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Sozialarbeitsforschung

Prof. Dr. phil. Sylvie Johner-Kobi, Prof. Dr. phil. Sigrid Haunberger

veröffentlicht am 20.03.2025

Englisch: Social Work Research

Sozialarbeitsforschung/​Social Work Research erarbeitet Grundlagen- und Problembearbeitungswissen und dient der Theoriebildung in Sozialer Arbeit. Sie basiert auf der Werthaltung der Förderung von Chancengleichheit und sozialer Gerechtigkeit.

Überblick

  1. 1 Zusammenfassung
  2. 2 Deutsche und englische Begriffsverwendung
  3. 3 Zum Begriff der Sozialarbeitsforschung
  4. 4 Merkmale von Sozialarbeitsforschung
    1. 4.1 Ziel
    2. 4.2 Praxisorientiert und anwendungsorientiert
    3. 4.3 Interdisziplinarität
    4. 4.4 Hohe Bedeutung von Evaluationen
    5. 4.5 Einbezug von Adressat:innen in die Forschung
  5. 5 Herausforderungen von Sozialarbeitsforschung
    1. 5.1 Eingebundensein in gesellschaftliche Rahmenbedingungen
    2. 5.2 Wer darf forschen?
    3. 5.3 Ethische Verantwortung
    4. 5.4 Herausfordernder Zugang zum Feld
    5. 5.5 Theoriebezüge beim interdisziplinären Forschen
    6. 5.6 Wirkungen von Interventionen in Kontexte eingebettet
    7. 5.7 Theorie-Praxis-Gap
  6. 6 Quellenangaben

1 Zusammenfassung

Sozialarbeitsforschung kann verstanden werden als Sozialforschung zum Gegenstand Sozialer Arbeit. Der Begriff „Sozialarbeitsforschung“ wird im deutschsprachigen Raum deutlich seltener verwendet als „Social Work Research“ im englischsprachigen Raum. Sie zeichnet sich insbesondere durch eine hohe Praxis- und Anwendungsorientierung, interdisziplinäre Ansätze, eine hohe Bedeutung von Evaluationen und meist auch durch den Einbezug von Adressat:innen (in unterschiedlicher Intensität) aus. Herausforderungen von Sozialarbeitsforschung zeigen sich darin, dass Soziale Arbeit eingebunden ist in gesellschaftliche Rahmenbedingungen (politische Rahmenbedingungen, gesetzliche Regelungen, finanzielle Restriktionen) und institutionelle Vorgaben. Dies hat direkte Auswirkungen auf die Sozialarbeitsforschung, z.B., indem häufig wenig finanzielle Mittel für Forschung zur Verfügung stehen. Herausforderungen zeigen sich zudem in der Frage, wer forschen darf (nur die Hochschule, Forschende und Praktiker:innen gemeinsam oder vor allem die Adressat:innen?). Sozialarbeitsforschung hat außerdem eine hohe ethische Verantwortung, insbesondere aufgrund der Tatsache, dass sie es häufig mit vulnerablen Gruppen zu tun hat, und die Ergebnisse von Sozialarbeitsforschung auch negativen Einfluss auf die Praxis haben können. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn aufgrund von Evaluationsergebnissen Projekte und Programme nicht weitergeführt werden. Sozialarbeitsforschung hat es vielfach mit einem erschwerten Zugang zum Forschungsfeld zu tun. Da häufig interdisziplinär gearbeitet wird, ergeben sich in der Sozialarbeitsforschung heterogene Theoriebezüge. Zudem zeichnen sich Interventionen in der Sozialen Arbeit durch einen hohen Komplexitätsgrad aus, was Auswirkungen auf die Wirkungsforschung hat. Eine weitere Herausforderung ist der Einbezug von wissenschaftlichem Wissen in die Praxis (Theorie-Praxis-Gap). Gerade die genannten Punkte machen jedoch deutlich, dass Sozialarbeitsforschung dazu beitragen kann, das Wissen über soziale Probleme und deren Bewältigung zu erweitern und Profession sowie Disziplin der Sozialen Arbeit weiterzubringen.

2 Deutsche und englische Begriffsverwendung

„Sozialarbeitsforschung“ wird im deutschsprachigen Raum als Begriff eher selten, und wenn eher in Publikationen älteren Datums, verwendet. Ein Beispiel hierfür ist die forschungsmethodische Einführung „Sozialarbeitsforschung für Studium und Praxis“ von Steinert und Thiele aus dem Jahr 2008 (Steinert und Thiele 2008). Auch in den beiden großen Datenbanken, die für die Soziale Arbeit relevante Literatur enthalten, zeigt sich die unterschiedliche Bedeutung der Begrifflichkeiten: In der deutschsprachigen Datenbank „DZI SoLit“ (Herausgeberin: Deutsches Zentralinstitut für soziale Fragen) gibt es nur 27 Treffer mit dem Begriff „Sozialarbeitsforschung“ im Titel. In den „Social Services Abstracts“ sind es 689 Treffer zu „Social Work Research“ (Stand der Recherche: 12.08.2024). Doch auch im deutschsprachigen Raum finden sich viele Artikel und Werke zu Forschung in der Sozialen Arbeit, auch wenn der Begriff „Sozialarbeitsforschung“ nicht verwendet wird. Unabhängig davon, welcher Begriff nun genau genutzt wird, hat im deutschsprachigen Raum die „Wende zur empirischen Forschung“ (Gredig und Schnurr 2012, S. 1) und die damit verbundene Methodendiskussion in der Sozialen Arbeit allerdings erst später eingesetzt als im englischsprachigen Raum, d.h. mit der Verankerung von Sozialarbeit und Sozialpädagogik an Universitäten und Fachhochschulen in den 1970er-Jahren (Gredig und Schnurr 2012, S. 2), bzw. in der Schweiz seit der Gründung der Fachhochschulen Ende der 1990er-Jahre (Studiengänge zur Sozialpädagogik gab es im universitären Kontext bereits seit den 1970er-Jahren). Seit diesem Zeitpunkt sind eine zunehmende Forschungstätigkeit und vermehrte methodische Reflexion zu Forschung in der Sozialen Arbeit festzustellen.

3 Zum Begriff der Sozialarbeitsforschung

Steinert, die eines der ersten deutschsprachigen Methodenbücher zu „Sozialarbeitsforschung“ geschrieben hat, definiert sie ganz allgemein als „Sozialforschung, die auf den Gegenstand Sozialer Arbeit in Wissenschaft und Praxis bezogen ist“ (Steinert 2008, S. 32). Sozialarbeitsforschung bearbeite „praxisnahe“ Fragestellungen und sei deshalb als „praxisorientierte Forschung“ zu bezeichnen. Steinert schließt allerdings die grundlagenorientierte Forschung nicht aus. Gemäß Steinert (2008, S. 28) unterscheidet sich Sozialarbeitsforschung von sozialwissenschaftlicher Forschung anderer Disziplinen durch ihren „speziellen Gegenstandsbezug und ihre starke Praxisorientierung“.

Die Definition von „Sozialarbeitsforschung“, wie sie Steinert vorschlägt, ist etwas weiter gefasst als die im Lexikon aufgeführte Praxisforschung, die sich als „Forschung in der und für die Praxis der Sozialen Arbeit“ versteht.

4 Merkmale von Sozialarbeitsforschung

Die Hauptunterschiede von Sozialarbeitsforschung zu Forschung in der Soziologie, der Psychologie, den Erziehungswissenschaften oder der Ethnologie liegen in ihren Zielen, in ihrer Praxis- und Anwendungsorientierung, im häufig interdisziplinären Vorgehen, in der Wichtigkeit von Evaluationen sowie im Einbezug von Adressat:innen der Sozialen Arbeit in Forschungs- und Entwicklungsprojekte (user involvement).

4.1 Ziel

Sozialarbeitsforschung hat vier Hauptziele:

  1. Erarbeitung von Grundlagenwissen: Sie beschreibt und erklärt gesellschaftliche Herausforderungen und soziale Probleme, wie beispielsweise Armut, Gewalt und Migration sowie die Problem- und Lebenswelten von Adressat:innen der Sozialen Arbeit. Gemäss Swissuniversities, der Dachorganisation der Schweizer Fachhochschulen (Swissuniversities 2014, S. 26), geht es bei diesem ersten Ziel um die Erarbeitung von Grundlagenwissen.
  2. Generierung von Problembearbeitungswissen: Die kontinuierliche Verbesserung sozialarbeiterischen Handelns erfordert fundierte Evaluationen von Interventionen und Programmen. Durch die Analyse unterschiedlicher Methoden sowie der Strukturen und Systeme des Sozial- und Bildungswesens lassen sich Stärken und Schwächen identifizieren. Dies ermöglicht gezielte Optimierungen. Dabei ist es essenziell, die gesellschaftliche und institutionelle Einbettung der Handlungsfelder der Sozialen Arbeit zu berücksichtigen.
  3. Grundlagen für Theoriebildung: Forschung in der Sozialen Arbeit soll dazu beitragen, „Soziale Arbeit als eigenständige Disziplin zu etablieren“ (Swissuniversities 2014, S. 26).
  4. Förderung sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit: Gemäß der seit 2014 existierenden European Social Work Association ESWRA (2022) soll Sozialarbeitsforschung auch zu einer chancengerechteren Gesellschaft beitragen (to promote just an equitable societies).

4.2 Praxisorientiert und anwendungsorientiert

Sozialarbeitsforschung geht mehrheitlich von den Praxisproblemen und Fragestellungen der Sozialen Arbeit aus. Sie orientiert sich an den Bedürfnissen der Praktiker:innen sowie der Adressat:innen der Sozialen Arbeit. Diese Praxisorientierung bedeutet allerdings nicht, dass nicht auch Studien möglich sind, die von Forscher:innenseite initiiert wurden und eher grundlagenorientiert ausgestaltet sind.

Sozialarbeitsforschung ist anwendungsorientiert, d.h. ihre Ergebnisse fließen in die Praxis ein (wie diese geschieht, ist aber nur beschränkt von den Forscher:innen beeinflussbar) und zielen darauf ab, Sozialarbeitende zu unterstützen und Grundlagen für sozialpolitische Entscheidungen zu generieren. Mehr als reguläre Grundlagenforschung schließen anwendungsorientierte Forschungsprojekte die Beforschten mit ein. Wie intensiv die Beteiligung ist, hängt vom jeweiligen Forschungsprojekt und den beteiligten Forschenden ab.

4.3 Interdisziplinarität

Sozialarbeitsforschende kommen aktuell aus verschiedenen Disziplinen. Vertreter:innen aus Psychologie, Soziologie, Erziehungs-, Politik- und Geschichtswissenschaft sowie vermehrt auch Personen mit einem Master in Sozialer Arbeit forschen interdisziplinär zu Themen der Sozialen Arbeit. Dies hat zur Folge, dass Forschungsteams zuerst eine „gemeinsame Sprache“ finden müssen, was aufwändig ist. Auch die „Theoriebestände“ sind durch das interdisziplinäre Vorgehen sehr heterogen und Forschungsprojekte beziehen sich nicht ausschließlich auf Theorien und Konzepte der Sozialen Arbeit.

Sozialarbeitsforschung nutzt aber dieselben Forschungszugänge und Erhebungs- sowie Auswertungsmethoden wie andere Disziplinen auch. Eine trennscharfe Abgrenzung zu diesen steht bis heute aus. Auch Evaluationen, die in der Sozialarbeitsforschung einen großen Anteil ausmachen, nutzen das Repertoire an sozialwissenschaftlichen Forschungsmethoden.

4.4 Hohe Bedeutung von Evaluationen

Evaluationen sind das Kerngeschäft von Sozialarbeitsforschung, sagte im Jahr 2008 Allen Rubin, der Verfasser zahlreicher Methodenbücher zu Sozialarbeitsforschung im Rahmen eines Interviews: „In fact, in my book, I make the point that in its broadest definition it’s hard to distinguish evaluation research from just social work research“ (Singer 2008). Damit zeigt er die wichtige Bedeutung, die Evaluationen in der Sozialen Arbeit einnehmen, sei es, um Bedarfe zu ermitteln, um Strukturen oder Prozesse zu evaluieren oder um Wirkungen von Interventionen und Programmen sichtbar zu machen.

In Zusammenhang mit Evaluationen steht auch die evidenzbasierte Soziale Arbeit, die darauf abzielt, soziale Dienstleistungen und Interventionen auf der Grundlage der bestmöglichen verfügbaren wissenschaftlichen Evidenz zu gestalten und durchzuführen. Dabei geht es darum, Methoden und Praktiken in der Sozialen Arbeit zu verwenden, die durch empirische Forschung nachgewiesen wurden, um effektiv zu sein. In den USA erstellt die Campbell Collaboration systematische Reviews zu verschiedenen sozialwissenschaftlichen Studien, die sich vielfach auf Interventionen der Sozialen Arbeit beziehen (Littell und White 2018) und stellt damit Wissen für eine evidenzbasierte Soziale Arbeit zur Verfügung. Die Diskussion um evidenzbasierte Soziale Arbeit ist im deutschsprachigen Raum mit einer Publikation im Jahr 2007 von Sommerfeld und Hüttemann (2007) initiiert worden, nun finden sich aber nicht mehr viele Publikationen zum Thema (Hüttemann 2020, S. 28). Dies liegt insbesondere an einem zu einfachen Verständnis des Wissenstransfers von wissenschaftlichem Wissen in die Praxis (Hüttemann 2020, S. 35). Gemäß Hüttemann (2020) sind allerdings die mit der evidenzbasierten Sozialen Arbeit aufgeworfenen Fragen auch heute noch bedeutsam, z.B. die Frage nach der Relevanz wissenschaftlicher Erkenntnisse für die Praxis und die Frage, welches Wissen sich als relevantes Wissen für die Praxis qualifiziert.

4.5 Einbezug von Adressat:innen in die Forschung

Forschende arbeiten mit privaten und öffentlichen Organisationen des Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswesens zusammen (Swissuniversities 2014, S. 26). Zunehmend wird auch der Einbezug von Adressat:innen der Sozialen Arbeit in Forschungsprojekte in Zusammenhang mit dem „user involvement“ Ansatz (Chiapparini und Eicher 2019) thematisiert. Damit verbunden ist die Einsicht, dass erst durch die Perspektive von betroffenen Personen und Organisationen Lebenslagen besser verstanden werden können. In der Typologie von Chiapparini und Eicher (2019, S. 9) sind bei Forschungsprojekten drei Stufen von Partizipation möglich:

  1. Adressat:innen nehmen eine Beratungsfunktion ein (user involvement research),
  2. Adressat:innen arbeiten partnerschaftlich mit Forschenden zusammen, was Mitentscheidung beinhaltet (collaborative research) oder
  3. Adressat:innen führen Studien selbstständig durch (user controlled research).

5 Herausforderungen von Sozialarbeitsforschung

5.1 Eingebundensein in gesellschaftliche Rahmenbedingungen

Sozialarbeitsforschung ist – wie Soziale Arbeit als Profession – in gesellschaftliche Rahmenbedingungen eingebunden. Vier dieser Rahmenbedingungen sind insbesondere von Bedeutung:

  1. Finanzielle Restriktionen: Finanzielle Restriktionen, die häufig für die Soziale Arbeit gelten, haben auch Auswirkungen auf die Forschung. Beispielsweise, wenn eine Institution mit wenig finanziellen Mitteln eine Hochschule für ein Evaluationsprojekt anfragt. Sozialarbeitsforschung findet deshalb häufig unter finanziell eher schwierigen Bedingungen statt.
  2. Politische Rahmenbedingungen: Soziale Arbeit (und damit auch Sozialarbeitsforschung) ist politischen Entwicklungen unterworfen. Diese bestimmen vielfach, welche Themen in der Sozialarbeitsforschung prioritär bearbeitet und für welche Themen finanzielle Ressourcen gesprochen werden.
  3. Gesetzliche Rahmenbedingungen: Gesetze regeln viele Handlungsfelder der Sozialen Arbeit, z.B., wie Sozialleistungen vergeben werden oder welche Handlungsbefugnisse eine Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde hat. Diese gesetzlichen Rahmenbedingungen spielen deshalb auch in der Sozialarbeitsforschung eine wichtige Rolle und müssen zwingend mitgedacht werden.
  4. Institutionelle Rahmenbedingungen: Soziale Arbeit findet häufig innerhalb von Institutionen wie Abteilungen für Soziales oder Nichtprofitorganisationen statt. Standards und Richtlinien beeinflussen die Arbeit von Sozialarbeiter:innen. Folglich ist auch Sozialarbeitsforschung in diese institutionellen Rahmenbedingungen eingebunden.

5.2 Wer darf forschen?

In der Frage, wer Sozialarbeitsforschung betreiben darf und wie dabei die Rollen von Forschenden und in der Praxis tätigen Sozialarbeitenden sein sollen, sind im wissenschaftlichen Diskurs unterschiedliche Meinungen vorhanden. Grob sind folgende drei Positionen auszumachen:

  1. Handlungsentlastende Forschung: Um wissenschaftliche Erkenntnisse zu produzieren, ist Forschung darauf angewiesen, handlungsentlastend zu sein, weshalb beispielsweise Steinert (2008, S. 30) dezidiert der Meinung ist, dass die wissenschaftliche Bearbeitung von Problemen losgelöst von Handlungsdruck sein sollte und von Forschenden und nicht von Personen, die in der Praxis der Sozialen Arbeit tätig sind, bearbeitet werden sollte.
  2. Forschung und Praxis im Dialog: Bei diesem Typus ist Forschung ein gemeinsamer Prozess zwischen Forschung und Praxis. Die Praxis ist an verschiedenen Phasen des Forschungsprojektes beteiligt, z.B. bei der Formulierung der Fragestellung oder der Diskussion von Schlussberichten (z.B. Ganzevles et al. 2022).
  3. User Involvement: Forschung, bei welcher Adressat:innen der Sozialen Arbeit, wie bereits erwähnt, in unterschiedlicher Intensität an der Forschung beteiligt sind, zum Beispiel in einer beratenden Funktion, als gleichberechtigte Forschungspartner:innen oder selbstorganisiert Forschende (Chiapparini und Eicher 2019, S. 9). Mit einem zunehmenden user involvement weichen sich die Grenzen zwischen wissenschaftlichem und praktischem Wissen zunehmend auf.

5.3 Ethische Verantwortung

Sozialarbeitsforschung hat in zweierlei Hinsicht eine große ethische Verantwortung: Einerseits hat sie es oft mit vulnerablen Gruppen zu tun, bei welchen besonders darauf geachtet werden muss, dass die Teilnahme an einer Studie freiwillig ist und die Forschungsteilnehmenden durch Forschung nicht zusätzlich stigmatisiert werden. Andererseits haben Forschungsresultate häufig auch direkte Auswirkungen auf die Praxis der Sozialen Arbeit, z.B. werden aufgrund von Forschungsresultaten Projekte weitergeführt, neue Gesetze erarbeitet oder neue Stellen geschaffen. Je nachdem ist Sozialarbeitsforschung stark mit unterschiedlichen Interessen, Zielsetzungen und Machtverteilungen der Beteiligten konfrontiert (Köttig et al. 2021). Forschungs- und Evaluationsergebnisse können aber auch dazu führen, dass Projekte abgeschafft und Stellen für Sozialarbeiter:innen gestrichen werden. Die Nutzung der Resultate ist häufig abhängig von politischen Entscheidungen. Die Forschenden können nur am Rande beeinflussen, welche Auswirkungen ihre Resultate auf die Praxis der Sozialen Arbeit haben. Sie müssen aber eine hohe Sensibilität für politische Prozesse und eine hohe (ethische) Sensibilität für die Auswirkungen von Ergebnissen haben. Auch eine gewisse Frustrationstoleranz gehört dazu, wenn trotz klarer Resultate seitens Politik, Projektverantwortlichen oder Organisationen nicht gehandelt wird (Sager et al. 2021).

5.4 Herausfordernder Zugang zum Feld

Sozialarbeitsforschung hat vielfach mit vulnerablen Gruppen zu tun, was im gesamten Forschungsprozess zu beachten ist. Es stellen sich dabei neben den erwähnten forschungsethischen Fragen auch forschungsmethodische Fragen beim Zugang zum Feld (Schwierigkeiten der Kontaktaufnahme, Befragbarkeit u.a.). Zu diesen speziellen Populationen, die durch seltene Merkmale gekennzeichnet sind, zählen Obdachlose, alleinerziehende Väter, Menschen mit verschiedenen chronischen Krankheiten (einzelne Kapitel in Baur und Blasius 2022). So ist beispielweise bei einer Umfrage, die die Lebenssituation von Obdachlosen in einer bestimmten Region in Erfahrung bringen soll, herausfordernd, wie der Zugang zum Feld gestaltet wird. Bei einer Studie, die Menschen mit Migrationshintergrund ins Zentrum stellt, ist zwingend abzuklären, in welche Sprachen die Befragungsinstrumente übersetzt werden müssen. Werden Menschen mit Behinderungen befragt, ist auf eine angemessene Ausdrucksweise/​Sprachform (leichte Sprache) zu achten.

5.5 Theoriebezüge beim interdisziplinären Forschen

Wie bereits erwähnt, ist Sozialarbeitsforschung häufig interdisziplinär angelegt. Dies hat zur Folge, dass Theoriebezüge aus verschiedenen Disziplinen und nicht zwingend aus der Sozialen Arbeit stammen. Der Lexikonbeitrag zu Theorien der Sozialen Arbeit zeigt auf, dass in der Sozialarbeitswissenschaft kein „… gemeinsames Theoriegebäude in Sicht ist“ (Lambers 2018). Zudem zeigt sich, dass in Wirkungsevaluationen häufig Outcomes nicht aus den Theorien der Sozialen Arbeit heraus formuliert werden, dies aber möglich wäre (Voges 2006).

5.6 Wirkungen von Interventionen in Kontexte eingebettet

Interventionen der Sozialen Arbeit zeichnen sich häufig durch einen hohen Komplexitätsgrad aus. Ob eine Intervention die beabsichtigten Wirkungen erzielt, hängt ab von a) der entsprechenden Lage der Adressat:innen mit ihren Ressourcen und Defiziten, b) den erbrachten Interventionen der Fachkräfte und den damit verbundenen Interaktionen zwischen ihnen und den Adressat:innen, c) dem organisatorisch-institutionellen Rahmen, in dem die Interventionen stattfinden sowie d) dem gesellschaftlichen und politischen Rahmen, der wiederum Auswirkungen auf die Lage der Adressat:innen und die institutionellen und fachlichen Bedingungen der Interventionen hat (Haller 2011). Dies führt zu Herausforderungen für Wirkungsforschung und -evaluationen. Obwohl es begriffliche und methodische Unschärfen gibt, haben sich interessante Modelle entwickelt, die Kontexte, Mechanismen und Outcomes (im Sinne von Wirkungen bei den Adressat:innen) als vielversprechend betrachten (Haunberger und Baumgartner 2017).

5.7 Theorie-Praxis-Gap

In der sozialarbeiterischen Praxis wird generell noch eher wenig Bezug auf sozialarbeiterische Forschungserkenntnisse genommen. Nach wie vor existieren wissenschaftliche Erkenntnisse, die keinen Einzug in die Praxis finden. Hier wird von einem Theorie-Praxis-Gap gesprochen. Gründe sind aus Sicht von Teater (2017), dass Hochschulen sich bei der Bewertung von Forschung noch hauptsächlich an „research influence“ statt an „practice influence“ orientiere, Forschung noch zu wenig gut zugänglich sei (schwer zugängliche und für Praktiker:innen verständliche Publikationen), und die Praktiker:innen zu wenig Zeit für die Konsultation von Ergebnissen sowie fehlende Kompetenzen bei der Recherche und Rezeption von Studienbeispielen hätten.

6 Quellenangaben

Baur, Nina und Jörg Blasius, Hrsg., 2022. Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung. Wiesbaden: Springer Fachmedien Verlag. ISBN 978-3-658-37985-8

Chiapparini, Emanuela und Véronique Eicher, 2019. Der Ansatz User Involvement in der Sozialen Arbeit – Anknüpfungspunkte für Praxis-, Forschungs- und Ausbildungsprojekte in der Schweiz. In: Schweizerische Zeitschrift für Soziale Arbeit. o.A.(24), S. 1–17. ISSN 1661-9870

European Social Work Association ESWRA, 2022. About the European Social Work Association [online]. 01.01.2022 (Stand der Seite) [Zugriff am: 21.08.2024]. Verfügbar unter: https://www.eswra.org/about.php

Ganzevles, Martine, Daan Andriessen, Tine Van Regenmortel und Jaap van Weeghel, 2022. When Methods Meet Motives: methodological pluralism in Social Work research. In: Quality & Quantity. 56(3), S. 949–965. ISSN 1573-7845

Gredig, Daniel und Stefan Schnurr, 2012. Forschen in der Sozialen Arbeit. Typische methodische Herausforderungen. In: Daniel Gredig und Stefan Schnurr, Hrsg. Forschen in der Sozialen Arbeit: Exemplarische Antworten auf typische Herausforderungen. Balltmannsweiler: Schneider Verlag Hogehengehren GmB, S. 1–13. ISBN 978-3-8340-0959-3 [Rezension bei socialnet]

Haller, Dieter, 2011. Wirkungsforschung zur Entwicklung der Professionalität, Identität und Legitimation Sozialer Arbeit. In: Nathalie Eppler, Ingrid Miethe und Armin Schneider, Hrsg. Qualitative und quantitative Wirkungsforschung: Ansätze, Beispiele, Perspektiven. Opladen: Barbara Budrich, S. 235–254. ISBN 978-3-86649-366-7 [Rezension bei socialnet]

Haunberger, Sigrid und Edgar Baumgartner, 2017. Wirkungsevaluationen in der Sozialen Arbeit mittels Realistic Evaluation: empirische Anwendungen und methodische Herausforderungen. Eine systematische Literaturreview. In: Zeitschrift für Evaluation. 16(1), S. 121–148. ISSN 1619-5515

Hüttemann, Matthias, 2020. Das Konzept der evidenzbasierten Praxis im Kontext der wissenschaftstheoretischen Grundannahmen des Positivismus und des Kritischen Rationalismus. In: Christian Spatscheck und Stefan Borrmann, Hrsg. Architekturen des Wissens: Wissenschaftstheoretische Grundpositionen im Theoriediskurs der Sozialen Arbeit. Weinheim: Beltz Juventa, S. 28–40. ISBN 978-3-7799-5525-2

Köttig, Michaela, Barbara Thiessen, Sonja Kubisch, Stefan Borrmann, Dieter Röh, Christian Spatscheck und Claudia Steckelberg, 2021. Entwicklung und Implementation forschungsethischer Prinzipien und Verfahren in der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGSA) – ein diskursiver Prozess. In: Julia Franz und Ursula Unterkofler, Hrsg. Forschungsethik in der Sozialen Arbeit (S. 25–38). Opladen: Verlag Barbara Budrich. ISBN 978-3-8474-2493-2 [Rezension bei socialnet]

Lambers, Helmut, 2018. Theorien der Sozialen Arbeit [online]. Bonn: socialnet, 04.09.2024 (Stand der Seite) [Zugriff am: 06.09.2024]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/​28056

Littell, Julia H. und Howard White, 2018. The Campbell Collaboration: Providing Better Evidence for a Better World. In: Research on Social Work Practice. 28(1): S. 6–12 [Zugriff am: 28.08.2024]. ISSN 1552-7581

Sager, Fritz, Susanne Hadorn, Andreas Balthasar und Céline Mavrot, 2021. Nutzung von Evaluationsergebnissen. In: Fritz Sager, Susanne Hadorn, Andreas Balthasar und Céline Mavrot, Hrsg. Politikevaluation: Eine Einführung. Wiesbaden: Springer Fachmedien, S. 211–232. ISBN 978-3-658-32490-2

Singer, Jonathan, 2008. Social Work Research for Practitioners: Interview with Allen Rubin [online]. 01.01.2024 (Stand der Seite) [Zugriff am: 28.08.2024]. Verfügbar unter: https://socialworkpodcast.blogspot.com/2008/04/social-work-research-for-practitioners.html

Sommerfeld, Peter und Matthias Hüttemann, Hrsg., 2007. Evidenzbasierte Soziale Arbeit: Nutzung von Forschung in der Praxis. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren. ISBN 978-3-8340-0328-7 [Rezension bei socialnet]

Steinert, Erika, 2008. Wissenschaft und Forschung der Sozialen Arbeit. In: Erika Steinert und Gisela Thiele, Hrsg. Sozialarbeitsforschung für Studium und Praxis: Einführung in die qualitativen und quantitativen Methoden. Frankfurt am Main: Peter Lang, S. 15–34. ISBN 978-3-631-56900-9 [Rezension bei socialnet]

Steinert, Erika und Gisela Thiele, Hrsg., 2008. Sozialarbeitsforschung für Studium und Praxis: Einführung in die qualitativen und quantitativen Methoden. Frankfurt am Main: Peter Lang. ISBN 978-3-631-56900-9 [Rezension bei socialnet]

Swissuniversities, 2014. Forschung an Fachhochschulen [online]. Bern: Rektorenkonferenz der Fachhochschulen der Schweiz KFH, 01.01.2014 (Stand der Seite) [Zugriff am: 21.08.2024]. Verfügbar unter: https://www.swissuniversities.ch/fileadmin/​swissuniversities/​Dokumente/​Kammern/​Kammer_FH/​Grundsatzpositionen/​Forschung_FH_2014_DE_1_.pdf

Teater, Barbra, 2017. Social Work Research and Its Relevance to Practice: „The Gap Between Research and Practice Continues to be Wide”. In: Journal of Social Service Research. 43(5), S. 547–565 [Zugriff am: 20.10.2024]. ISSN 0148-8376

Voges, Wolfgang, 2006. Indikatoren im Lebenslagenansatz: Das Konzept der Lebenslage in der Wirkungsforschung. ZeS Report 11(1), S. 1–6

Verfasst von
Prof. Dr. phil. Sylvie Johner-Kobi
Dozentin und Projektleiterin Institut für Vielfalt und gesellschaftliche Teilhabe, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW)
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Prof. Dr. phil. Sigrid Haunberger
Dozentin und Projektleiterin Institut für Sozialmanagement, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW)
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Es gibt 2 Lexikonartikel von Sylvie Johner-Kobi.
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