Selbsthilfeorganisation
Dr. Jutta Hundertmark-Mayser
veröffentlicht am 17.12.2024
In einer Selbsthilfeorganisation organisieren sich regionale und themenspezifische Selbsthilfegruppen innerhalb landesweiter und/oder bundesweiter Strukturen.
Überblick
- 1 Organisation
- 2 Angebote für Mitglieder und Nicht-Mitglieder
- 3 Themenbereiche und Problemstellungen
- 4 Personalstruktur und Arbeitsweise
- 5 Mitgliedschaften und Kooperationen
- 6 Angebote und Zielgruppen
- 7 Historie
- 8 Quellenangaben
1 Organisation
Eine Selbsthilfeorganisation ist in der Regel ein formal strukturierter Zusammenschluss von überwiegend oder ausschließlich natürlichen Personen auf Bundesebene, gegebenenfalls mit Untergliederungen oder stellvertretenden Einzelpersonen auf Landes-, Regional- oder Ortsebene. Rechtlich sind Selbsthilfeorganisationen meist gemeinnützige eingetragene Vereine. Die meisten Selbsthilfeorganisationen arbeiten zu einem spezifischen medizinischen oder (psycho)sozialen Thema, Anliegen oder Gebiet (zum Beispiel Krebs, Rheuma, Alleinerziehende).
In der Regel erheben Selbsthilfeorganisationen Mitgliedsbeiträge. Viele erhalten (auch größere) Spenden, Bußgeldzuweisungen von Gerichten und Staatsanwaltschaften und Fördermittel. Sie verbreiten ihre Informationen über eigene Broschüren, Mitgliederzeitungen und ihre Internetseite.
2 Angebote für Mitglieder und Nicht-Mitglieder
Selbsthilfeorganisationen bieten gewöhnlich fachliche Informationen und Beratung über diagnostische, therapeutische und rehabilitative Möglichkeiten aus der Perspektive von Betroffenen, auch für Nicht-Mitglieder. Häufig haben Selbsthilfeorganisationen auch spezielle Angebote für Angehörige. Sie versuchen auf Politik und Verwaltungen Einfluss zu nehmen mit dem Ziel der Verbesserung von Versorgungsangeboten, der Qualifikationen von Fachpersonal und Intensivierung von Forschung.
Als „verfasste Selbsthilfe“ nehmen Selbsthilfeorganisationen zunehmend die Rolle als Repräsentanten von Patient:inneninteressen in Gremien des Gesundheitswesens ein. Dort bringen sie die Erfahrung von Betroffenen ein und liefern so einen Beitrag zur Qualitätssicherung und zur Erhöhung der Patientenorientierung in der medizinischen Versorgung.
3 Themenbereiche und Problemstellungen
Bei der NAKOS sind aktuell 270 bundesweit arbeitende Selbsthilfeorganisationen verzeichnet (Stand: August 2024). 83 Prozent der Selbsthilfeorganisationen auf Bundesebene arbeiten zu chronischen Erkrankungen und Behinderungen, also dem Gesundheitsbereich. Dies umfasst nahezu das gesamte Spektrum körperlicher Erkrankungen und Behinderungen von Atemwegserkrankungen über Herz-Kreislauf- bis hin zu Tumorerkrankungen, psychischen Erkrankungen sowie geistigen Behinderungen. Die restlichen 17 Prozent engagieren sich zu psychosozialen und sozialen Fragestellungen beispielsweise betreffend Familie, Partnerschaft, Erziehung, Alter, Nachbarschaft, Lebenskrisen, Umwelt oder gesellschaftliche Integration. Insgesamt bearbeiten die Selbsthilfeorganisationen zusammen rund 620 Erkrankungen und Problemstellungen.
69 Prozent der bundesweiten Selbsthilfeorganisationen arbeiten zu mindestens einer seltenen Erkrankung oder Problemstellung (nicht mehr als 5 von 10.000 Personen sind betroffen).
4 Personalstruktur und Arbeitsweise
Die Selbsthilfearbeit der Selbsthilfeorganisationen auf Bundesebene ist vor allem eine ehrenamtliche Leistung: 58 Prozent arbeiten überwiegend ehrenamtlich, bei 37 weiteren Prozent wird die Arbeit zu etwa gleichen Teilen von Haupt- und Ehrenamtlichen erbracht. Nur fünf Prozent stützen sich überwiegend auf hauptamtliches Personal. Dabei wird die Vereinsarbeit in den allermeisten Fällen von selbst Betroffenen (oder Angehörigen) geleistet und verantwortet: bei 95 Prozent der befragten Vereinigungen stellen sie die Vereinsvorstände. 58 Prozent der bundesweit tätigen Selbsthilfeorganisationen verfügen nach eigenen Angaben über eine offizielle Geschäftsstelle für ihre Arbeit.
5 Mitgliedschaften und Kooperationen
72 Prozent der Selbsthilfeorganisationen sind Mitglied in einer Dachorganisation beziehungsweise einem Dachverband wie der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung, chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e.V. (BAG SELBSTHILFE), der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen e.V. (ACHSE), dem Paritätischen Gesamtverband e.V., dem Kindernetzwerk e.V. oder der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V.
70 Prozent der Vereinigungen arbeiten regelmäßig mit Dritten zusammen. Die häufigsten Kooperationen bestehen mit anderen Organisationen der Selbsthilfe (85 %), Einrichtungen der Gesundheitsversorgung wie Ärzt:innen oder Kliniken (75 %) oder Gesundheitsunternehmen wie Arznei- und Hilfsmittelhersteller (21 %). 23 Prozent haben weitere Kooperationspartner wie Bildungseinrichtungen, Forschungszentren oder Ministerien.
6 Angebote und Zielgruppen
84 Prozent der Selbsthilfeorganisationen vermitteln Kontakte zu anderen Betroffenen auf örtlicher Ebene. 71 Prozent davon vermitteln an angeschlossene Gesprächsgruppen, Betroffenenaustauschgruppen oder Meetings auf örtlicher Ebene, 44 Prozent an Ortsgruppen bzw. örtliche Verbandsvertretungen und 80 Prozent an einzelne Ansprechpersonen vor Ort oder auf regionaler Ebene.
67 Prozent der bundesweiten Selbsthilfeorganisationen halten nach eigenen Angaben Angebote für bestimmte Zielgruppen vor. 79 Prozent bieten spezifische Angebote für Familien und Angehörige, 62 Prozent für junge Menschen (Altersgruppe zwischen 18 und 35 Jahren), 36 Prozent für Ältere und 14 Prozent für Menschen mit Migrationshintergrund.
7 Historie
Etwa ein Viertel der bundesweiten Selbsthilfeorganisationen wurde in den 1980er-Jahren gegründet und fast 40 Prozent in den 1990er-Jahren. In den 1990er-Jahren begann verstärkt die Gründung von Betroffenenorganisationen insbesondere bei seltenen Erkrankungen.
Bei diesen Entwicklungen spielten Versorgungslücken und -mängel, soziale Ausgrenzung und gesellschaftliche Diskriminierungserfahrungen eine wichtige Rolle. Angesichts der Veränderungen im Krankheitsspektrum mit enorm angestiegenen chronischen und degenerativen Erkrankungen wies (und weist auch heute noch) die etablierte Gesundheitsversorgung vor allem hinsichtlich der Bewältigung von Krankheitsfolgen Mängel und Lücken auf. Viele Bedürfnisse nach persönlicher Lebenshilfe wurden und werden von Ärzt:innen und anderen beruflichen Helfer:innen des Gesundheitssystems nicht angemessen erfüllt. Die einseitige naturwissenschaftliche Orientierung der Medizin, die Vernachlässigung psychosozialer Probleme, mangelnde Koordination und Kooperation in der Versorgung und geringe Mitbestimmungsmöglichkeiten von Betroffenen führten und führen zur Suche nach alternativen Wegen der Problembewältigung.
8 Quellenangaben
Nationale Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfe, 2024. Informationen [online]. Berlin: NAKOS [Zugriff am: 10.12.2024]. Verfügbar unter: https://www.nakos.de/informationen/
Verfasst von
Dr. Jutta Hundertmark-Mayser
Diplom-Psychologin
Geschäftsführerin der NAKOS (Nationale Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfe)
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