Soziale Norm
Prof. Dr. Oliver Dimbath
veröffentlicht am 06.03.2025
Soziale Normen sind Maßgaben der Verhaltensorientierung in sozialen Situationen. Sie schränken deren Beliebigkeit durch wechselseitige Erwartungen ein und gewährleisten die Planbarkeit sozialer Interaktionen und Beziehungen.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Begriffsbestimmung und -geschichte
- 3 Soziale Funktion
- 4 Genese
- 5 Soziale Reichweite und Geltung
- 6 Dauerhaftigkeit
- 7 Zeitlichkeit
- 8 Quellenangaben
1 Zusammenfassung
Auch wenn soziale Normen als festgelegte Verhaltenserwartungen oder -regeln statisch erscheinen, ist ihre Verletzlichkeit durch Infragestellung konstitutiv. Normen tragen zur Aufrechterhaltung sozialer Ordnung bei, indem diese immer wieder durch Abweichungen irritiert und auf diesem Wege das soziale Normengefüge herausgefordert, überprüft, bestätigt oder angepasst wird. Zwar gehört dieser Zusammenhang zu den frühen Einsichten der soziologischen Klassik, allerdings ist seither ein begriffs- und fachgeschichtlicher Wandel festzustellen, der zeigt, dass sich das Konzept der sozialen Norm in den Sozialwissenschaften als Grundbegriff erst langsam etabliert hat, welcher im Laufe der Zeit immer wieder anderen Schwerpunktsetzungen unterlag. Auch wenn sich der Fokus immer wieder verschoben hat, ist für ein Verständnis von „sozialer Norm“ die Frage nach ihrer gesellschaftlichen Funktion sowie ihren Ursprüngen grundlegend. Darüber hinaus können ihre Reichweite und Geltung ebenso wie ihre Beständigkeit in den Blick genommen werden, woraus sich das Interesse an der mit ihr verbundenen sowie aus ihr hervorgehenden sozialen Zeitlichkeit ergibt.
2 Begriffsbestimmung und -geschichte
Die Bedeutung des Wortes geht auf das lateinische „norma“ zurück, welches ein Winkelmaß, eine Richtschnur, Regel oder Vorschrift bezeichnet (Duden 1989, S. 489). Entsprechend finden sich Verwendungen des Begriffs in Handwerk und Technik; eine Übertragung auf soziale Zusammenhänge im engeren Sinn gibt es schon früh im Recht. Das sozialwissenschaftliche Verständnis gründet im Nachdenken über gesellschaftliche Ordnung. Es dauerte allerdings einige Zeit, bis sich der Begriff der sozialen Normen als Bezeichnung für eine regelhafte soziale Verhaltensorientierung etablierte. Auch wenn er heute als Grundbegriff der Soziologie gelten kann, darf wohl eher von einer moderaten, möglicherweise sogar „konjunkturabhängigen“ Verwendung ausgegangen werden.
Dieser Eindruck gründet in einer Durchsicht sozialwissenschaftlicher Lexika, in denen er ungefähr ab den 1960er Jahren eine intensivere Würdigung erfährt. Ein Beispiel liefert die Ausgabentradition des auf Wilhelm Bernsdorf zurückgehenden Wörterbuchs der Soziologie. In dessen mit Friedrich Bülow herausgegebenen Erstauflage von 1955 werden dem Begriff der „Norm“ gerade sieben Zeilen gewidmet. Bereits dort ist der Bezug zur Richtschnur im Sinne einer „Gebarenserwartung“ enthalten. Unterschieden wird ferner zwischen der Norm und ihrem sprachlichen Ausdruck sowie zwischen einer habituellen, also aus sozialer Praxis hervorgehenden und einer statuierten, also einer von einer normgebenden Instanz gesetzten Regel (Bernsdorf und Bülow 1955, S. 355).
Deutlich ausführlicher ist dann der Eintrag in der Ausgabe des Werkes von 1969. Dort wird die soziologische Genese kollektiver beziehungsweise gruppenspezifischer Regeln ausgeführt und die Entwicklung des Begriffs aus unterschiedlichen Traditionen kultur- und sozialwissenschaftlichen Wissens entfaltet. Die Darstellungen münden in die Problematisierung von Versuchen zur Klassifikation von Normensystemen.
Eine Neufassung des Eintrags verzeichnet die nun von Günter Endruweit und Gisela Trommsdorff besorgte Neuherausgabe des Wörterbuchs aus dem Jahr 1989. Der ideengeschichtliche Hintergrund wird jetzt durch Fragen der Aneignung, Geltung, Befolgung und Konflikthaftigkeit sozialer Normen ersetzt.
In einer wiederum vollständig überarbeiteten, von Endruweit und Trommsdorff gemeinsam mit Nicole Burzan im Jahr 2014 besorgten Fassung verschiebt sich der Akzent auf aktuellere Soziologinnen und Soziologen, welche mit unterschiedlichen Schwerpunkten am Konzept sozialer Normen weitergearbeitet haben.
Allein dieser knappe Überblick zeigt, dass mit dem soziologischen Grundbegriff im Wandel der Zeit verschiedene Schwerpunktsetzungen bis hin zu Interessenlagen verknüpft und sein „diskursives“ Verständnis ebenso wie seine Verwendungskontexte in stetem Wandel begriffen sind.
3 Soziale Funktion
Auf den soziologischen Klassiker Émile Durkheim, dessen Überlegungen zu kollektiv bindenden Verhaltenserwartungen an die wegweisenden Arbeiten Auguste Comtes anschließen, geht die Einsicht zurück, dass soziale Normen Situationen strukturieren, in denen es mehrere Handlungsmöglichkeiten gibt. Ihre Aufgabe oder Funktion besteht nun darin, die Kontingenz oder Beliebigkeit so einzuschränken, dass soziale Ordnung möglich und damit wechselseitig aufeinander eingestelltes Verhalten erwartbar wird. Damit ist verbunden, dass Gruppen oder Kollektive über die Einhaltung ihrer Normen wachen, aber auch, dass eine Norm kein Naturgesetz ist und prinzipiell auch missachtet werden kann.
Durkheim (1984) geht nun so weit, dass er die Funktion von, wie er es nennt: soziologischen Tatbeständen darin sieht, den Zusammenhalt des Kollektivs zu gewährleisten. Gerade die Normverletzung trägt dazu bei, dass sich die soziale Gruppe ihrer Ordnung und der Prinzipien ihrer Kohäsion vergewissert. Die soziale Ordnung muss demnach immer wieder herausgefordert, verletzt und geheilt werden. Ihre totale Durchsetzung ist für den Gruppenzusammenhalt ebenso problematisch wie ihre Auflösung.
Die durch soziale Normen hergestellte Gewissheit sozialen Zusammenhalts nimmt den miteinander interagierenden Individuen viel Unsicherheit und Entscheidungen im Umgang miteinander ab und ermöglicht auf diese Weise ein rascheres und reibungsloseres Vorankommen bei der wechselseitigen Bedürfnisbefriedigung. Zentral bleibt aber dabei, dass, was einmal erfolgreich geordnet war, immer wieder auf dem Prüfstand steht. Die Handelnden können sich aufgrund der sie verpflichtenden sozialen Normen in der Regel aufeinander verlassen. Sie würden Geltung und Wichtigkeit dieser Normen allerdings vergessen, wenn es nicht immer wieder Abweichungen gäbe, die dazu führen, die Norm erneut zu bestätigen.
4 Genese
Das Vergessen der Normentstehung kann dann bewirken, dass soziale Normen als universell oder gottgegeben angesehen werden. Dies ist allerdings nicht der Fall – sie sind immer „geworden“. Dieses Werden findet auf unterschiedlichen Wegen statt:
- So können soziale Normen sich erstens aus eingelebter Praxis ergeben. Etwas wird erwartet, weil „man das so macht“. In diesem Fall ist es schwierig, eine normgebende Instanz auszumachen, da sich die Norm aus Gewohnheiten, Bräuchen, Sitten oder Traditionen ergeben und über längere Zeit als Erwartung etabliert hat.
- Zweitens können soziale Normen aber auch von einer herrschenden Instanz eingesetzt worden sein. Agiert diese nicht völlig willkürlich, liegen den Normen die jeweils als erwünscht angesehenen Wertorientierungen zugrunde.
- Ein dritter Entstehungsanlass für soziale Normen kann schließlich die Orientierung am Durchschnitt sein. Erwartungen sind dann mit einer am statistischen Mittel oder einer „durchschnittlichen“ Erfahrung ausgerichteten Vorstellung von Normalität verbunden. Ab einem bestimmten Punkt lässt eine solche Vorstellung von Normalität Abweichungen von „der Regel“ in irgendeiner Weise als „anders“ erscheinen und gegebenenfalls auch als „abnormal“ sanktionieren (Dimbath 2020, S. 211 ff.).
5 Soziale Reichweite und Geltung
Die Reichweite und Geltung sozialer Normen ist auf die Einfluss- und Sanktionsmöglichkeiten sozialer Gruppen oder Kollektive begrenzt. So kann beispielsweise der Geltungsbereich einer juristischen Norm an der Staatsgrenze enden – er muss aber nicht, wenn internationale Kooperationsverträge greifen oder erwartungsvermittelte Verhaltensorientierungen bestimmten kulturellen Zusammenhängen erwachsen, die über Staatsgrenzen hinausgehen. Vor allem im Bereich juristisch fixierter sozialer Normen kommt es regelmäßig – in Analogie zu Rollenkonflikten – zu Normkonflikten (Reinhold 1992, S. 425). Insbesondere in normspezifisch stark differenzierten Kontexten kann es vorkommen, dass ein bestimmtes Verhalten, das einer Norm entspricht, eine andere Norm verletzt. In solchen Fällen obliegt es der Rechtsprechung Präzedenzfälle zu identifizieren und Normenkonflikte durch Normenanpassung aufzulösen.
6 Dauerhaftigkeit
Die Beständigkeit oder Dauerhaftigkeit sozialer Normen ist mit der Sanktionsbereitschaft und -fähigkeit der die Norm vertretenden Gruppe oder des Kollektivs verknüpft. Eine Norm, deren Verletzung nicht sanktioniert wird, fällt dem sozialen Wandel anheim. Sie schwächt sich ab, verliert ihre „Autorität“, bis sie schließlich ganz verschwindet. Aber auch die absolute Durchsetzung einer Norm stößt an Grenzen. Jeder durch soziale Normen regulierte Handlungszusammenhang bietet grundsätzlich Verhaltensalternativen, von denen die sozial unerwünschten ausgeschlossen werden sollen. Wenn aber eine Norm „total“ durchgesetzt wird, entfällt die Möglichkeit einer Abweichung, was dann zumindest kommunikativ zu ihrem Verschwinden führen kann. Es muss also, soll eine Norm an Gültigkeit behalten, immer Abweichungen geben, auf die dann entsprechende und ihrerseits erwartbare Sanktionen, gegebenenfalls aber auch Anpassungen im Sinne von Aktualisierungen der bestehenden Vorgabe folgen.
Durkheim (1984, S. 161) bezeichnet daher den von der Norm abweichenden Verbrecher als „regulativen Wirkungsfaktor“ des sozialen Lebens. In diesem Sinn besteht auch die gesellschaftliche Funktion des Verbrechens sowie die empörte Forderung nach Bestrafung darin, „die allgemein akzeptierten Normen einer Gesellschaft beständig zu aktivieren“ (König 1984, S. 68). Darüber hinaus gilt, dass die erwartete Sanktion – hier bezieht sich also eine Norm auf eine Norm – in der Regel mit jedem weiteren Schritt abnimmt, sodass die Verletzung einer Norm Empörung und eine Sanktionsforderung nach sich zieht, wogegen die Empörung über eine unterbliebene Sanktion abfällt und so weiter. Heinrich Popitz (2006) weist darauf hin, dass der mit autoritären Umstürzen verbundene Angriff auf geltende Normensysteme deshalb gar nicht die Norm selbst infrage stellen muss. Es genügt, die Erwartung der Sanktion zu bagatellisieren, um die Beständigkeit der sozialen Norm zu untergraben. Dies erfolgt durch permanente Grenzüberschreitung bis das kollektive Sanktionssystem – die Exekutive oder auch das moralische Sensorium des Kollektivs – ermüden.
7 Zeitlichkeit
Soziale Normen erscheinen auf den ersten Blick immerwährend und dadurch zeitlos. Dadurch, dass sie „geworden“, also aus sich im Laufe der Zeit eingespielten und etablierten Erwartungen entstanden sind, ist klar, dass sie einem steten Wandel unterliegen. Normen haben einen „Lebenszyklus“ – auch wenn sich dieser in der Regel der alltäglich-subjektiven Wahrnehmung entzieht. Für die Erforschung sozialen Wandels ist die stetige Veränderung von Normen und den sie stützenden Sanktionssystemen ein aufschlussreicher Ansatzpunkt.
Indem soziale Normen Erwartungen repräsentieren, weisen sie in die Zukunft und konstituieren so eine spezifische Form gesellschaftlicher Zeitlichkeit: Entstanden in der Vergangenheit, bewahren sie das, was einmal für gut befunden wurde und sorgen dafür, dass dies auch in Zukunft so bleibt. Sie erzeugen damit Planungssicherheit und schaffen als soziale Gedächtnisse (Dimbath und Heinlein 2015) die Grundlage für das Vertrauen in die Beständigkeit sozialer Beziehungen. Umgekehrt führt ein umfassender Glaubwürdigkeitsverlust sozialer Normen zu einem Vertrauensverlust sowie dem schon von Durkheim (1996, S. 42) beschriebenen Zustand der Anomie, in dem „die Sphäre des kollektiven Lebens zum großen Teil der zügelnden Wirkung einer Regel entzogen ist“. Jedes Zusammenleben wird dann allein dadurch destabilisiert, dass niemand mehr dem oder der anderen über den Weg traut – eine Rückkehr zum Hobbes’schen Naturzustand.
8 Quellenangaben
Bernsdorf, Wilhelm, 1973. Wörterbuch der Soziologie. Band 3. Politische Soziologie – Zuverlässigkeit. Frankfurt am Main: Fischer. ISBN 978-3-436-01438-4
Bernsdorf, Wilhelm und Friedrich Bülow, 1955. Wörterbuch der Soziologie. Stuttgart: Enke
Dimbath, Oliver, 2020. Einführung in die Soziologie. 4. Auflage, Paderborn: Fink (UTB). ISBN 978-3-8252-5380-6 [Rezension bei socialnet]
Dimbath, Oliver und Michael Heinlein, 2015. Gedächtnissoziologie. Paderborn: Fink (UTB). ISBN 978-3-8252-4172-8
Duden, 1989. Das Herkunftswörterbuch: Etymologie der deutschen Sprache. Mannheim: Dudenverlag. ISBN 978-3-411-20907-1
Durkheim, Émile, 1984. Die Regeln der soziologischen Methode. Frankfurt am Main: Suhrkamp. ISBN 978-3-518-28064-5
Durkheim, Émile, 1996. Über soziale Arbeitsteilung: Studie über die Organisation höherer Gesellschaften. 2. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp. ISBN 978-3-518-28605-0
Endruweit, Günter und Gisela Trommsdorff, 1989. Wörterbuch der Soziologie. Band 2. Ich-Rückkopplung. Stuttgart: Enke. ISBN 978-3-432-97491-0
Endruweit, Günter, Gisela Trommsdorff und Nicole Burzan, 2014. Wörterbuch der Soziologie. 3. Auflage. Stuttgart: Lucius & Lucius. ISBN 978-3-8252-8566-1 [Rezension bei socialnet]
König, René, 1984. Einleitung. In: Émile Durkheim. Die Regeln der soziologischen Methode. Frankfurt am Main: Suhrkamp. ISBN 978-3-518-28064-5
Popitz, Heinrich, 2006. Soziale Normen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. ISBN 978-3-518-29394-2
Reinhold, Gerd, 1992. Soziologie-Lexikon. 2. Auflage. München: Oldenbourg Verlag. ISBN 978-3-486-22340-8
Verfasst von
Prof. Dr. Oliver Dimbath
Universität Koblenz
FB 1: Bildungswissenschaften
Institut für Soziologie
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