Sexualaufklärung
Prof. Dr. Sara Blumenthal
veröffentlicht am 01.03.2022
Unter Sexualaufklärung wird ein ein- oder mehrmaliges (Unterrichts-)Gespräch bzw. die Informationsweitergabe zum Themenspektrum menschlicher Sexualität verstanden.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Geschichte der Sexualaufklärung in Deutschland
- 3 Sexualaufklärung in Schulen
- 4 Die Bedeutung fachlich korrekter Begriffe für die Sexualaufklärung
- 5 Kritik am Konzept der Sexualaufklärung
- 6 Quellenangaben
- 7 Literaturhinweise
1 Zusammenfassung
Sexualaufklärung ist ein Aspekt von Sexualerziehung (Sielert 2015, S. 12) und findet in Familien, Kindergärten, sozialpädagogischen Einrichtungen sowie durch Medien statt. Sexualaufklärung (bzw. Sexualkunde) ist in Deutschland seit 1992 auch gesetzlich geregelte Aufgabe von Schulen und wird dort oft im Biologieunterricht behandelt. In die Aus-, Fort- und Weiterbildung pädagogischer Fachkräfte sind die Inhalte von Sexualaufklärung nicht einheitlich inkludiert, sodass die Umsetzung von Sexualaufklärung in Schulen je nach Lehrkraft stark variiert (Blumenthal 2014).
2 Geschichte der Sexualaufklärung in Deutschland
Der Begriff der Sexualaufklärung wurde im Diskurs um sexualitätsbezogene Bildung in Deutschland vor allem in Schriften der Fünfziger- und frühen Sechzigerjahre verwendet (Sager 2015, S. 65). Sexualaufklärung ist damit ein relativ junges Konzept und als Teil von Sexualerziehung auch geprägt durch historische Vorstellungen von Sexualerziehung. Die ab dem 17. Jahrhundert in Europa dominierende Version einer christlichen Sicht auf Sexualität hatte einen repressiven und lustfeindlichen Charakter (Sielert 2015, S. 14). Im 18. Jahrhundert prägten die damaligen Leitwissenschaften Medizin und Psychiatrie Vorstellungen der Wissensvermittlung und Erziehung bezüglich Sexualität – so wurde im Rahmen einer Anti-Onaniekampagne medizinisches „Wissen“ über die Schädlichkeit von Selbstbefriedigung aufgegriffen und in pädagogischen Institutionen verbreitet. Wertkonservative und auch explizit negative Haltungen in Bezug auf sexuelle Diversität, weibliche Sexualität und Selbstbefriedigung prägten vor dem Hintergrund dieser Geschichte des Zusammenspiels von Pädagogik und Sexualität sexualaufklärerische Schriften bis in die 1960er-Jahre (ebd.). Die Eigenheiten von Sexualaufklärung in Deutschland lassen sich außerdem historisch aus einem Konflikt der Zuständigkeiten von Elternhaus und staatlich-schulischer Bildung ableiten (Sielert 2011, S. 28). Während Sexualerziehung in den 1960er-Jahren als Recht der Eltern festgelegt wurde, wurde der schulischen Sexualkunde die aufklärende „Wissensvermittlung“ zugesprochen (ebd.).
3 Sexualaufklärung in Schulen
Mit der Zunahme der gesellschaftlichen Bedeutung des Erziehungsauftrags von Schulen wurde Sexualerziehung neben Sexualkunde oder -aufklärung zum schulischen Auftrag (Sielert 2011, S. 28). Gesetzlich wurde bereits in den 1990er-Jahren festgelegt, dass Sexualaufklärung nun „mehr sein [muss] als nur Wissensvermittlung über biologische Vorgänge und die Technik der Verhütung, sie muss emotional ansprechend sein und die vielfältigen Beziehungsaspekte, Lebensstile, Lebenssituationen und Werthaltungen berücksichtigen“ (BverfG-Urteil in Sielert 2011, S. 28). Sielert kommentiert, dass diese „Aufhebung der Trennung von Erziehung und Aufklärung als Wissensvermittlung“ pädagogisch „ohnehin nicht zu begründen“ war (ebd.). Allerdings überdauert die Vorstellung einer scheinbar neutralen Wissensvermittlung diese Debatte. Dadurch, dass Sexualaufklärung in Schulen auch aktuell primär im Biologieunterricht abgehalten wird, kommt es häufig zu einer einseitig biologischen Ausrichtung des breiten, an der Schnittstelle von Gesellschaft und Individuum/Körper angesiedelten Themenspektrums Sexualität (Leitz und Signerski-Krieger 2018, S. 359).
Themen wie sexuelle Diversität und sexuelle Lust werden im Biologieunterricht oft nicht aufgegriffen (Bode und Heßling in Leitz und Signerski-Krieger 2018, S. 359). Curriculare Inhalte zu Sexualaufklärung umfassen im Biologieunterricht Themen wie die Menstruation, Geschlechtsverkehr und Fortpflanzung sowie die Pubertät. Besonders die curricularen Vorgaben zu Sexualaufklärung werden wenig umgesetzt. Auch variiert die Vorgabe bezüglich der Themen je nach Bundesland. In Niedersachen wurde 2014 beschlossen, die Persönlichkeitsentwicklung aller Jugendlichen unabhängig von ihrer sexuellen und geschlechtlichen Identität zu fördern und geschlechtliche Vielfalt sowie Homo-, Bi-, Trans- und Intersexualität im Unterricht zu besprechen (ebd.). Eine empirische Studie zur Umgestaltung der verwendeten Schulbücher ergibt ein gemischtes Fazit. Zwar haben sich die Inhalte in Richtung sexueller und geschlechtlicher Diversität geöffnet, allerdings wird geschlechtergerechte Sprache nicht konsequent verwendet und die Inhalte sind weiterhin auf den Themenbereich Heterosexualität fokussiert (a.a.O., S. 372).
4 Die Bedeutung fachlich korrekter Begriffe für die Sexualaufklärung
Auch sprachliche Darstellungen biologischer oder medizinischer Zusammenhänge sind nicht frei von Normen. So ist der Begriff Schwangerschaftsverhütung, aber weitaus weniger der Begriff Zeugungsverhütung verbreitet. Die in dem Begriff Schwangerschaftsverhütung bei gleichzeitiger De-Thematisierung von Zeugungsverhütung implizite Normativität, dass eine ungewollte Schwangerschaft, nicht aber explizit eine ungewollte Zeugung vermieden werden kann und soll, rückt die Verantwortung von Mädchen und Frauen für die Steuerung reproduktiver Vorgänge einseitig diskursiv in den Fokus. Auch die verbreitete falsche Benennung des primären weiblichen Geschlechtsorgans, der Vulva als Vagina, hat eine normative Komponente (Sanyal 2009). Die Vulva besteht aus dem Venushügel, den großen Venus- bzw. Schamlippen, den kleinen Venus- bzw. Schamlippen, dem Scheidenvorhof, dem Vorhofschwellkörper, dem Kitzler und den Vorhofdrüsen (Schünke, Schulte und Schumacher 2007, S. 230). Die primären weiblichen Geschlechtsorgane umfassen damit, neben den inneren, auch die äußeren Geschlechtsorgane. Werden mit den inneren Geschlechtsorganen allein die direkt für die Reproduktion relevanten Körperteile in der Sexualaufklärung besprochen und die Vulva und somit auch einige lustbringende Teile der weiblichen Geschlechtsorgane nicht erwähnt oder falsch benannt, engt dies den Blick auf weibliche Sexualität ein. Fortpflanzung ist ein Teilaspekt menschlicher Sexualität – darüber hinaus hat Sexualität auch das Potenzial, Lust zu bereiten und Beziehungen zu gestalten sowie eine insgesamt identitätsstiftende Funktion (Sielert 2015). Die Vulva ist daher ein Teil des weiblichen Körpers, welcher in der Sexualaufklärung korrekt benannt werden sollte.
5 Kritik am Konzept der Sexualaufklärung
Empirische Studien zeigen auf, dass die Inhalte von Sexualaufklärung je nach Haltung des vermittelnden Erwachsenen zu Sexualität stark changieren, nicht den aktuellen Kenntnisstand der Biologie widerspiegeln und teils nicht geschlechtergerecht sind (Blumenthal 2014). Die These, dass Sexualaufklärung in der Praxis unter Umständen eine sehr eingeschränkte Perspektive auf die menschliche Sexualität impliziert, vertreten die SexualpädagogInnen Weidinger und Kostenwein (2021). Sie kritisieren, dass Aufklärungspraxen häufig auf das Thema der Entstehung menschlichen Lebens im Rahmen heterosexuellen Geschlechtsverkehrs Erwachsener reduziert werden. Dieser Themenzuschnitt würde erstens eine der seltensten Formen sexueller Aktivitäten fokussieren und zweitens der sexuellen Entwicklung von Kindern nicht entsprechen (a.a.O., S. 57). Letztlich würden durch eine thematisch auf Erwachsenensexualität und Fortpflanzung eingeschränkte Sexualaufklärung wichtige Fragen vermieden, die Kinder interessieren könnten, wenn sie durch eine breitere sexuelle Bildung (Valtl 2013) die entsprechende Sprache zur Thematisierung relevanter sexueller Themen, wie etwa dem eigenen Körper, zur Verfügung gestellt bekommen würden (ebd.).
6 Quellenangaben
Blumenthal, Sara-Friedericke, 2014. Scham in der schulischen Sexualaufklärung: Eine pädagogische Ethnographie des Gymnasialunterrichts. Wiesbaden: Springer VS. ISBN 978-3-658-06879-0 [Rezension bei socialnet]
Leitz, Stephanie und Jörg Signerski-Krieger, 2018. Sexualität der Vielfalt? Eine empirische Untersuchung niedersächsischer Biologiebücher. In: Zeitschrift für Sexualforschung. 31(4), S. 357–378. ISSN 0932-8114. doi:10.1055/a-0759-4770
Sager, Christin, 2015. Das aufgeklärte Kind: Zur Geschichte der bundesrepublikanischen Sexualaufklärung (1950–2010). Bielefeld: transcript. ISBN 978-3-8376-2950-7 [Rezension bei socialnet]
Sanyal, Mitu, 2009. Vulva: die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts. Berlin: Klaus Wagenbach. ISBN 978-3-8031-3629-9
Schünke, Michael, Erik Schulte und Udo Schumacher, 2007. Prometheus – LernAtlas der Anatomie: Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. 2. überarb. und erw. Auflage. Stuttgart: Thieme. ISBN 978-3-13-139522-1
Sielert, Uwe, 2011. Sexualaufklärung in Deutschland. In: BZGA: Sexualaufklärung international. 2011(2). ISSN 2192-2152
Sielert, Uwe, 2015. Einführung in die Sexualpädagogik. 2. Auflage. Weinheim: Beltz. ISBN 978-3-407-25733-8 [Rezension bei socialnet]
Valtl, Karlheinz, 2013. Sexuelle Bildung: Neues Paradigma einer Sexualpädagogik für alle Lebensalter. In: Renate-Berenike Schmidt und Uwe Sielert, Hrsg. Handbuch Sexualpädagogik und sexuelle Bildung. Weinheim: Beltz Juventa, S. 125–140. ISBN 978-3-7799-0798-5 [Rezension bei socialnet]
Weidinger, Bettina und Wolfgang Kostenwein, 2021. Aufklärung war gestern. In: Viktoria Laimbauer und Paul Scheibelhofer, Hrsg. Sexualität und Pädagogik: Teil 1: Konzepte und Debatten. Innsbruck: Studienverlag, S. 54–65. ISBN 978-3-7065-6156-3
7 Literaturhinweise
Klein, Alexandra und Elisabeth Tuider, 2017. Grundlagen der Sozialen Arbeit: Band 40: Sexualität und Soziale Arbeit. Bielefeld: wbv media. ISBN 978-3-7639-6402-4
Mantey, Dominik, 2017. Sexualerziehung in Wohngruppen der stationären Erziehungshilfe aus Sicht der Jugendlichen. Weinheim: Beltz Juventa. ISBN 978-3-7799-3675-6 [Rezension bei socialnet]
Verfasst von
Prof. Dr. Sara Blumenthal
Universität Klagenfurt
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Es gibt 1 Lexikonartikel von Sara Blumenthal.
Zitiervorschlag
Blumenthal, Sara,
2022.
Sexualaufklärung [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 01.03.2022 [Zugriff am: 12.09.2024].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/7261
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