Sonderpädagogik
Prof. Dr. Désirée Laubenstein
veröffentlicht am 08.04.2019
Bei der Sonderpädagogik handelt es sich um eine wissenschaftliche Disziplin im Bereich der Pädagogik, die sich explizit um die Erziehung, Bildung und Förderung von Menschen mit einer Behinderung bemüht (vgl. international den Terminus „special education“). Hierbei werden sowohl präventive, als auch interventiv unterstützende Maßnahmen verfolgt, um Erziehung und Bildung unter erschwerten personalen und sozialen Bedingungen zu ermöglichen.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Behinderungsspezifische Schwerpunkte
- 3 Synonyme Begriffe
- 4 Aktuelle Entwicklung und Inklusionspädagogik
- 5 Kritische Betrachtung des Begriffs Sonderpädagogik
- 6 Quellenangaben
- 7 Literaturhinweise
- 8 Informationen im Internet
1 Zusammenfassung
Unter der wissenschaftlichen Disziplin Sonderpädagogik subsummieren sich unterschiedliche Synonyma, die in Abhängigkeit von ihren jeweiligen sozialtheoretischen Kontexten gebraucht werden. In neuerer Zeit kommt der Begriff Inklusionspädagogik hinzu, der innerhalb der Sonderpädagogik kontrovers diskutiert wird.
2 Behinderungsspezifische Schwerpunkte
Behinderungen umfassen die Bereiche
- Sehen (Blinden- und Sehbehindertenpädagogik),
- Hören und Kommunikation (Hörgeschädigten- und Gehörlosenpädadagogik),
- Sprache (Sprachbehindertenpädagogik),
- geistige Entwicklung (Geistigbehindertenpädagogik),
- körperliche und motorische Entwicklung (Körperbehindertenpädagogik),
- Lernen (Lernbehindertenpädagogik) sowie
- emotionale und soziale Entwicklung (Pädagogik bei Verhaltensstörungen, Erziehungshilfe)
(stellvertretend für NRW: MSW 2016).
Im schulischen Kontext spricht man hierbei von sonderpädagogischen Förderbedarfen, die die genannten Bereiche umfassen (Ständiges Sekretariat der KMK 1996–2000; zum Begriff der sonderpädagogischen Förderung Laubenstein 2017).
3 Synonyme Begriffe
Eng verwandt mit dem Begriff der Sonderpädagogik sind auch die Begriffe Heilpädagogik, Behindertenpädagogik oder Rehabilitationspädagogik, die oftmals als Synonyma verwendet werden (Antor und Bleidick 2001; Bundschuh et al. 2007). Die entsprechende Begriffsverwendung verweist auf das sich in einer bestimmten Tradition herauskristallisierte dahinter liegende theoretische Verständnis und umfasst die jeweils unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Konnotationen (zu den historischen Entwicklungslinien der Heil- und Sonderpädagogik vgl. Opp et al. 2005, Kapitel 1).
Der Begriff Heilpädagogik steht oftmals irreführend in einem medizinisch-therapeutischen Kontext, wobei dieser aufgrund des Präfix „Heil“ einen auf Behinderung rekurrierenden uneinlösbaren Heilsanspruch suggeriert, der von seiner ursprünglichen Verwendung her nicht enthalten war. Vielmehr implizierten seine Begründer Jan-Daniel Georgens (1823-1886) und Heinrich Marianus Deinhardt (1821-1880) mit ihrem Begriff „Heilpädagogik“ eine ganzheitliche Betrachtung des Menschen mit all seinen Erschwernissen, Einschränkungen, aber auch Ressourcen.
Der Begriff Behindertenpädagogik wurde nach dem zweiten Weltkrieg eingeführt und orientiert sich an seiner sozialrechtlichen Verbreitung von Behinderung (z.B. Bundessozialhilfegesetz 1961).
Der Begriff Rehabilitationspädagogik, der in Anlehnung an die internationale Terminologie insbesondere in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik eingeführt und nach dem Mauerfall 1989 an einigen Ausbildungsstätten der neuen Bundesländer übernommen (z.B. Technische Universität Dresden) oder in den alten Bundesländern neu eingeführt wurde (z.B. Humboldt Universität zu Berlin; Technische Universität Dortmund), umfasst den Schwerpunkt der Eingliederungshilfe für behinderte und von Behinderung bedrohter Menschen, an der die Pädagogik ihren Anteil hat und zielt primär auf die Sozialgesetzbücher (insbesondere SGB VIII: Kinder- und Jugendhilfe, SGB IX: Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen und SGB XII: Sozialhilfe). Mit seinem eher technokratischen Verständnis von Behinderung im Sinne des Menschen als Objekt der Hilfe, handelt es sich beim Begriff der Rehabilitationspädagogik nicht um einen originär pädagogischen.
4 Aktuelle Entwicklung und Inklusionspädagogik
Seit der Ratifizierung des „Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ der Vereinten Nationen durch die Bundesrepublik Deutschland am 30. März 2007 (UN-Behindertenrechtskonvention, UN-BRK; BGBl. 2008 II S. 1419, 1420) lässt sich im wissenschaftlichen Diskurs ebenfalls die Bezeichnung Inklusionspädagogik finden, die als Profession an unterschiedlichen Studienstätten angeboten wird (u.a. Technische Universität Chemnitz, Justus-Liebig-Universität Gießen).
Inklusion in seinem weiten wissenschaftstheoretischen Begriffsverständnis grenzt sich vom Bereich der Sonderpädagogik mit Fokussierung auf behinderungsspezifische Phänomene ab und berücksichtigt alle Differenzlinien und Heterogenitätsdimensionen von Menschen, wie beispielsweise Geschlecht, Religion, Ethnie, soziale Lebenslagen oder eben auch Behinderung.
Diesem Anspruch werden die Studiengänge in unterschiedlichem Umfang gerecht. Nach wie vor fokussieren diese sehr stark die Differenzlinie Behinderung (z.B. Technische Universität Darmstadt, Universität Potsdam), sodass hier von einem engen Inklusionsverständnis gesprochen werden kann (Lindmeier und Lütje-Klose 2015).
5 Kritische Betrachtung des Begriffs Sonderpädagogik
Schon mit seiner Einführung, aber explizit in neuerer Zeit wird der Begriff der Sonderpädagogik vermehrt kritisiert, da er die Notwendigkeit einer „besonderen“ Pädagogik bei Menschen mit Behinderung zu antizipieren scheint, die der Gefahr unterliegt, diesen Personenkreis gleichsam aus dem gesellschaftlichen Teilhabesystem (in allen Bereichen, wie z.B. frühkindliche Bildung, Schule oder Arbeit) auszuschließen oder zu „besondern“. In der Tat verknüpfte die Sonderpädagogik der Vergangenheit besondere Ansprüche und besondere Förderbedarfe mit der Notwendigkeit eines besonderen Förderorts (Sonderschule), wodurch sich auch das Sonderschulwesen der Nachkriegszeit ausdifferenzierte. Dies allerdings ist mit dem Begriff der „Sonderpädagogik“ im heutigen Verständnis nicht gemeint, geht es der Disziplin vielmehr darum, auf die besonderen Unterstützungsnotwendigkeiten von Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen hinzuweisen, um gesellschaftliche Teilhabe (im Sinne der UN-BRK) zu ermöglichen und so den Personenkreis mit besonderem Unterstützungsbedarf aus ihrer gesellschaftlichen Randstellung (Marginalisierung) herauszuführen.
Nicht die Behinderung als Sonderanthropologie des Menschen (der Mensch ist behindert) steht im Mittelpunkt pädagogischer Bemühungen, sondern ihre Auswirkungen auf Bildungs- und Erziehungsprozesse sowie gesellschaftliche Teilhabe (der Mensch wird behindert), die es durch „besondere“ Unterstützung zu vermeiden, zu minimieren, zu kompensieren oder zu überwinden gilt. Diesem Sachverhalt trägt bereits der Deutsche Bildungsrat Rechnung, wenn er 1973 formuliert: „Als behindert im erziehungswissenschaftlichen Sinne gelten Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die in ihrem Lernen, im sozialen Verhalten, in der sprachlichen Kommunikation oder in den psychomotorischen Fähigkeiten so weit beeinträchtigt sind, dass ihre Teilhabe am Leben der Gesellschaft erschwert ist. Deshalb bedürfen sie besonderer pädagogischer Förderung“ (Deutscher Bildungsrat 1974, S. 32).
Hier eröffnet sich das Feld der Profession der Sonderpädagogin/des Sonderpädagogen (zur Präzisierung sonderpädagogischer Berufsfelder siehe Opp et al. 2005, Kapitel 4).
6 Quellenangaben
Antor, Georg und Ulrich Bleidick, Hrsg., 2001. Handlexikon der Behindertenpädagogik. Schlüsselbegriffe aus Theorie und Praxis. Stuttgart: Kohlhammer. ISBN 978-3-17-015553-4
Bundschuh, Konrad, Ulrich Heimlich und Rudi Krawitz, Hrsg., 2007. Wörterbuch Heilpädagogik. 3. Auflage. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. ISBN 978-3-8252-8349-0
Deutscher Bildungsrat, 1974. Empfehlungen der Bildungskommission: Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher. Stuttgart: Klett. ISBN 978-3-12-922340-6
Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie zu dem Fakultativprotokoll vom 13. Dezember 2006 zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BGBl. 2008 II S. 1419, 1420) vom 21. Dezember 2008. Verfügbar unter: http://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl&jumpTo=bgbl208s1419.pdf
Laubenstein, Désirée, 2017. Sonderpädagogische Förderung. In: Manfred Blohm, Andreas Brenne und Sara Hornäk, Hrsg. Irgendwie anders: Inklusionsaspekte in den künstlerischen Fächern und der ästhetischen Bildung. Hannover: Fabrico, S. 41–44. ISBN 978-3-946320-13-5
Lindmeier, Christian und Birgit Lütje-Klose, 2015. Inklusion als Querschnittsaufgabe in der Erziehungswissenschaft. In: Erziehungswissenschaft. 26(51), S. 7–16. ISSN 0938-5363
Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (MSW), 2016. Sonderpädagogische Förderschwerpunkte in NRW [online]. Ein Blick aus der Wissenschaft in die Praxis. Düsseldorf: Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen [Zugriff am: 18.03.2019]. Verfügbar unter: http://broschüren.nrw/sonderpaedagogische-foerderschwerpunkte/home/#!/Home
Opp, Günther, Wolfram Kulig und Kirsten Puhr, 2005. Einführung in die Sonderpädagogik. Wiesbaden: VS. ISBN 978-3-8252-8279-0 [Rezension bei socialnet]
Ständiges Sekretariat der KMK, 1996–2000. Empfehlungen zu den einzelnen Förderschwerpunkten 1996–2000 [online]. Berlin: Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland [Zugriff am 18.03.2019]. Verfügbar unter: https://www.kmk.org/dokumentation-statistik/​beschluesse-und-veroeffentlichungen/​bildung-schule/​allgemeine-bildung.html#c1315
7 Literaturhinweise
Ellger-Rüttgardt, Sieglind, 2008. Geschichte der Sonderpädagogik: eine Einführung. München: Ernst Reinhardt. ISBN 978-3-497-01932-8
Hedderich, Ingeborg, Gottfried Biewer, Judith Hollenweger und Reinhard Markowetz, Hrsg., 2016. Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. ISBN 978-3-8252-8643-9 [Rezension bei socialnet]
Werning, Rolf, Rolf Balgo, Winfried Palmowski und Martin Sassenroth, 2012. Sonderpädagogik: Lernen, Verhalten, Sprache, Bewegung und Wahrnehmung. 2. aktualisierte Auflage. München: Oldenbourg. ISBN 978-3-486-59110-1
8 Informationen im Internet
- bidok – die digitale Bibliothek zu Behinderung und Inklusion
- Kultusministerkonferenz: Dokumentation und Statistik
- Verband Sonderpädagogik e.V. (vds)
- Zeitschrift für Inklusion-online.net
Verfasst von
Prof. Dr. Désirée Laubenstein
Universität Paderborn
Sonderpädagogische Förderung und Inklusion mit dem Förderschwerpunkt Emotionale und Soziale Entwicklung
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Es gibt 1 Lexikonartikel von Désirée Laubenstein.
Zitiervorschlag
Laubenstein, Désirée,
2019.
Sonderpädagogik [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 08.04.2019 [Zugriff am: 19.02.2025].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/935
Link zur jeweils aktuellsten Version: https://www.socialnet.de/lexikon/Sonderpaedagogik
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