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Selbstreflexion

Prof. Dr. Heinrich Dauber

veröffentlicht am 14.07.2019

Häufiger Schreibfehler: Selbstreflektion

Ähnliche Begriffe: Das Bedeutungsfeld von Selbstreflexion ist sprachlich nicht eindeutig definiert und überschneidet sich deshalb je nach theoretischem Hintergrundkonzept und praktischem Ansatz mit Begriffen wie Achtsamkeit, Selbstbewusstheit und Selbstgewissheit i.S. von Selbstwirksamkeit, Introvision.

Selbstreflexion ist ein moderner Begriff aus den Humanwissenschaften, insbesondere der Philosophie, Psychologie und Pädagogik zur Bezeichnung auf das „Selbst“ gerichteter subjektiver Reflexionsprozesse

Überblick

  1. 1 Zusammenfassung
  2. 2 Begriff
  3. 3 Das Kernproblem
  4. 4 Theoretische Hintergründe und Formen
    1. 4.1 Psychoanalyse
    2. 4.2 Kognitive Mentalisierung: reflective functioning
    3. 4.3 Gestalttherapie
    4. 4.4 Meditation
    5. 4.5 Zusammenfassung
  5. 5 Beispiele
    1. 5.1 Seminar zur biografischen Selbstreflexion
    2. 5.2 Selbstreflexion trans- und intragenerationaler Beziehungsmuster
    3. 5.3 Professioneller Umgang mit Geflüchteten: Sprache und Selbstreflexion
    4. 5.4 Übung: Dialogisches Zuhören
  6. 6 Quellenangaben
  7. 7 Literaturhinweise

1 Zusammenfassung

Im Zentrum professioneller pädagogischer Selbstreflexion steht die Bewusstmachung und Bearbeitung eigener, teilweise unbewusst übertragener sozialer Beziehungsmuster in pädagogischen und therapeutischen Kontexten.

2 Begriff

In einem engen Begriffsverständnis bezeichnet Selbstreflexion eine Haltung und Tätigkeit, in der die Aufmerksamkeit auf eigene innere Prozesse (Gedanken, Gefühle, Empfindungen) gelenkt wird, um es auf diese Weise professionell tätigen Sozialpädagogeninnen und Sozialpädagogen, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern, Lehrerninnen und Lehrern zu ermöglichen, die eigene pädagogische oder therapeutische Praxis kommunikativ (selbst-)bewusster zu gestalten (Bsp. 5.1 und 5.4).

In einem erweiterten VerständnisvonSelbstreflexion gehört dazu auch die Bewusstmachung eigener biografischer Prägungen, insbesondere systemischer Beziehungsmuster, die sich unbewusst in der pädagogischen und psychotherapeutischen Praxis mit Klientinnen und Klienten wiederholen (Bsp. 5.2).

In einem weiten Verständnis von professioneller Selbstreflexion werden in Supervision und Fallberatung auch die sozialen, institutionellen und ökonomischen Kontexte der pädagogischen Arbeit in die Reflexion einbezogen (Bsp. 5.3).

Die Bedeutung und Notwendigkeit von Selbstreflexion als professioneller Kompetenz wird in pädagogischen und therapeutischen Ausbildungsgängen zwar häufig postuliert; es liegen jedoch kaum theoretisch differenzierte und noch weniger gut dokumentierte Praxisbeispiele vor.

3 Das Kernproblem

Der Psychoanalytiker Peter Fürstenau hat im Anschluss an Sigmund Freud, der neben dem Politiker auch den Beruf des Therapeuten und Lehrers in einer Randbemerkung (1911) als einen von drei „unmöglichen Berufen“ bezeichnet hat, den Kern psychosozialer Belastungen in helfenden und lehrenden Berufen auf den Punkt gebracht:

„In der Begegnung mit dem Kind kommt es bei Erwachsenen zu einer unbewussten Wiederbelebung […] all der […] Gefühls- und Einstellungsvorgänge, die ihre Auseinandersetzung mit den Eltern in ihrer eigenen Kindheit bestimmt haben und unbewusst (latent) wirksam geblieben sind“ (Fürstenau 1969, S. 12).

Alle, die mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen beruflich im schulischen Alltag oder sozialpädagogischen Kontexten zu tun haben, wissen, dass Schülerinnen und Schüler ihre Lehrerinnen und Lehrer als Autoritäten immer mit deren ganzer Persönlichkeit wahrnehmen. So beschränkt sich die Wirkung der Lehrerin bzw. des Lehrers nicht auf seine Funktion als Lehrender und als Modell für Lern- und Lösungsprozesse, sondern stellt für Heranwachsende auch ein stillschweigendes Orientierungsmodell dar für soziales Verhalten, Werte und existenzielle Sinnfragen. Lehrerinnen und Lehrer, in gewisser Weise auch Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen, sind damit prägende Figuren innerhalb der Erwachsenenwelt – seien sie positiv besetzt oder in distanzierender Abgrenzung abgewertet.

Um konstruktiv mit solchen (unvermeidlichen) Übertragungsprozessen umgehen zu können, sie einerseits zu „verstehen“ und sich andererseits davon abzugrenzen, muss die Pädagogin oder der Pädagoge bzw. die Therapeutin oder der Therapeut sich selbst, vor allem ihre oder seine eigene „Erziehungsgeschichte“ kennen und „verstanden“ haben.

Damit gerät Selbstreflexion jedoch in ein grundlegendes Dilemma, sowohl Gegenstand wie Instrument bzw. Mittel zur Erforschung sozialer Beziehungen zu sein. Als Haltung ist Selbstreflexion nicht eindeutig beschreibbar, auch nicht in Verhaltenskategorien operationalisierbar. Dennoch wird allgemein angenommen, dass Selbstreflexion als professionelle Kompetenz dazu führt, sich gegenüber Kindern, Heranwachsenden, allgemein „Klientinnen und Klienten“, anders, vor allem beziehungsfähiger, empathischer, weniger rigide, mit innerer Distanzierungsfähigkeit und der Fähigkeit zum Perspektivwechsel im Rollentausch zu verhalten.

Zumindest in der psychoanalytischen Ausbildung wird weiterhin angenommen, dass Selbstreflexion einen Raum bietet, in dem die Kandidatin oder der Kandidat seine eigenen Übertragungen auf die Lehranalytikerin oder den Lehranalytiker bearbeiten kann, was ihr oder ihm im Spiegel der Lehranalyse wiederum helfen kann, die Beziehung zu ihren bzw. seinen Klientinnen und Klienten bewusster zu gestalten.

Die soziologische Diskussion berufsspezifischer Antinomien in pädagogischen Arbeitsfeldern, insbesondere im Lehrerberuf, hat herausgearbeitet, dass professionelles Handeln in pädagogischen und anderen Feldern professioneller Hilfeleistung durch ein hohes Maß an Unverfügbarkeiten, Fehlerhaftigkeiten und Unplanbarkeiten bestimmt ist, die angesichts häufig widersprüchlicher Handlungsanforderungen weder im Sinne einfacher Handlungsalternativen (richtig-falsch) aufhebbar, noch rein rational-wissenschaftlich steuerbar sind, sondern selbstreflexiv gehandhabt werden müssen.

Dabei kommt der Metakompetenz „Ungewissheitstoleranz“ als zentraler Dimension von Selbstreflexion im Blick auf die Lehrergesundheit große Bedeutung zu (Döring-Seipel und Dauber 2013). Lehrerinnen und Lehrer, die über ein breites Reservoir an psychischen Ressourcen verfügen, vor allem über die Fähigkeit, achtsam mit offenen Situationen umzugehen, in denen sie wechselnde Aufmerksamkeitsrichtungen praktizieren, sind weniger Burn-out gefährdet. Diese und andere Kompetenzen wie Selbstwirksamkeit, Distanzierungsfähigkeit und emotionale Stabilität können durch Selbstreflexion in Fort- und Weiterbildungen trainiert werden.

4 Theoretische Hintergründe und Formen

4.1 Psychoanalyse

In der Psychoanalyse hat sich seit langem die Überlegung durchgesetzt, dieses Selbst der Selbstreflexion als technisch unverfügbare, aber zentrale analytische Fähigkeit zum Einfühlen in den anderen zu bestimmen. Die innere Erfahrung der Analytikerin bzw. des Analytikers, die sie bzw. er in jahrelanger Ausbildung mit sich selbst macht, ist gleichzeitig ein Instrument zur empathischen Einfühlung bei anderen (Warsitz 2006). Dies geschieht in einer Form des doppelten Zuhörens, nach außen auf den Anderen und nach innen auf die eigenen emotionalen und intellektuellen inneren Prozesse (s. Bsp. 5.4).

4.2 Kognitive Mentalisierung: reflective functioning

Die von Fonagy und Mitarbeitern entwickelte Theorie des reflective functioning postuliert einen Zusammenhang zwischen frühkindlicher Affektregulierung und kognitiver Mentalisierung als der Fähigkeit, eigene Ziele wie die Ziele anderer wahrzunehmen und zu verstehen (Gedanken, Absichten, Meinungen, Wünsche) und über das damit zusammenhängende Verhalten nachzudenken. Dabei geht es um Prozesse reflexiver Metakognition, die für ein fühlendes und denkendes Selbst entscheidend sind, das die Fähigkeit besitzt, Sinn und Bedeutungszusammenhänge herzustellen und auf diese Weise das Verhalten zu regulieren.

Theoretischer Hintergrund des Konzepts ist die Auffassung, dass solche Fähigkeiten zu reflective functioning in den ersten Lebensjahren, insbesondere in der Interaktion zwischen dem Kind und der Mutter und deren Fähigkeit zur Metakommunikation entwickelt werden, aber als Prozess der Mentalisierung (Bewusstwerdung) sich auch im späteren Leben fortsetzen und vertiefen können (Fonagy und Target 2002).

All dies liegt einerseits noch im Bereich unserer „denkenden“ metakognitiven Fähigkeiten, spiegelt jedoch andererseits die menschliche Grundfähigkeit, auch auf emotionaler und intuitiver Ebene mit anderen Menschen in Resonanz zu gehen (Bsp. 5.2).

4.3 Gestalttherapie

Aus gestalttherapeutischer Sicht bildet sich das „Selbst“ im Kontakt zwischen dem Organismus und seiner sozial-ökologischen Umwelt, der in dem Moment bewusst wird, in dem es zu Störungen kommt, die eine Neustrukturierung im Verhältnis zwischen einem „Ich“ und seinem Umfeld erfordern (Selbstregulation). In diesem Sinn kann Gesundheit definiert werden als ständiges Ausbalancieren im Kontakt zwischen inneren und äußeren Bedingungen und Herausforderungen, sich sowohl im Blick auf die äußere Situation wie die eigene innere Entwicklung adäquat zu verhalten. Damit stehen nicht nur innere, selbstbezogene Gefühle und Erfahrungen im Mittelpunkt von Selbstreflexion, sondern rücken auch die sozialen und gesellschaftlichen Kontexte in den Fokus der Aufmerksamkeit (Bsp. 5.3).

4.4 Meditation

Aus buddhistischer Sicht führt der erste Schritt der Selbstreflexion zu der Erkenntnis, dass wir gespeist aus dem Reservoir unserer gespeicherten biografischen Erfahrungen sowohl unsere Innenwelt wie die Außenwelt nach bestimmten Mustern ständig selbst hervorbringen, dass das, was wir denken, empfinden und spüren uns nur in Form der Produkte unseres eigenen Geistes zugänglich ist, dass das, was wir Wirklichkeit nennen, ein Konstrukt unserer geistigen Tätigkeit ist.

Im nächsten Schritt müssen wir uns damit auseinandersetzen, dass das, was wir bei anderen zu erkennen und vielleicht zu verstehen glauben, aber auch das, was uns bei anderen aufregt, zunächst nichts als unsere eigenen nach außen verlagerten Projektionen sind, für die wir allein verantwortlich sind. Hier geht es darum, die eigenen Gedanken und Gefühle als die eigenen Gedanken und Gefühle an-zu-erkennen und zu sich selbst zurückzunehmen. Dies ist schon im Umgang mit unseren Mitmenschen schwierig genug, die größte Schwierigkeit liegt jedoch darin, dies in nicht bewertender Weise zu tun, aus den Schlaufen der ständigen Selbstbeurteilung auszusteigen (Bsp. 5.1).

Im Weiteren kommt es schrittweise zur bewussten Konfrontation mit den Vorstellungen und Bildern, die wir uns im Laufe unseres Lebens von der Welt, von anderen Menschen, aber auch von uns selbst gemacht haben. Diese Vorstellungen und (Selbst-)Bilder stellen konditionierte Erfahrungsmuster dar, auf die wir uns berufen, wenn wir versuchen, uns in der Welt zurechtzufinden. Diese Beziehung zwischen einem sich inhärenten und unbeständigen Ich und der äußeren Welt ist im Laufe des Lebens in ständigem Wandel begriffen.

Die entscheidende Frage lautet also: Wie können wir lernen, aus „alten“ gewohnheitsmäßig fixierten Mustern und Rollen auszusteigen und situationsangemessen in voller Präsenz unseres inneren Gewahrseins verantwortlich zu handeln? In selbstreflexiver Biografiearbeit können wir uns bewusst werden, dass wir uns nicht nur genetisch oder neurobiologisch, sondern auch in unseren sozialen Kontexten in größeren Zusammenhängen und Mustern bewegen als sie unserem Selbstbild eines autonom handelnden ICH entsprechen.

4.5 Zusammenfassung

In verschiedenen Formen biografischer Selbstreflexion verbinden sich kognitive Analyse, rationale Rekonstruktion, meditative Erkenntnis als lebensgeschichtliches Verstehen mit der emanzipatorischen Erkenntnisabsicht, sich von den unbewussten sozialen Mustern und kulturellen Prägungen der eigenen Biografie zu befreien.

5 Beispiele

5.1 Seminar zur biografischen Selbstreflexion

In einem von Heinrich Dauber und Ralf Zwiebel auf dem Hintergrund langjähriger Kooperation gemeinsam angebotenen Seminar im Sommersemester 2004 gestaltete sich die übliche Seminarsitzung folgendermaßen:

Zu Beginn kommentierten die beiden Leiter die von den Studierenden abgegebenen wöchentlichen Kommentare, indem sie die Studierenden zu persönlichen Reflexionen ermutigten und dabei auf den selbstreflexiven Modus ihrer Erfahrungen und ihres Denkens Bezug nahmen.

Beispielhaft kann dies etwa an folgenden, häufiger wiederkehrenden Fragen verdeutlicht werden:

  • Was geschieht gerade im Seminar? Wie kam es dazu? Was bedeutet das? Welche Bedeutung soll dem gegeben werden? Was ergibt sich daraus für die weitere Arbeit?
  • Wie kann eine Balance gefunden werden zwischen der inhaltlichen Reflexion ausgewählter Texte, der gruppendynamischen Reflexion des Seminarverlaufs und eigenen Assoziationen und Erfahrungen?
  • Auf welchen unausgesprochenen, vielleicht unbewussten Annahmen beruhen unsere Stellungnahmen, Behauptungen und Bewertungen? Wird der jeweils aktuelle Kontext in den Aussagen mitreflektiert?
  • Bewusstmachung eigener Muster: Womit identifiziere ich mich aufgrund eigener Erfahrungsmuster? Wie können diese Muster erkannt und – in distanzierter Reflexion – vielleicht sogar aufgegeben werden?
  • Übertragung von Einsichten aus dem Seminar in Beziehungssituationen außerhalb:Wie kann damit umgegangen werden, wenn diese Art von offener Wahrnehmung und spontanem Verhalten, die in Ansätzen im Seminar geübt und erlebt wurde, in Alltagssituationen zu Irritationen in Beziehungen führt? Wie werden andere, traditionelle Seminare auf diesem Hintergrund erlebt?
  • Eigene Bewertungsmaßstäbe: Welche Maßstäbe lege ich in der eigenen Selbstbeurteilung an? Woher kommen diese Maßstäbe? Nach welchen Maßstäben beurteile ich andere?
  • Können eigene Gefühle gespürt und akzeptiert werden, insbesondere, wenn sie einem selbst oder möglicherweise auch anderen inakzeptabel erscheinen? Darf alles gespürt werden, was auftaucht und in welchem Rahmen kann dies verbalisiert und mitgeteilt werden?
    (Dauber und Zwiebel 2006, S. 109–140)

5.2 Selbstreflexion trans- und intragenerationaler Beziehungsmuster

Als soziale Wesen bewegen wir uns die meiste Zeit unseres Lebens in Gruppen. Welche Beziehungen wir mit anderen eingehen und welche soziale Position wir in Gruppen einnehmen, hängt mit den Erfahrungen zusammen, die wir im Laufe unserer Biografie gemacht haben und wie wir diese bewerten. Dabei bewegen wir uns in der Regel immer im Schnittpunkt von zwei Grundmustern:

  • einem vertikalen Grundmuster von Beziehungen zwischen den Generationen und
  • einem horizontalen Grundmuster von Beziehungen innerhalb der eigenen Generation.

Zunächst sind wir Kinder von Eltern, die förderlich-unterstützend und/oder kritisch-unterdrückend sein können, was zu Selbstständigkeit/Kreativität und/oder Rebellion/Rückzug führt. An die (ursprüngliche) Stelle der Eltern treten in gewandelter Form später die Lehrer, deren Schüler wir sind und im Beruf die Vorgesetzten, deren Untergebene wir sind.

In jedem Fall müssen wir die damit verbundene Polarität des Strebens nach Autonomie und dem Wunsch nach Verbundenheit in den verschiedenen Lebensphasen immer wieder neu ausbalancieren.

Da wir die ältere Generation in der Regel überleben, nimmt die vertikale Achse im Laufe unseres Lebens tendenziell an Bedeutung ab und kehrt sich um, sobald wir selbst Eltern, Lehrerinnen und Lehrer oder Vorgesetzte werden und Kinder, Schülerinnen und Schüler oder Untergebene haben.

In aktuellen Beziehungskonstellationen und Handlungssituationen vermischen sich häufig die Beziehungsmuster der vertikalen und der horizontalen Achse.

Um hier ansatzweise Klarheit zu schaffen, ist es hilfreich, die eigenen, oft ambivalenten inneren Reaktionen intuitiv-achtsam wahrzunehmen, um „unverstellte“, „authentische“ Begegnung zu ermöglichen.

In der spontanen Gestaltung dieses lebendigen Prozesses kommt dabei der spielerischen Kreativität unseres Kind-Ichs eine größere Bedeutung zu als den internalisierten Normen unseres Eltern-Ich (der „Tyrannei des Sollte“). Dennoch sind wir – je nach Situation – auf beide Positionen als Handlungspotenziale angewiesen.

5.3 Professioneller Umgang mit Geflüchteten: Sprache und Selbstreflexion

2016 wandte der Autor sich brieflich an den nordhessischen Regierungspräsidenten Dr. Lübcke, um ihn im Auftrag der ehrenamtlichen Sprachlehrerinnen und -lehrer an der Erstaufnahmeeinrichtung Fuldatal um Unterstützung für die Fortführung und Weiterentwicklung der pädagogischen Arbeit mit Flüchtigen zu bitten. Selbstreflexion beschränkt sich in diesem Beispiel nicht auf die Klärung der eigenen biografischen Motive der Helfer, sondern reflektiert auch den Kontext weit verbreiteter praktischer Probleme ihrer Umsetzung.

Mit dieser Gruppe von Lernenden zu arbeiten bedeutet, sie nicht nur in die lexikalischen und grammatischen Strukturen der deutschen Sprache einzuführen, sondern ihnen angesichts ihrer Fluchtgeschichte und ungeklärten Aufenthaltsrechte, die Möglichkeit zu bieten, ihre aktuelle eigene Situation in ihrer Muttersprache und dann, ansatzweise auf Deutsch zum Ausdruck bringen zu können und ihnen durch Selbstmitteilungen erste Schritte zur sozialen Integration zu ermöglichen. Dies ist nur möglich durch einen vorausgehenden selbstreflexiven inneren Perspektivwechsel der muttersprachlichen Deutschlehrerinnen und -lehrer.

Deshalb sollte der Sprachunterricht für Flüchtlinge in der Ersteinrichtung unter folgenden Gesichtspunkten neu durchdacht werden:

  • Insbesondere für Flüchtlinge in Erstaufnahmeeinrichtungen mit ungeklärter Bleibeperspektive gehen Ansätze eines grammatisch/lexikalisch orientierten systematisch aufgebauten Sprachunterrichts an ihren Alltagserfahrungen und -problemen vorbei (z.B. lexikalische Unterscheidung zwischen Obst und Gemüse als Befähigung zum Einkauf im Supermarkt). Stattdessen könnte gefragt werden: Welche Sprachmuster brauchen Flüchtlinge, um sich in ihrer konkreten Situation und ihrem Umfeld orientieren und ausdrücken zu können: auf Deutsch Kontakt aufnehmen zu können, um Hilfe zu bitten, sich etwas erklären zu lassen etc.
  • Integration bedeutet keine Einbahnstraße in Richtung deutsche Gesellschaft, sondern erfordert einen individuell sehr unterschiedlichen personalen Integrationsprozess, eine Verbindung zwischen dem Prozess der Emigration aus der Herkunftsgesellschaft und der Immigration in die deutsche Gesellschaft zu unterstützen.

Dr. Lübcke hatte damals seine uneingeschränkte Unterstützung für diese Arbeit der ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer zugesagt. Die hessische Landesregierung hat allerdings kurz darauf beschlossen, diese Erstaufnahmeeinrichtung trotz seines Einspruchs zu schließen, die Flüchtigen auf andere zentrale Einrichtungen zu verteilen und den Sprachunterricht kommerziellen Sprachschulen zu übertragen.

Am 02. Juni 2019 wurde Dr. Lübcke wegen seiner Unterstützung der Flüchtlingsarbeit im Regierungsbezirk Kassel ermordet.

5.4 Übung: Dialogisches Zuhören

Diese Übung stammt aus einem Einführungsmodul in das Lehramtsstudium (Personale Basiskompetenzen für den Lehrerberuf) an der Universität Kassel.

Setzen Sie sich mit einer Partnerin oder einem Partner zusammen und stellen Sie die Stühle so, dass Sie in entgegengesetzte Richtungen blicken, also Ihre linken (oder rechten) Schultern sich berühren. Erzählen Sie Ihrer Partnerin oder Ihrem Partner 3–5 Minuten etwas aus Ihrem Alltag, das Ihnen gerade einfällt. Ihre Partnerin oder Ihr Partner hört Ihnen zu, ohne irgendwelche Kommentare abzugeben, auch keinen Blick- oder Körperkontakt aufzunehmen. Als zuhörende Partnerin oder zuhörender Partner versuchen Sie, der erzählten Geschichte zu folgen und nehmen Sie, wenn möglich, im Hintergrund wahr, welche Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen während dieser Erzählung in Ihnen selbst auftauchen und wie sich diese im Fortgang der Erzählung verändern. Versuchen Sie, Ihr Gegenüber während dieser 3 Minuten nicht zu unterbrechen und sich selbst in einem Zustand „freischwebender Aufmerksamkeit“ zu halten.

Partnertausch.

Selbstreflexive Auswertung: Was ist leichter/schwerer gefallen? Erzählen ohne bestätigendes „Feedback“ durch den Anderen? Zuhören ohne kommentieren zu können? Sind Sie mehr bei der erzählten Geschichte geblieben oder Ihren eigenen Assoziationen gefolgt? Konnten Sie in einem Modus doppelter Aufmerksamkeit hin und her pendeln, ohne sich durch eigene Beurteilungen und innere Reaktionen ablenken zu lassen oder diese gar durch Mimik und Gestik deutlich werden zu lassen und damit die Erzählerin oder den Erzähler subtil zu beeinflussen?

6 Quellenangaben

Dauber, Heinrich und Ralf Zwiebel, Hrsg., 2006. Professionelle Selbstreflexion aus pädagogischer und psychoanalytischer Sicht. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. ISBN 978-3-7815-1458-4 [Rezension bei socialnet]

Döring-Seipel, Elke und Heinrich Dauber, 2013. Was Lehrerinnen und Lehrer gesund hält: empirische Ergebnisse zur Bedeutung psychosozialer Ressourcen im Lehrerberuf. Kölner Reihe: Materialien zu Supervision und Beratung. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht. ISBN 978-3-525-40344-0

Fonagy, Peter und Target, Mary, 2002. Neubewertung der Entwicklung der Affektregulation vor dem Hintergrund von Winnicotts Konzept des ‚falschen Selbst‘. In: Psyche. 56(9/10), S. 839–862. ISSN 0033-2623

Fürstenau, Peter, 1969. Zur Psychoanalyse der Schule als Institution. In: Carl-Ludwig Furck, Hrsg. Zur Theorie der Schule. Weinheim: Beltz

Warsitz, Rolf-Peter, 2006. Selbstreflexion als Methode der Psychoanalyse. In: Heinrich Dauber und Ralf Zwiebel, Hrsg. Professionelle Selbstreflexion aus pädagogischer und psychoanalytischer Sicht. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 65–86. ISBN 978-3-7815-1458-4 [Rezension bei socialnet]

7 Literaturhinweise

Bohm, David, 1998. Der Dialog: Das offene Gespräch am Ende der Diskussionen. Hrsg. von Lee Nichols. Stuttgart: Klett-Cotta. ISBN 978-3-608-91857-1

Dauber, Heinrich, 2009. Grundlagen Humanistischer Pädagogik: Leben lernen für eine humane Zukunft. 2. Auflage. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. ISBN 978-3-7815-1591-8

Giernalzyk, Thomas, 2017. Selbstreflexion in der Supervision – sehnsüchtig gewünscht und ängstlich vermieden [online]. Reflexion der Übertragung als Teil der Gegenübertragungsanalyse des Supervisanden. [Zugriff am 13.07.2019]. Verfügbar unter: https://www.ipom-net.com/dateidownload.php?dpfad=LS2.pdf

Kalisch, Konrad, 2012. Mentalisierung und Affektregulation – Wie sich das kindliche Selbst entwickelt. In: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie. 61(5), S. 336–347. ISSN 0032-7034

Leuzinger-Bohleber, Marianne und Judith Lebiger-Vogel, Hrsg., 2016. Migration, frühe Elternschaft und die Weitergabe von Traumatisierungen: Das Integrationsprojekt „ERSTE SCHRITTE“. Stuttgart: Klett-Cotta. ISBN 978-3-608-94948-3

Möller, Heidi, 2017. Supervision in der Psychotherapie: Grundlagen – Forschung – Praxis. Stuttgart: Kohlhammer. ISBN 978-3-17-029843-9

Stahlmann, Katharina, Hrsg., 2018. Begegnungen mit Geflüchteten – Möglichkeiten der Gestalttherapie. Reflexionen zu Therapie, Beratung, Politik. Köln: Ehp-Verlag Andreas Kohlhage. ISBN 978-3-89797-106-6 [Rezension bei socialnet]

Zwiebel Ralf, 2019 [im Druck]. Wann ist ein Psychoanalytiker genügend gut analysiert. In: Psyche. ISSN 0033-2623

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Prof. Dr. Heinrich Dauber
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