Selbsthilfe_45d_SGB_XI.pdf
Kofahl, Christopher und Alf Trojan, 2021. Selbsthilfe, Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeförderung. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), Hrsg. Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden [online]. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung [Zugriff am: 11.03.2024]. doi:10.17623/BZGA:Q4-i105-2.0
Nakos, 2021. NAKOS Handreichung | Digitale Treffen von Selbsthilfegruppen [online]. Berlin: Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen [Zugriff am: 10.11.2023]. Verfügbar unter: https://www.nakos.de/publikationen/key@8184
Nakos, 2023. Wie arbeiten Selbsthilfekontaktstellen? [online]. Berlin: Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen [Zugriff am: 10.11.2023]. Verfügbar unter: https://www.nakos.de/informationen/​basiswissen/​kontaktstellen/
Yalom, Irvin D., 2021. Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie. 14. Auflage. Stuttgart: Klett-Cotta. ISBN 978-3-608-89189-8
6 Informationen im Internet
- Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V.
- Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen
- Gesundheitsportal Bund: Wie hilft die Selbsthilfe? (YouTube)
- GKV-Spitzenverband: Leitfaden zur Selbsthilfeförderung
Verfasst von
Prof. Dr. Annemarie Jost
Professorin für Sozialpsychiatrie an der Fakultät 4 der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg
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Es gibt 10 Lexikonartikel von Annemarie Jost.
Zitiervorschlag
Jost, Annemarie,
2024.
Selbsthilfegruppe [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 13.03.2024 [Zugriff am: 07.10.2024].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/921
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