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Sexualität

Dr. Thorsten Benkel

veröffentlicht am 04.10.2022

Etymologie: lat. sexus Geschlecht

Englisch: sexuality

Sexualität ist eine körperlich-emotionale Handlungsform, bei der es wesentlich um die Generierung von (eigenen bzw. fremden) Lustempfindungen geht. Sie ist ein paradigmatisches Beispiel für soziales Handeln.

Überblick

  1. 1 Zusammenfassung
  2. 2 Soziale Aspekte
  3. 3 Theoretische Bezüge
  4. 4 Weitere Aspekte
  5. 5 Quellenangaben
  6. 6 Literaturhinweise

1 Zusammenfassung

In soziologischer Hinsicht ist Sexualität als Interaktionsform anzusehen, die erhebliche gesellschaftliche Implikationen mit sich führt. Obwohl die medizinisch-biologische Perspektive häufig in den Vordergrund gestellt wird (Fortpflanzung, Schwangerschaft[sverhütung], Sexualkrankheiten, „sexueller Trieb“ usw.), ist Sexualität heutzutage in erster Linie ein soziales Phänomen, das Menschen bewusst für- und miteinander ausagieren, indem sie Sexualität als erotischen Selbstweck, aber auch als Mittel zur Beziehungsintensivierung, als Möglichkeit zum persönlichen Empowerment im Rahmen der eigenen Körperautonomie bzw. als Chance zur experimentellen Auslotung subjektiver Begehrensformen verwenden. Sexualität basiert wesentlich auf etablierten Vorstellungen von Geschlechterkonzepten, die zugleich durch sexuelles Handeln performativ wieder in Frage gestellt werden können. Was konkret als sexuell gelten kann, steht nicht abschließend fest, sondern wird in Aushandlungsprozessen und in Abhängigkeit von kulturellen Umbrüchen immer wieder neu bestimmt. Den in alltäglichen Sexualakten umgesetzten Ausdrucksvarianten stehen theoretische Betrachtungsweisen gegenüber, die Sexualität auf einer abstrakten Ebene analysieren. Besondere Betrachtung finden in der Soziologie darüber hinaus die (gegenwärtig) weniger akzeptierten, aber gleichwohl vorhandenen sexuell aufgeladenen Interessenlagen, die etwa im Bereich der Paraphilien oder der Prostitution ausgespielt werden.

2 Soziale Aspekte

Sexualität ist insofern ein Kulturphänomen, als der Praxis des Handelns eine Vielzahl an Diskursen zur Seite steht, die die Verbindung der Sexualität mit medizinischen, rechtlichen, ästhetisch-unterhaltsamen, ethischen und weiteren Aspekten ausbreitet. Aus einer kritisch-genealogischen Sicht (Foucault 1977) wirft dies die Frage nach dem (Miss-)Verhältnis zwischen dem Handeln und dem Besprechen des Handelns auf: Die „Theorieform“ der Sexualität scheint gegenüber der üblicherweise privaten Praxis auf eigenen Prämissen aufzubauen. Foucault bringt das Interesse am Beichten und Verhandeln von Sexualität mit dem ehedem „wissenschaftlichen“ Erkenntnisinteresse zusammen, das als einziger Modus einer „rationalen“ Thematisierung der Sexualität galt.

Während die idealtypische Variante sexuellen Handelns in der Interaktion unter zwei Partner:innen besteht, die sich in einer körperlichen Vis-à-Vis-Situation unmittelbar begegnen, ist Sexualität hinsichtlich der Anzahl der Partizipierenden prinzipiell nicht beschränkt. Auch der sog. „Solo-Sex“ (Lenz 2005, S. 115) erfüllt die Bedingung der körperlich-emotionalen Involviertheit, wenngleich dabei der Bezug auf andere üblicherweise in der subjektiven Fantasietätigkeit erfolgt; bei der Masturbation liegt insofern also eine parasoziale Bezugnahme vor. Der sexuelle Lustgewinn als solcher kann demnach generell unabhängig von Interaktionshandlungen erfolgen.

Hinsichtlich der Kopplung der körperlichen und kognitiven Facetten der Sexualität ist in der Regel von einem Zusammenlaufen von Motivation und Erregung auszugehen, nachdem das Motivationskonzept die veraltete Vorstellung vom sexuellen „Trieb“ abgelöst hat (Weeks 1989). Indes können Lustzustände (bzw. entsprechende körperliche Ausdrucksformen) sich auch unabhängig vom Bewusstsein einstellen, beispielsweise bei ungewollten Erektionen oder bei dem Phänomen „arousal during rape“. Bewusstsein und körperliche Reaktion sind folglich nicht grundsätzlich aneinandergekoppelt. Kommodifikationen des Sexuellen (wie in der Prostitution oder Pornografie) machen darüber hinaus evident, dass Lust auch strategisch aufgeführt bzw. durch den Einsatz entsprechender Hilfsmittel (wie Potenz- und Lubrikationsmittel) in den körperlichen Ausprägungen fingiert werden kann. Entscheidend ist hier, wie grundsätzlich in der sexuellen Interaktion, die gemeinsam konstruierte Inszenierung, welche – dies ist das entscheidende Merkmal zentraler kommerzieller Angebote – per se keinen direkten Rückschluss auf persönliche Interessenlagen zulässt.

Das Erleben des sexuellen Höhepunkts markiert einen Moment des Kontrollverlustes, der gewissermaßen auf kontrollierten Wegen angesteuert wird; er ist jedoch nicht obligatorisch und stellt keineswegs ein Bedingungsmerkmal „gelingender“ Sexualität dar. Die Kulturleistung des sexuellen Handelns trifft hier auf einen vermeintlich „natürlichen“ Mechanismus; diese, die leidenschaftliche und insofern „irrationale“ Seite der Sexualität, gilt als erstrebenswertes Erlebnismoment. Lust kann auch abseits genitaler Stimulanz und ohne Orgasmus generiert werden, sie lässt sich jedoch schwerlich vom Körper trennen. Spezifische Formen der Kommunikation unter Abwesenden (Chat-Programme, Webcam-Kontakte usw.) liefern zwar nur eingeschränkte sinnliche Verbindungen zwischen den Beteiligten, sie können jedoch gleichsam als Plattform für sexuelle Interaktionen genutzt werden, die somit gewissermaßen auf technischen Wegen die masturbatorische und die kommunikative Komponente verbinden.

Entgegen der Eindrücke, die medial kursierende Inhalte bisweilen implizieren, finden die meisten Sexualakte innerhalb von auf Langfristigkeit angelegten Paarbeziehungen statt (Sigusch 2005, S. 170). Dies ist vor dem Hintergrund der seriellen Monogamie zu interpretieren, d.h. der Tendenz insbesondere junger Menschen, nach einem Beziehungsende zeitnah eine neue Partnerschaft einzugehen. Der Austausch sozialen Kapitals in Form von Zuneigung, Vertrauen, Anziehung, Solidarität usw. ist keine Voraussetzung für Sexualität, die schließlich in Form kurzfristiger Begegnungen auch spontan ausgelebt werden kann; offenkundig begünstigt die partnerschaftliche Intimbeziehung aber die Bereitschaft, Sexualität ausüben zu wollen bzw. zu können. Verschiedene Online-Angebote („Tinder“ usw.) versprechen eine niederschwellige Vermittlung unter Fremden zum Zweck erotischer Begegnungen und schaffen damit nicht nur neue Arenen der Aushandlung, sondern erzeugen zugleich die Notwendigkeit neuer Situationsbestimmungen bzw. adaptierter sozialer Spielregeln. Dies gilt gleichsam für vorrangig sexuell gefärbte Beziehungsmodelle („Freundschaft plus“), die gegenwärtig vor allem im biografischen Abschnitt zwischen dem Verlassen der Herkunfts- und der Gründung einer eigenen Familie populär sind. Empirisch gesehen gelten sexuelle Kontakte innerhalb einer Intimpartnerschaft wenn auch nicht zwingend als lustvoller, so gleichwohl doch als befriedigender (Armstrong et al. 2012) als Erfahrungen in der „hook up culture“ (Wade 2017).

Sexuelle Kompetenzen werden nicht in theoretischer Form tradiert, sondern weitgehend als Fähigkeiten angesehen, die im persönlichen Erleben gewonnen und verfeinert werden. Da der schulische Unterricht, elterliche Aufklärung und die Sexualpädagogik für gewöhnlich nicht in die Praxisebene einführen, sondern sich primär um biologische Effekte ranken bzw. vor gesundheitlichen u.a. Risiken warnen, wird Pornografie mittlerweile von vielen Jugendlichen als diffuses Aufklärungsinstrument verwendet, um sich auf das nach wie vor quasi-mythologisch aufgeladene „erste Mal“ vorzubereiten. Dieses hat seinen Rang als elementare kulturelle Initiation zwar verloren, firmiert aber immer noch als wichtige Statuspassage.

Prozesse der sexuellen Sozialisation verlaufen somit weitgehend über die Medienrezeption bzw. über den Austausch mit Peers. Dabei werden zahlreiche geschlechterbezogene Vorstellungen transportiert, die sukzessive als psychosoziale Konzepte verinnerlicht werden (können), derweil sie tatsächlich in vielen Fällen Aufschluss über normative Images „richtiger“ oder „falscher“ Sexualität geben. In bildungsstarken Schichten herrscht eine größere Toleranz gegenüber sexueller Pluralität vor; hier werden im Vergleich zu anderen Milieus überdies Gender- und andere vermeintlich „gültige“ Narrative eher hinterfragt, welche beispielsweise die „größere“ bzw. „geringere“ Lust der Geschlechter oder die Konstruktion von Images betreffen. Nicht zu übersehen sind indes die – experimentell bestätigten – tatsächlichen Auswirkungen geschlechtsspezifischer Sozialisation, die sich im Feld der Sexualität abzeichnen (Asendorpf 2017; Clark und Hatfield 2003).

Das, was Menschen als Sexualität verstehen, unterliegt sozialen Wandlungsprozessen. Die damit verbundenen Mentalitätsveränderungen gehen auf Innovationen („Pillen-Knick“, Gleichberechtigungsbestrebungen von Frauen usw.), aber auch auf Krisen (wie die Aids-Problematik) und nicht zuletzt auf neue Kommunikationswege (wie die Digitalisierung) zurück. Trotz starker Liberalisierungsschübe, die insbesondere nach 1968 zu verzeichnen waren, ist weiterhin eine heteronormative Perspektive dominant, wenngleich gleichgeschlechtliche Sexualität, Beziehungsmodelle mit mehreren festen Sexualpartner:innen, Fetische u. dgl. heute nicht mehr automatisch zum sozialen Ausschluss führen. Die Vorstellung einer „unbeweglichen“ sexuellen Position im Hinblick auf Partnerwahl, Präferenzen usw. lässt sich längst nicht mehr halten; in diesem Sinne ist das Experimentieren mit neuen Erlebnisformen (nach Sigusch [2005] mit „Neosexualitäten“) weitverbreitet. Der „charmed circle“ (Rubin 1984, S. 153) der sozial als akzeptiert angesehenen Sexualformen wird dadurch sukzessive ausgeweitet. Zugleich gibt es weiterhin „Moralunternehmer“ (Becker 2014, S. 145–157), die gegen die Öffnung des sexuellen Feldes plädieren. Der Diskurs offenbart, dass Sexualität weiterhin nicht losgelöst von Machtbeziehungen gedacht werden kann: Die je spezifische kulturelle Rahmung hat historisch immerzu bestimmt, wer mit wem unter welchen Umständen sexuell verkehren darf (oder nicht).

3 Theoretische Bezüge

Infolge der Ausdifferenzierung der Medizin, die sich dabei subtil mit religiösen und politischen Steuerungsanliegen verbindet, wird Sexualität in der Neuzeit zum wissenschaftlichen (Problem-)Feld. Die Herausbildung der „Menschenwissenschaften“ Soziologie, Psychologie, Pädagogik usw. sorgt um 1900 für zaghafte Annäherungen aus weniger werturteilsstarker Sicht. Insbesondere in der Soziologie taucht Sexualität als randständiges Thema bereits bei den Klassikern der Disziplin auf, etwa bei Max Weber als unspektakuläres Kulturphänomen im Kontext seiner religionssoziologischen Betrachtungen, bei Emile Durkheim im Zusammenhang mit den moralischen Selbstverpflichtungen der Gemeinschaft, und bei Georg Simmel als Motiv der Anziehung, aber auch – in Form der Prostitution – als gesellschaftliches Problem. Zu den frühesten Abhandlungen zählt William I. Thomas’ Sex and Society (1907).

Dem Zivilisationsprozess zufolge, den Norbert Elias (1994) skizziert hat, haben Sublimierungsprozesse, die insbesondere der herrschenden Oberschicht abgeschaut wurden, im Zuge einer langanhaltenden sozio- und psychogenetischen Entwicklung zur Privatisierung der Sexualität geführt. An die Stelle unreglementierter Lust ist in der Gegenwart das Modell der Aushandlungssexualität getreten, bei dem die Beteiligten im Konsens und in Zuneigung zueinander den Ablauf und die Grenzen ihres gemeinsamen Handelns selbst bestimmen. Die Heimlichkeit des Schlafzimmers bezeugt somit einerseits den Wegfall der „aufdringlichen“ Sexualität aus dem öffentlichen Blick, während sie zugleich dem persönlichen Freiheitsinteresse Möglichkeiten eröffnet. Es ist also nicht so sehr lustfeindliche Schamhaftigkeit, die der Zivilisationsprozess etabliert hat, als vielmehr eine Art verantwortliche, der sozialen Ordnung zuträgliche Form sexuellen Handelns.

Helmut Schelskys Soziologie der Sexualität von 1955 plädiert noch für ein moralisches Bewusstsein im Umgang mit der potenziell ordnungsgefährdenden Kraft einer rein lustfixierten Erotik. In der kritischen Theorie wird hingegen als Gegenkonzept hier und da auf das Befreiungspotenzial der Sexualität aus den Zwangsverhältnissen der spätkapitalistischen Gesellschaft verwiesen. Einige Jahrzehnte später versteht Anthony Giddens den Wandel der Intimität (1993), der neben der Sexualität auch familiäre und freundschaftliche Beziehungen involviert, als exemplarischen Beleg für soziale Transformationsprozesse im Zeichen der reflexiven Modernisierung. Bei Niklas Luhmann (1982) ist Sexualität vorrangig ein Element der Liebe und damit primär relevant in Intimbeziehungen. Pierre Bourdieu wiederum greift Sexualität eher am Rande und im Lichte von Geschlechterungleichheiten auf; die „männliche Herrschaft“ (2005) zwinge beiden Geschlechtern bestimmte Verhaltensweisen auf, die auch das Feld des Sexuellen tangieren. Zygmunt Bauman (2003) begreift Sexualität als strategisches Mittel der autonomen Identitätserstellung in einer individualisierten Welt, zugleich jedoch sei sie von einer Konsumhaltung geprägt, bei der das Erlebnis mithin entscheidender ist als die sozialen Begleitumstände. In den Arbeiten von Eva Illouz (z.B. 2013) werden die Konstitutionsbedingungen (und der Zusammenbruch) von partnerschaftlichen Bindungen diskutiert, wobei der Sexualität als Stützpfeiler der Gesellschaftsordnung sowohl die Rolle eines bindenden als auch eines möglicherweise trennenden Einflussfaktors zugesprochen wird. Neuerdings hat Illouz diese Perspektive um die Kritik an einer neoliberalen Unterwanderung der doch eigentlich „freien“ Sexualität erweitert (Illouz und Kaplan 2021). Dies entspricht der kritischen Sexualwissenschaft, in deren Zeichen Volkmar Sigusch in verschiedenen Positionierungen (z.B. 2011) die Instrumentalisierung von Sexualitätsdiskursen für gesellschaftspolitische Zwecke angeprangert hat. Sigusch unterstreicht, ausgehend von der soziohistorischen Entwicklungslinie, die sich um 1968 zugespitzt hat, die noch immer mögliche emanzipatorische Kraft einer nicht-kommerzialisierten Sexualität. Rüdiger Lautmann hat die sexualsoziologische Debatte seit den 1970er-Jahren mit vielen Beiträgen bereichert, u.a. ebenfalls zur Neoliberalisierung und zur Straflust im Kontext „abweichender“ Sexualität, aber auch hinsichtlich der Besonderheiten der (Anti-)Homosexualität. Mit Soziologie der Sexualität (2002) hat er überdies ein Standardwerk vorgelegt, das die kulturellen Grundlagen gegenwärtiger Sexualformen auf weiterhin lesenswerte Weise umfangreich belegt.

Besondere Aufmerksamkeit verdient Sexual Conduct (2005) von John Gagnon und William Simon, die mit diesem Werk einen sexualtheoretischen Entwurf vorgelegt haben, der die gesellschaftlich-kulturelle Dimension und den interaktionistischen Aspekt mit der intrapsychischen Ebene persönlicher Begierden produktiv verbindet. Gemäß des dabei gewählten Skript-Ansatzes lassen sich auch empirische Probleme wie Kulturdifferenzen oder die Ambivalenz von Sinndeutungen im sexuellen Bereich erklären.

4 Weitere Aspekte

In der Rede von der „Pornografisierung der Kultur(Schuegraf und Tillmann 2012) geht es um den kulturellen Umschwung von einer eher kapitalismuskritischen hin zur allenfalls genderkritischen Betrachtung der unverhüllten Bildschirmdarstellung von Sexualität, die somit zwischen Abwehr und Affirmation oszilliert. Die weite Verbreitung von und der leichte Zugang zur Pornografie scheinen indes Erwartungshaltungen zu schüren und unrealistische Ablaufschemata zu verankern; gleichzeitig erfolgt die Pornografierezeption durchaus reflexiv und im nüchternen Abgleich mit realen Gegebenheiten (Schmidt und Matthiesen 2011). Die moralpädagogische Warnung vor der „sexuellen Verwahrlosung“ basiert dementsprechend weitgehend auf Übertreibungen (wie Schetsche und Schmidt 2010 zeigen). Es bleibt abzuwarten, ob die in diesem Zusammenhang verhandelten Freiheits- und Autonomiediskurse langfristig zu einem Anstieg expliziter Selbstdarstellungen führen, wie sie insbesondere im Internet („Onlyfans“ usw.) bereits zu finden sind.

Zu den überdauernden ethischen Codes der Sexualität gehört das Postulat der partnerschaftlichen Treue, ein Privileg, das aber nur mehr für die Dauer der Beziehung gilt, nicht für die Phasen davor und danach. Auch das Gebot der sexuellen Exklusivität kann, wie nahezu alle sexuellen Kontexte, prinzipiell zum Aushandlungsgegenstand der Beteiligten gemacht werden, weil die entscheidende Devise heutzutage die „Verhandlungsmoral“ (Gunther Schmidt) bzw. „Konsensmoral“ (Volkmar Sigusch) der Interaktionspartner ist. Diskurse über „offene Beziehungen“, Polyamorie usw. sind folglich weitverbreitet, ohne dass sich zuverlässige Erkenntnisse über deren tatsächlichen Verbreitungsgrad gewinnen lassen. Überhaupt ist Sexualität aus nachvollziehbaren Gründen ein notorisch schwieriges Erkenntnisfeld für empirische Überprüfungen.

Wissenschaftliche Einsichten in das sexuelle Verhalten werden weitgehend als Annäherungen im Zuge der Beobachtung von Diskursen (und weniger von Handlungen) gewonnen. Das Problem des methodologischen Zugangs zur „echten“ Sexualität – zum Alltagsgeschehen im Schlafzimmer (und überall sonst) – bleibt somit virulent (Benkel 2012). Der sozialwissenschaftlichen Untersuchung von „sexual fields“ (Green 2014) fehlt es bislang an nachhaltigen Instrumenten, um sich ihrem nach wie vor von Intimität, moralischen Vorbehalten, Scham und Privatheitsempfinden geprägten Gegenstand offensiv, ertragreich und zugleich forschungsethisch sauber anzunähern. Dies können die durchaus empirischen Untersuchungen zu Seitenaspekten der Sexualität – wie Cybersex (Dekker 2012), Webcam-Interaktion (Boll 2019), Amateurpornografie (Lewandowski und Siemer 2021), Prostitution (Benkel 2016) – nur bedingt ausgleichen.

Von Sexualität streng genommen abzugrenzen sind die vielfältigen Formen sexualisierter Gewalt. Sie sind unter allen Geschlechtern verbreitet, werden aber überwiegend von Männern gegen Frauen verübt. Dies erfolgt allerdings nicht aufgrund eines durch überwältigende Lust bewirkten Kontrollverlustes, sondern für gewöhnlich aufgrund von psychologischen Problemstellungen, Misogynie, Gruppendynamiken usw. Entsprechenden Übergriffen, deren Dunkelziffer sehr hoch sein dürfte, geht bisweilen Einvernehmlichkeit bei bestimmten gemeinsamen Aktivitäten voraus, die dann aber in Gewalt umschlagen („date rape“). Obwohl sexualisierte Gewalt weithin geächtet ist, ist das Phänomen verbreitet und findet immer neue Ausprägungen, die sich den veränderten Lebensweisen der Menschen perfide anpassen.

Die Prostitution gilt trotz jahrtausendealter Kulturgeschichte und weltweiter Verbreitung unter ganz anderen Vorzeichen ebenfalls als geächtete Praxis. Sie steht üblicherweise unter behördlicher Aufsicht und ist gesellschaftlich eher geduldet als akzeptiert. Folglich werden Angebot und Nachfrage unter klandestinen Bedingungen verhandelt, wobei vor allem der virtuelle Raum als Umschlagplatz gilt. Ungefähr seit 2000 zeichnet sich in Europa eine Entwicklung hin zur Restriktion bzw. zum institutionellen Verbot der „geldgesteuerten Intimkommunikation“ (Ahlemeyer 2002) ab. Entsprechende Normen beseitigen nicht die Prostitution als solche, sondern forcieren ihre Neueinrichtung außerhalb staatlicher Kontrollmöglichkeiten. In Deutschland liefert das Prostituiertenschutzgesetz (in Kraft seit 2017) entsprechende Einschränkungen. Die Corona-Pandemie hat ihr Übriges dazu getan, den Markt sexueller Dienstleistungen erheblich einzuschränken (Benkel 2021). Es offenbart sich allerdings angesichts der korrespondierenden Regularien, dass Interesse und Offerte im Kontext bezahlter Sexualität immerzu informelle Wege zueinander finden.

Die normativen Ansprüche, die sich um das Sexuelle ranken, sind häufig (auch) ideologisch geprägt. Von einer generellen Tendenz zur Liberalisierung, wie sie in den 1970er-Jahren greifbar schien, kann heute nicht mehr ausgegangen werden (Benkel und Lewandowski 2021). Zu den letzten Bastionen der Verrechtlichung der Sexualität zählen Altersbeschränkungen (etwa das Alter des Konsenses – in Deutschland: 14 Jahre) und das Verbot auch beidseitig gewollter sexueller Beziehungen unter Blutsverwandten. Verschiedene andere „Regulierungen des Intimen“ (Lembke 2017) wie z.B. die Verpflichtungen von Gatt:innen zum ehelichen Sex sind obsolet geworden. Die Historie des Sexualrechts belegt anschaulich, dass faktische Verhaltensweisen der Bevölkerung (wie etwa das Übernachten Unverheirateter im selben Raum, die Herausgabe der Pille an Teenager oder homosexuelle Beziehungen) eine verzögerte Anpassung der Vorschriften nach sich zieht. Die Sexualität ist folglich nicht so gestaltet, wie Regelwerke sie skizzieren; ihre reale Gestalt ist vielmehr die Vorlage entsprechender normativer Angleichungen.

5 Quellenangaben

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6 Literaturhinweise

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Verfasst von
Dr. Thorsten Benkel
Akademischer Oberrat für Soziologie
Universität Passau
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