Sexuelle Orientierung
Prof. em. Dr. rer. nat. Udo Rauchfleisch
veröffentlicht am 22.07.2024
Sexuelle Orientierung bezeichnet die Ausrichtung des sexuellen Begehrens.
Überblick
1 Formen
Die häufigsten sexuellen Orientierungen sind
- Heterosexualität: das Begehren richtet sich auf Personen des anderen Geschlechts
- Homosexualität: das Begehren richtet sich auf Personen des gleichen Geschlechts
- Bisexualität: das Begehren richtet sich auf Personen beider Geschlechter
- Pansexualität: das Begehren richtet sich auf andere Menschen, unabhängig von ihrem Geschlecht und ihrer Geschlechtsidentität
- Asexualität: es besteht keine sexuelle Anziehung zu anderen Personen
- Objektsexualität: das Begehren richtet sich auf Objekte, nicht auf Menschen.
Es ist wichtig, zwischen den sexuellen Orientierungen und den Geschlechtsidentitäten (cis und trans*) zu unterscheiden. Innerhalb der Geschlechtsidentitäten finden sich alle sexuellen Orientierungen (Rauchfleisch 2021).
Die Pädophilie wird im Allgemeinen nicht zu den sexuellen Orientierungen gezählt. Sie wird als sexuelle Ausrichtung (oder Präferenz) bezeichnet.
2 Häufigkeit und Ursachen
Bezüglich der Häufigkeit der verschiedenen sexuellen Orientierungen existieren keine verlässlichen Zahlen. Dies hat vor allem zwei Gründe: Zum einen gibt es keine wirklich repräsentativen Erhebungen. Meist werden bei Befragungen in erster Linie Mittelschichtsangehörige erreicht. Zum anderen werden von den Forscher:innen unterschiedliche Kriterien verwendet (Klein 1994): sexuelle Anziehung, Sexualverhalten, sexuelle Fantasien, emotionale Vorliebe, soziale Vorliebe, Lebensstil, Selbstdefinition.
Zweifellos ist die Heterosexualität die häufigste sexuelle Orientierung. In Bezug auf bisexuelle Personen weichen die Schätzungen erheblich voneinander ab. So sind gemäß Kinsey (1948, 1953) fast die Hälfte aller Frauen und Männer bisexuell. Die Studie „National Survey of Sexual Health and Behavior“ (o.J.) spricht demgegenüber von lediglich 2,6 Prozent bisexuellen Männern und 3,6 Prozent bisexuellen Frauen. Als Kriterium für „Bisexualität“ wird im Allgemeinen die Selbstdefinition verwendet, wodurch sich die großen Schwankungen in den Häufigkeitsangaben erklären (Haeberle und Gindorf 1994). Hinsichtlich der Personen mit gleichgeschlechtlicher Orientierung geht man von etwa 10 Prozent aus, wobei eine Dunkelziffer unbekannter Größe besteht. Über die anderen sexuellen Orientierungen sind keine Häufigkeiten bekannt.
In Bezug auf die Ursachen der verschiedenen sexuellen Orientierungen besteht weitgehende Unklarheit. Bei der Entstehung der Hetero- und der Homosexualität spielen vermutlich genetische Faktoren eine Rolle. Bei den übrigen Orientierungen ist darüber nichts bekannt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Frage nach dem „Warum?“ und „Woher?“ nur dann gestellt wird, wenn es um Abweichungen von der Mehrheitsgesellschaft geht (Binswanger 2016; Hutfless 2016; Rauchfleisch 2021). So sind zwar diverse Studien zur Erforschung der Ursachen von Homo- und Bisexualität durchgeführt worden, aber keine Studien zur Erklärung, wie Heterosexualität entsteht. Es erscheint nur das erklärungsbedürftig, was vom Verhalten der Majorität abweicht.
3 Besonderheiten
Die unsere Gesellschaft prägende Heteronormativität führt dazu, dass alle von der Heterosexualität abweichenden Orientierungen mehr oder weniger negativ konnotiert sind und Ablehnung erfahren. Dementsprechend sehen sich Menschen mit von der Heterosexualität abweichenden Orientierungen mit vielfältigen Diskriminierungen konfrontiert. Die Kritik betrifft häufig nicht das Wesen der verschiedenen sexuellen Orientierungen, sondern richtet sich allein gegen die Annahme, es könne eine ernst zu nehmende Orientierung außer der Heterosexualität geben. Dies äußert sich nicht zuletzt darin, dass auf den großen Dating-Portalen im Allgemeinen nur Wahlmöglichkeiten für hetero- oder homosexuelle Kontakte angeboten werden. Menschen mit anderen sexuellen Orientierungen müssen auf spezielle Portale ausweichen.
Prinzipiell stellt sich die Frage, welchen Sinn es überhaupt macht, verschiedene sexuelle Orientierungen zu benennen und in einem Akronym wie LGBTIAQ+, das beliebig erweitert werden könnte, zu nennen. Dafür spricht, dass Menschen sich mit ihren sexuellen Orientierungen benannt wissen möchten. Dies bedeutet zwar noch keine Akzeptanz, zeigt aber immerhin, dass sie in ihrer spezifischen Art des sexuellen Begehrens wahrgenommen werden. Es gibt jedoch auch Argumente gegen die Benennung – und damit Kategorisierung – der verschiedenen sexuellen Orientierungen, da Kategorienbildungen Abgrenzungen und damit häufig auch Ausgrenzungen mit sich bringen. Dies wird offensichtlich bei der Gegenüberstellung von Heterosexualität und den übrigen sexuellen Orientierungen mit der daraus abgeleiteten positiven Bewertung der Heterosexualität und der Entwertung aller anderen Formen des Begehrens (Heteronormativität).
Hinzu kommt, dass Kategorienbildungen den Eindruck vermitteln, die sexuellen Orientierungen seien statische, bestimmte Personen auszeichnende Wesensmerkmale. Tatsächlich aber müssen wir die verschiedenen Arten des sexuellen Begehrens – ebenso wie die Geschlechtsidentitäten – als „dynamisch und prozesshaft“ (Hutfless 2016, S. 101) betrachten, was der Realität der menschlichen Entwicklung wesentlich eher entspricht.
4 Quellenangaben
Binswanger, Ralf, 2016. (K)ein Grund zur Homosexualität. Ein Plädoyer zum Verzicht auf psychogenetische Erklärungsversuche von homosexuellen, heterosexuellen und anderen Orientierungen. In: Journal für Psychoanalyse. 57, S. 6–26. ISSN 1613-4702
Haeberle, Erwin J. und Rolf Gindorf, 1994. Bisexualitäten. Stuttgart: G. Fischer. ISBN 978-3-437-11571-4
Hutfless, Esther, 2016. Wider die Binarität – Psychoanalyse und Queer Theory. In: Journal für Psychoanalyse. 57, S. 99–115. ISSN 1613-4702
Kinsey, Alfred C., 1954 [1953]. Das sexuelle Verhalten der Frau. Frankfurt/M: S. Fischer
Kinsey, Alfred C., 1955 [1948]. Das sexuelle Verhalten des Mannes. Frankfurt/M: S. Fischer
Klein, Fritz, 1994. The Bisexual Option. New York: Routledge. ISBN 978-1-56023-033-5
Center for Sexual Health Promotion, [ohne Datum]. National Survey of Sexual Health and Behavior. Indiana University Bloomington
Rauchfleisch, Udo, 2021. Sexuelle Orientierungen und Geschlechtsidentitäten im Kindes- und Jugendalter. Kohlhammer, Stuttgart. ISBN 978-3-17-039210-6 [Rezension bei socialnet]
Verfasst von
Prof. em. Dr. rer. nat. Udo Rauchfleisch
Dipl.-Psych., Psychoanalytiker (DPG, DGPT). Ehem. Leitender Psychologe Psychiatrische Universitätspoliklinik Basel. In privater psychotherapeutischer Praxis.
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Es gibt 10 Lexikonartikel von Udo Rauchfleisch.
Zitiervorschlag
Rauchfleisch, Udo,
2024.
Sexuelle Orientierung [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 22.07.2024 [Zugriff am: 11.09.2024].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/28489
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