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Selbstkonzept

Prof. Dr. rer. nat. Annette van Randenborgh

veröffentlicht am 30.06.2022

Etymologie: lat. concipere erfassen, verfassen

Englisch: self-concept; self concept (amerikanisch)

Unter dem Selbstkonzept wird das Wissen eines Menschen über seine eigene Person verstanden, bestehend aus zutreffenden Annahmen und auch Fehleinschätzungen. Es ist die individuelle und persönliche Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“

Überblick

  1. 1 Zusammenfassung
  2. 2 Bestandteile des Selbstkonzepts
  3. 3 Prozesse der Konstruktion des Selbstkonzepts
  4. 4 Entwicklung des Selbstkonzepts
  5. 5 Auswirkungen des Selbstkonzepts auf das Leben von Menschen
  6. 6 Quellenangaben

1 Zusammenfassung

Häufig verwendete Synonyme zu „Selbstkonzept“ sind Identität und Selbstkonstruktion. Während in der Psychologie der Begriff Selbstkonzept dominiert, wird in der Pädagogik häufiger von Identität gesprochen. Das Selbstkonzept ist abzugrenzen von dem ebenfalls einflussreichen und verbreiteten Konzept des Selbstwerts. Während das Selbstkonzept kognitiver und beschreibender Natur ist (z.B. „Ich bin gut in Mathematik“), ist der Selbstwert eine globale, affektive (d.h. gefühlsbasierte) Bewertung der eigenen Person. Das Selbstkonzept und der Selbstwert beeinflussen sich gegenseitig, folgen jedoch eigenständigen Entwicklungspfaden und weisen gelegentlich eine deutliche Diskrepanz auf (z.B. besteht ein negativer Selbstwert trotz vieler positiver Überzeugungen im Selbstkonzept zu eigenen Kompetenzen).

2 Bestandteile des Selbstkonzepts

Eine grobe Unterteilung des Selbstkonzepts wird durch die Begriffe „soziale Identität(en)“ und „persönliche Identität“ vorgenommen (Turner 1981). Während letzterer Begriff das Individuum selbst beschreibt, umfasst die soziale Identität bzw. umfassen soziale Identitäten das Wissen über die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen und deren Status in Relation zu anderen Gruppen.

Das Selbstkonzept kann in unterschiedlichen Domänen betrachtet werden. Eine viel beachtete Komponente ist das akademische Selbstkonzept, mit den persönlichen Überzeugungen zu akademischen Fertigkeiten, zu Leistungs- und Lernpotenzial. Es wird häufig untersucht, weil es wichtige Lebensentscheidungen des Individuums beeinflussen kann, wie z.B. die Entscheidung zur Aufnahme eines Studiums oder das Verfolgen verschiedener Karriereoptionen. 

Das physische Selbstkonzept bezieht sich auf die Leistungs- und Funktionsfähigkeit unseres Körpers sowie Aussehen und physische Attraktivität. In der Adoleszenz erfahren Jungen und Mädchen deutliche und rasche Veränderungen im physischen Selbstkonzept, sodass dieser Teil des Selbst das Wohlbefinden in dieser Phase stark beeinflusst (Spruit et al. 2016). Das physische Selbstkonzept wirkt sich auch auf Gesundheits- und Krankheitsverhalten von Menschen aus, beispielsweise bei der Entscheidung, ob ein Arzt oder eine Ärztin konsultiert werden sollte.

Zunehmend Beachtung findet auch die geschlechtliche Identität und ihre Entwicklung. Damit ist die Bewusstheit über die eigene Zugehörigkeit zu einer der beiden großen Geschlechterkategorien oder die Bewusstheit über das Fehlen dieses Zugehörigkeitsgefühls gemeint. Weiterhin entwickeln Menschen ein Wissen darüber, wie viel Ähnlichkeit sie zum gesellschaftlich geteilten „Prototyp“, also einem besonders typischen Mitglied der Geschlechtskategorie Mann oder Frau, haben und in welchen Punkten sie von diesem Prototyp abweichen.

In der Literatur zum Selbstkonzept wird häufig von Selbstschemata als Bestandteilen des Selbstkonzepts gesprochen. Selbstschemata sind einzelne Überzeugungen zur eigenen Person, die eine enge Verwandtschaft zu biografischen Inhalten (erlebten Situationen oder Episoden) aufweisen. Beispiele für negative Selbstschemata sind: „Wenn jemand wirklich sieht, wie ich bin, wird er mich verlassen“ oder „Meine Gefühle kann niemand nachvollziehen“. Selbstschemata führen häufig zu „Glaubenssätzen“, wie sich die Person in sozialen Kontexten verhalten soll bzw. muss. Sie sind interessant für helfende Berufe, weil sie die Interaktion mit anderen Menschen deutlich prägen und weil gelegentlich ein expliziter oder impliziter Auftrag für professionelle, helfende Kontakte darin besteht, solche Selbstschemata und Glaubenssätze zu verändern.

3 Prozesse der Konstruktion des Selbstkonzepts

Das Selbstkonzept entwickelt sich in aktiver Auseinandersetzung der Person mit sich selbst und durch Feedback aus der sozialen Umwelt. Dabei muss neues Wissen widerspruchsfrei in bestehende Wissensstrukturen integriert werden. Das Ergebnis ist eine Ausdifferenzierung des Wissens über die eigene Person. Fortan wird das Wissen entweder durch wiederholende Erfahrungen konsolidiert oder alternativ können neuartige Erfahrungen auch zur Umgestaltung der Wissensrepräsentation führen.

Drei Quellen für selbstrelevante Informationen sind für die Konstruktion von besonderer Bedeutung. Sie sind in Abhängigkeit des Alters einer Person unterschiedlich gut nutzbar.

  1. Feedback durch andere Personen. Das können direkte verbale Zuschreibungen sein (beispielsweise „Du bist wirklich musikalisch“) oder es werden indirektere Verhaltensweisen gedeutet, wie beispielsweise die Bitte einer Lehrerin, ein Kind möge bei einer Weihnachtsfeier ein Lied auf der Flöte vorspielen.
  2. Soziale Vergleiche. Menschen haben die Tendenz, Vergleiche mit anderen zum Zweck der Orientierung anzustellen. Dabei wird Wissen über sich selbst aktiv generiert. Vergleiche finden auf verschiedenen Ebenen statt, beispielsweise Fähigkeiten, Ansichten, soziale Beliebtheit oder Besitz.
  3. Selbstreflexion. Durch Selbstbeobachtung, Reflexion biografischer Erfahrungen und selbstbezogene Zukunftsvisionen setzten sich Menschen mit ihren Gefühlen, Bedürfnissen und ihrer Persönlichkeit auseinander.

4 Entwicklung des Selbstkonzepts

In der frühen Kindheit entwickeln sich nach und nach die Voraussetzungen dafür, selbstrelevante Informationen verarbeiten und über die eigene Person nachdenken zu können. „Entsprechend gehen Meilensteile der Selbstentwicklung mit Meilensteinen der generellen kognitiven Entwicklung Hand in Hand“ (Hannover und Greve 2018, S. 564).

Im Alter von wenigen Monaten entsteht die Bewusstheit über die Grenzen des eigenen Körpers und das Selbstempfinden als handlungsfähige Person. Als Zeichen dieser Selbstempfindung wird die Intention von 7- bis 9-monatigen Säuglingen gedeutet, ein Mobile mit dem Fuß in Bewegung zu setzen (Stern 1992). Weitere zwingende Voraussetzungen für eine differenzierte Selbstreflexion sind ein gewisses Sprachvermögen, die Fähigkeit zur Perspektivübernahme und die Ausbildung eines autobiografischen Gedächtnisses. Sind diese Voraussetzungen gegeben, „sammelt“ das Kind im Kindergartenalter relativ unzusammenhängende, inkohärente Wissensaspekte über die eigene Person (Beispiele: Ich bin ein Junge; Ich habe blaue Augen; Ich kann gut malen).

In der mittleren Kindheit, in der ein Kind viel Zeit in Gruppen mit Gleichaltrigen verbringt, sind soziale Vergleiche eine Hauptinformationsquelle, mithilfe derer sich das Selbstkonzept ausdifferenziert. Erikson beschreibt es als eine Hauptentwicklungsaufgabe dieses Lebensabschnitts, eine positive Repräsentation der eigenen Leistungsfähigkeit zu erlangen (Erikson 2018).

Da im Jugendalter körperliche und emotionale Veränderungsprozesse rasant sind, sind auch die Umbrüche in der Konstruktion des Selbstkonzepts in dieser Zeit deutlich. Hinzu kommt, dass die Verbundenheit zum Elternhaus abnimmt und Beziehungen zu Gleichaltrigen an Bedeutung zunehmen. Damit stellen sich Jugendliche die emotional bedeutsame Frage, wie attraktiv sie als Freund/​Freundin und Partner/​Partnerin für andere sind.

Im Erwachsenenalter ist das Selbstkonzept von relativer Konstanz gekennzeichnet, wobei jedoch fortlaufend noch Umbauprozesse, Differenzierungen und Erweiterungen des Wissens über die eigene Person stattfinden. Besonders in Phasen mit Veränderungen in den Lebensumständen findet Adaptation statt. Es kann sich dabei um normative Veränderungen handeln, wie z.B. den Eintritt ins Rentenalter, oder um unvorhergesehene Ereignisse und Krisen, wie z.B. das Auftreten einer schwerwiegenden Erkrankung.

5 Auswirkungen des Selbstkonzepts auf das Leben von Menschen

Das Selbstkonzept beeinflusst das Fühlen und Handeln von Menschen. Es bildet die Grundlage für evaluative Urteile und hat somit Konsequenzen für den Selbstwert und die Selbstwirksamkeitsüberzeugung. Personen mit einem hohen Selbstwert geben ein höheres Wohlbefinden an und sind resilienter gegenüber psychischen Erkrankungen, insbesondere Depressionen (Orth und Robins 2013).

Das Selbstkonzept und seine Extrapolation auf mögliche Zukunftsbilder der eigenen Person bestimmen die Ausrichtung des Verhaltens, selbstgesetzte Standards und Ziele (Hershfield 2011). Besonders domänenspezifische Teile des Selbstkonzepts sind richtungweisend für Alltags- und Lebensentscheidungen in der jeweiligen Domäne. Ein Anwendungsbeispiel aus der pädagogischen Psychologie ist die Erforschung einer Unterrichtsgestaltung, die eine realistische und dabei möglichst positive Ausprägung des akademischen Selbstkonzepts fördert.

Seit der Antike bis in die moderne Psychotherapie und Beratung herrscht die Überzeugung vor, dass ein umfangreiches und akkurates Selbstkonzept eine bessere Lebensführung ermöglicht. Besonders in humanistischen Ansätzen wird propagiert, dass zutreffende Selbsteinschätzungen die Basis einer gelungenen Bedürfniserfüllung sind. Die Selbstexploration – das Erkunden von eigenen Gefühlen, Wünschen und Bedürfnissen – ist ein zentraler Wirkfaktor der Personenzentrierten Beratung nach Carl Rogers. Ein anderes Beispiel ist, dass auf der Basis guter Selbstkenntnis die volle Entfaltung des persönlichen Potenzials gelingen kann („Selbstaktualisierung“ nach Maslow, z.B. Maslow 1970, S. 179).

6 Quellenangaben

Erikson, Erik H., 2018. Der vollständige Lebenszyklus. Frankfurt am Main: Suhrkamp. ISBN 978-3-518-28337-0

Hannover, Bettina und Werner Greve, 2018. Selbst und Persönlichkeit. In: Wolfgang Schneider und Ulman Lindenberger, Hrsg. Entwicklungspsychologie. 8. Auflage. Weinheim: Beltz-Verlag, S. 559–578. ISBN 978-3-621-28453-0 [Rezension bei socialnet]

Hershfield, Hal E., 2011. Future self-continuity: How conceptions of the future self transform intertemporal choice. In: Annals of the New York Academy of Sciences. 1235, S. 30. ISSN 0077-8923. doi:10.1111/j.1749-6632.2011.06201.x

Maslow, Abraham H., 1984. Motivation und Persönlichkeit. Hamburg: Rowohlt. ISBN 978-3-499-17395-0

Orth, Ulrich und Richard W. Robins, 2013. Understanding the link between low self-esteem and depression. In: Current Directions in Psychological Science. 22(6), S. 455–460. ISSN 0963-7214. doi:10.1177/0963721413492763

Spruit, Anouk, Assink, Mark, van Vugt, Eveline, van der Put, Claudia, und Geert Jan Stams, 2016. The effects of physical activity interventions on psychosocial outcomes in adolescents: A meta-analytic review. In: Clinical Psychology Review. 45, S. 56–71. ISSN 0272-7358. doi:10.1016/j.cpr.2016.03.006

Stern, Daniel N., 1992. Die Lebenserfahrung des Säuglings. Stuttgart: Klett-Cotta. ISBN 978-3-608-95687-0

Turner, John C., 1981. The experimental social Psychology of intergroup behavior. In: John C. Turner und H. Giles, Hrsg. Intergroup behaviour. Chicago: University of Chicago Press, S. 66–101. ISBN 978-0-631-12718-5

Verfasst von
Prof. Dr. rer. nat. Annette van Randenborgh
Psychologische Psychotherapeutin
Fachhochschule Münster
Fachbereich 10, Sozialwesen
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