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Service User Involvement

Prof. Dr. Marlene-Anne Dettmann, Katharina Scholz

veröffentlicht am 26.09.2023

Abkürzung: SUI

Etymologie: engl. service Dienst; engl. user Nutzer:in; engl. involvement Beteiligung, Einbindung

Service User Involvement meint den Einbezug von Nutzer:innen sozialer, personenbezogener Dienstleistungen in verschiedene Handlungsbereiche. Die Nutzer:innen bringen Erfahrungswissen als Expertise über bestimmte Lebenslagen und die Nutzung sozialer Dienste in Bereiche der Praxisentwicklung, Aus- und Weiterbildung sowie Politik ein.

Überblick

  1. 1 Einbezug und Ziele
  2. 2 Entwicklung
  3. 3 Wirkungen
  4. 4 Diskurse
  5. 5 Quellenangaben
  6. 6 Literaturhinweise

1 Einbezug und Ziele

Partizipation gilt als Handlungsprinzip für die Soziale Arbeit und wird u.a. als Erfolgsfaktor für Hilfeverläufe von Individuen oder Gruppen nicht (mehr) hinterfragt. Der Ansatz Service User Involvement geht über den individuellen Nutzen hinaus und verfolgt durch die Beteiligung von Nutzer:innen (Service User) positive strukturelle Veränderungen. In Anlehnung an ein Modell von Chiapparini et al (2020) können zusammengefasst drei Handlungsbereiche unterschieden werden:

  1. Öffentliche und private Dienstleistungsorganisationen beteiligen Service User an der (Weiter-)Entwicklung von Strukturen und Prozessen.
    • Beispiele: Ein Kinder- und Jugendhilfeträger beteiligt junge Menschen an der Erstellung eines Schutzkonzeptes. Der Sozialdienst eines Krankenhauses überarbeitet mithilfe ehemaliger Patient:innen den Entlassungsprozess.
    • Ziele: Mithilfe des Erfahrungswissens der Service User können die jeweiligen (Dienst-)Leistungen und professionellen Praktiken verbessert respektive die Wirksamkeit von Maßnahmen erhöht werden.
  2. Die Aus-/Weiterbildung von Fachpersonen beteiligt Service User an der Lehre und Forschung.
    • Beispiele: Fachschüler:innen treffen Bewohner: innen in deren stationären Einrichtungen und lernen durch deren Perspektive „die Praxis“ kennen. Weiterbildungen für Kinderschutz finden unter Einbezug von Perspektiven betroffener Familien statt. An Forschungen zum Thema Behinderung werden Betroffene bei der Entwicklung der Fragestellung, an der Umsetzung sowie der Interpretation und Diskussion der Ergebnisse beteiligt.
    • Ziele: Einerseits wird die Qualifizierung von Fachpersonen verbessert und andererseits werden die Nutzer:innen gestärkt. Nutzer:innen können befähigt werden, nicht nur über biografische Erfahrungen zu berichten, sondern gemeinsam mit (angehenden) Fachpersonen Wege zur Reflexion und Verbesserung der beruflichen Praxis zu finden. Die Beteiligten werden bestärkt, Erfahrungen als Nutzer:innen Sozialer Arbeit als Wissensquelle zu begreifen.
  3. Service User partizipieren in öffentlichen und politischen Diskursen sowie an der (Weiter-)Entwicklung von politischen und rechtlichen Grundlagen.
    • Beispiele: Selbstvertretungen werden an der Entwicklung von neuen Gesetzesartikeln beteiligt. Kommunale Strategien (z.B. Sozial- oder Jugendhilfeplanung) werden unter Einbezug der potenziellen Nutzer:innen gestaltet. Auf einer Konferenz über Armut werden die Perspektiven armutsbetroffener Menschen zentriert.
    • Ziele: Die Beteiligung an Diskursen und Grundlagen führt zu einer bedürfnisgerechteren Ausgestaltung, Rechte werden (besser) wahrgenommen und wirksamere Maßnahmen können entwickelt und umsetzt werden.

2 Entwicklung

Je nach Handlungsbereich ist die Umsetzungspraxis unterschiedlich etabliert. Durch Initiativen und Prozesse im Rahmen von erstarkenden Partizipationsbestrebungen sind in den letzten Jahren – z.B. durch die UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) und UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) – die Beteiligungsmöglichkeiten grundsätzlich gestiegen. Dies zeigt sich in Deutschland exemplarisch an partizipativen Planungsprozessen in der Stadtentwicklung (z.B. Gestaltung von öffentlichen Plätzen) oder Anhörungen von Interessenvertretungen für neue Gesetzgebung (z.B. Bundesteilhabegesetz [BTHG] oder Kinder- und Jugendstärkungsgesetz [KJSG]), in denen die Expertise (potenzieller) Nutzer:innen eingeholt wird. Zudem werden konkrete Angebote mithilfe von Peer-Konzepten ergänzt sowie Beteiligungsformen wie Räte oder Gremien (z.B. in Kitas, Wohngruppen, Werkstätten für behinderte Menschen) geschaffen. Häufig beruhen die Beteiligungsmöglichkeiten nicht auf etablierten Rechten, sind also nicht institutionalisiert, sondern finden unregelmäßig, punktuell und uneinheitlich statt. In Institutionen der Aus- und Weiterbildung werden im Rahmen partizipativer Forschung seit einigen Jahren Service User stärker beteiligt. Hingegen gibt es in der Lehre nur vereinzelte Initiativen und keine systematische Einbindung des Erfahrungswissens von Service Usern.

3 Wirkungen

Da die Einbindung von Erfahrungswissen bisher nicht systematisch erfolgt und darüber hinaus nur zum Teil standardisierbar ist, ist eine individuelle Analyse erforderlich. Der Prozess der Mitwirkung ist dabei einfacher festzustellen als die daraus entstandenen Wirkungen. Exemplarisch kann dies am Handlungsbereich Aus-/Weiterbildung von Fachpersonen abgebildet werden. Es kann geprüft werden, inwiefern der Beteiligungsprozess tatsächlich als Partizipation zu werten ist oder ob es sich um symbolische Beteiligung handelt. Ulla-Karin Schön (2016) untersucht in einer Übersichtarbeit durchgeführte Projekte nach dem Grad der Partizipation, angelehnt an das Partizipationsmodell von Sherry Arnstein (1969). Schwierig festzustellen ist, ob nachhaltige Empowermentprozesse wirksam werden oder eine tatsächliche Verbesserung sozialer personenbezogener Dienstleistungen erfolgt.

Grundsätzlich können folgende Wirkungen von SUI in der Lehre zusammengefasst werden: Studierende erhalten Einblicke in die Perspektiven von Nutzer:innen, erkennen deren Stärken und Ressourcen und bauen eigene stereotype Ansichten ab. Die Empathie der Studierenden wird gefördert und ihre Haltung verbessert. Der Theorie-Praxis-Transfer fällt Studierenden leichter und ihre Kommunikationsfähigkeiten werden gestärkt. Nutzer:innen empfinden es als sinnstiftend, an der Qualifizierung zukünftiger Fachkräfte mitzuwirken. Sie werden als Partner:innen im Lernprozess wahrgenommen und geschätzt und dadurch in Selbstwertgefühl und Zuversicht gestärkt. Darüber hinaus erwerben sie Kenntnisse und Fähigkeiten, die dazu beitragen können, sich zukünftig neue Aufgaben zuzutrauen (Tanner et al. 2015, S. 468 f.; Burns und McGinn 2019, S. 97). Während die meisten bisher publizierten Evaluationen auf die kurzfristigen Wirkungen fokussieren, finden sich in der Übersichtsarbeit von Tanner et al. (2015) auch Hinweise auf langfristige Wirkungen.

4 Diskurse

Begriff: Die Bezeichnung Service User ist nicht unstrittig. Gründe sind u.a. die Reduzierung von Menschen auf ihre Nutzung sozialer Dienstleistungen und eine eher technokratische Assoziation. Internationale Organisationen wie PowerUS nutzen aktuell die Beschreibung „experts by experience“, die dem bekannten Begriff aus der Behindertenrechtsbewegung „Expert:innen in eigener Sache“ oder „Erfahrungsexpert:innen“ nahekommt. In England, wo der Ansatz seit Anfang 2000 in der Aus- und Weiterbildung verpflichtend ist, nutzt die dortige öffentliche Agentur Social Work England die Beschreibung „people with lived experience“. Die veränderte Beschreibung erweitert explizit die Zielgruppe um Menschen, die von sozialen Problemen betroffen sind, jedoch (aktuell oder bisher) keine sozialen Dienstleistungen in Anspruch nehmen. Nach wie vor finden sich die meisten Veröffentlichungen über den Einbezug von Nutzer:innen unter dem Begriff Service User Involvement.

Professionalisierung: In Deutschland gibt es seit 2005 die Initiative EX IN (Experienced Involvement). Menschen mit Erfahrung im psychiatrischen Hilfesystem können sich durch eine einjährige Qualifizierung als Genesungsbegleitung schulen lassen. Anschließend können sie mit ihrem Erfahrungswissen den Genesungsprozess von Personen mit psychischen Erkrankungen begleiten (EX-In Deutschland 2023). Seit 2013 werden in Deutschland Menschen mit Behinderungen in einer dreijährigen Vollzeit-Qualifizierung zu sogenannten Bildungsfachkräften ausgebildet. Anschließend vermitteln sie angehenden Lehr-, Fach- und Führungskräften ihre Lebensweisen, spezifischen Bedarfe und Sichtweisen (IIB2 2023). Seit 2023 wird in den Niederlanden ein Masterstudiengang für Erfahrungsexpertise angeboten. Dort wird gelehrt, wie Erfahrungswissen in Organisationen nachhaltig implementiert, kreativ an Praxisfragen gearbeitet und Entstigmatisierungsprojekte geleitet werden können. Eigene Erfahrungen der Studierenden mit Störung und Genesung bilden die Basis, auf der sie arbeiten (Windesheim 2023). In Forschungsarbeiten wird begleitend untersucht, wie sich das Erfahrungswissen durch die Qualifizierung und anschließende Verberuflichung verändern kann (hierzu z.B. Ackers und Nuißl 2021; Dörrer und Terfloth 2022).

Hürden: Während von manchen Fachpersonen der Verlust des eigenen Expert:innenstatus oder gar die De-Professionalisierung der akademischen Profession Soziale Arbeit durch eine Aufwertung von Erfahrungswissen befürchtet wird, betonen Befürworter:innen von Service User Involvement, dass Erfahrungswissen das sog. akademische Wissen ergänzt und somit nicht in Konkurrenz steht (Ackermann und Dettmann 2022, S. 8) 

Qualität: Als wichtige Voraussetzung für die Involvierung von Nutzer:innen wird u.a. gefordert, Anfragen an Nutzer:innen klar zu formulieren (in Bezug auf die Umsetzung und Ziele des Einbezugs), wertschätzende Rahmenbedingungen zu schaffen (z.B. vertrauensvolle und sichere Räume sowie eine angemessene Vergütung) sowie möglichst heterogene Nutzer:innen einzubeziehen, unter Berücksichtigung marginalisierter Gruppen (Duffy und Beresford 2020, S. 14). Der Einbezug von Nutzer:innen soll zudem kritisch reflektiert und an den Interessen und Zielen der Nutzer:innen ausgerichtet werden.

5 Quellenangaben

Ackermann, Timo und Marlene-Anne Dettmann, 2022. Service User Involvement in der Hochschulbildung – gelebte Partizipation?! In: Die neue hochschule [online]. (3), S. 6–9 [Zugriff am: 14.09.2023]. ISSN 0340-448X. Verfügbar unter: https://doi.org/10.5281/zenodo.6576035

Ackers, Susanne und Klaus Nuißl, 2021. EX-IN Genesungsbegleitung. Köln: Psychiatrieverlag. ISBN 978-3-96605-076-0

Arnstein, Sherry R., 1969. A Ladder Of Citizen Participation. In: Journal of the American Institute of Planners [online]. 35(4), S. 216–224 [Zugriff am: 14.09.2023]. ISSN 1939-0130. Verfügbar unter: doi:10.1080/01944366908977225

Burns, Patricia und Tony McGinn, 2019. Service User Involvement in Social Work Education and Practice Development: A Narrative Review. In: The Irish Social Worker: Open Access & Practice Research Journal. S. 93–102

Chiapparini, Emanuela, Claudia Schuwey, Michelle Beyeler, Caroline Reynaud, Sophie Guerry, Nathalie Blanchet und Barbara Lucas, 2020. Modelle der Partizipation armutsbetroffener und -gefährdeter Personen in der Armutsbekämpfung und -prävention. Forschungsbericht Nr. 7/20

Dörrer, David und Karin Terfloth, 2022. Professionalisierung des Service User Involvements durch Qualifikationsangebote. In: SUI Newsletter [online]. S. 4–5 [Zugriff am: 14.09.2023]. Verfügbar unter: 10.48441/4427.997

Duffy, Joe und Peter Beresford, 2020. Critical issues in the development of service user involvement. In: Hugh McLaughlin, Peter Beresford, Colin Cameron, Helen Casey und Joe Duffy, Hrsg. The Routledge handbook of service user involvement in human services research and education. London: Routledge, S. 9–16. ISBN 978-0-367-52356-5

EX-IN Deutschland e.V., 2023. EX-IN – Genesungsbegleitung [online]. Karlsbad: EX-IN Deutschland e.V. [Zugriff am: 01.09.2023]. Verfügbar unter: https://ex-in.de/ex-in-genesungsbegleitung/

IIB2 Beratung. Bildung. Arbeit. gGmbH, 2023. Geschichte – Das Modellprojekt Inklusive Bildung [online]. Kiel: Deutsches Inklusionszentrum gemeinnützige GmbH [Zugriff am: 01.09.2023]. Verfügbar unter: https://inklusive-bildung.org/de/geschichte

Schön, Ulla-Karin, 2016. User Involvement in Social Work and Education-A Matter of Participation? In: Journal of evidence-informed social work [online]. 13(1), S. 21–33 [Zugriff am: 14.09.2023]. ISSN 2640-8074. Verfügbar unter: doi:10.1080/15433714.2014.939382

Tanner, Denise, Rosemary Littlechild, Joe Duffy und David Hayes, 2015. ‘Making It Real’: Evaluating the Impact of Service User and Carer Involvement in Social Work Education. In: British Journal of Social Work. (47), S. 467–486 [Zugriff am: 14.09.2023]. ISSN 1468-263X. Verfügbar unter: doi:10.1093/bjsw/bcv121

Windesheim University of Applied Sciences, 2023. Master Ervaringsdeskundigheid [online]. Zwolle: Windesheim University of Applied Sciences [Zugriff am: 01.09.2023]. Verfügbar unter: https://www.windesheim.nl/opleidingen/​deeltijd/​master/​master-ervaringsdeskundigheid

6 Literaturhinweise

Dettmann, Marlene-Anne und Katharina Scholz, 2021. Service User Involvement in der Hochschulqualifizierung für Soziale Arbeit. Chancen und Wirkungen. In: die hochschule. (1), S. 56–69

McLaughlin, Hugh, Joseph Duffy, Brendan McKeever und June Sadd, Hrsg., 2018. Service User Involvement in Social Work Education. London: Routledge. ISBN 978-0-367-59279-0

Verfasst von
Prof. Dr. Marlene-Anne Dettmann
Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg
Fakultät Wirtschaft und Soziales/Department Soziale Arbeit
Ökonomie und Management in der Sozialen Arbeit
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Katharina Scholz
M.A.
Wissenschaftliche Mitarbeiterin
Leuphana Universität Lüneburg
Zentrum für Angewandte Gesundheitswissenschaften (ZAG)
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Heike Augustin, Isabella Bauer, Kerstin Borgel, Firedemann Bringt, Maria Budnik u.a.: Kommunale Konfliktbearbeitung. Wochenschau Verlag (Frankfurt am Main) 2024.
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