Soziales Atom
Thomas Wittinger
veröffentlicht am 24.11.2023
Als Soziales Atom wird ein soziologisches Konzept zur Beschreibung und Analyse der sozialen Netzwerkbeziehungen eines Individuums bezeichnet. Es handelt sich auch um eine spezielle Form eines Soziogramms.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Das Konzept
- 3 Das soziokulturelle Atom als spezielles Soziogramm
- 4 Quellenangaben
1 Zusammenfassung
Das soziale Atom (bzw. kulturelle Atom) bringt den zentralen Aspekt des Menschenbildes nach Jacob Levy Moreno zum Ausdruck. Demnach steht der Mensch nicht für sich allein in der Welt, sondern ist immer Teil einer Gruppe in einem Beziehungsnetzwerk. Dementsprechend beschreibt das soziale Atom den Menschen mit seinen emotionalen Beziehungen zu anderen Menschen. Gleichzeitig steht der Mensch auch in einem Netzwerk von Rollenbeziehungen zu anderen Menschen. Da beide Perspektiven eng miteinander verflochtene Gefüge darstellen, wird das soziale bzw. kulturelle Atom von Moreno selbst schon sehr früh als soziokulturelles Atom bezeichnet.
Zugleich ist das soziale Atom eine spezielle Form eines Soziogramms. In seinem Zentrum steht das Individuum, umgeben von seinen emotional relevanten Bezugspersonen. Umgekehrt kann das Individuum auch aus der Perspektive der Gruppe betrachtet werden. Deshalb ist für Moreno die kleinste soziologische Einheit die Gruppe.
2 Das Konzept
Das soziale und das kulturelle Atom sind unterschiedliche Perspektiven auf das gleiche Konzept im Rahmen des Verfahrens Psychodrama. Viele Publikationen erwecken den Eindruck, als seien es zwei unterschiedliche Modelle. Moreno hat sie aber schon in den 1940er-Jahren als eng miteinander verwoben betrachtet:
„Das soziale Atom ist der Kern all der Individuen, mit denen eine Person auf bedeutsame Weise in Beziehungen steht, oder die zur gleichen Zeit mit ihr in Beziehung stehen; die Beziehung kann emotionaler, sozialer oder kultureller Art sein. […] Mit Emotionen meinen wir nicht diese oder jene Emotion, sondern alle Emotionen, die Menschen verbinden oder trennen, wie Liebe und Hass, Mitleid und Mitgefühl, Eifersucht und Neid, Heiterkeit und Freude, Ärger und Hass. […] Mit sozialen Beziehungen meinen wir alle sozialen Beziehungen, von bloßen Bekanntschaften bis hin zu professionellen und industriellen Beziehungen. […] Mit kulturellen Beziehungen meinen wir alle kulturellen Beziehungen vom einfachen Teilen von Ideen bis hin zu ästhetischen, ethischen und religiösen Beziehungen“ (Moreno, 2009, S. 246 f.; weiterführend auch Hutter 2000, S. 180 f.).
Aufgrund der engen Verwobenheit werden die Begriffe soziales und kulturelles Atom oftmals synonym verwendet.
In der emotionalen Perspektive geht es Moreno um die emotional relevanten Personen, unabhängig von tatsächlichen Interaktionen. Deshalb können auch Personen, mit denen man gern interagieren würde, oder verstorbene Personen Teil des sozialen Atoms sein. Die Beziehungen können von Anziehung, Ablehnung oder Indifferenz geprägt oder auch einseitig bestimmt sein.
Das soziokulturelle Atom ist im Sinne eines Soziogramms immer an ein bestimmtes Kriterium gebunden. Deshalb ist der Mensch Teil mehrerer sozialer Atome. Diese können zum Beispiel folgende sein:
- Familie
- Freundeskreis
- Arbeitskolleg:innen
Damit eng verwoben ist die kulturelle Perspektive der Rollenbeziehungen, in der nicht die Emotionen, die Menschen miteinander verbinden, betrachtet werden, sondern geteilte Ideen, ethische Vorstellungen oder auch religiöse Beziehungen.
„Jedes Individuum […] erscheint […] auch als Mittelpunkt unzähliger Rollen, die mit den Rollen anderen Individuen in Beziehung stehen. […] Der Gebrauch des Wortes ‚Atom‘ kann hier gerechtfertigt werden, wenn wir ein kulturelles Atom als kleinste funktionierende Einheit innerhalb einer Kultur betrachten. Das Adjektiv ‚kulturell‘ kann gerechtfertigt werden, wenn wir die Rollen und Beziehungen zwischen Rollen als die wichtigsten Entwicklungen innerhalb einer spezifischen Kultur betrachten“ (Moreno 2009, S. 247 f.).
Als Rollenbeziehungen bezeichnet Moreno Rollen, die aufeinander bezogen sind. In einer Partnerschaft beispielsweise werden bestimmte Rollenbeziehungen im Sinne einer idealen Partnerschaft (nicht mehr) gelebt (z.B. die des Geliebten und der Geliebten). Andere Rollen, die für den oder die Partner:in auch bedeutsam sind, werden nicht (mehr) in der Partnerschaft gelebt.
Das soziokulturelle Atom beschreibt eine dynamische Beziehungsstruktur. Es ist nicht immer gleich, sondern verändert sich im Laufe des Lebens. In den jungen Jahren eines Menschen wächst es zunächst an und wird im Alter immer kleiner. Deshalb kann ein Mensch schon vor seinem physischen Tod den sozialen Tod erfahren, weil seine relevanten Bezugspersonen bereits gestorben sind.
Jede Person dieses sozialen Atoms ist ihrerseits Teil eines sozialen Atoms, sodass „die sozialen Atome in einer Gruppe […] miteinander verknüpft“ (Ameln und Kramer 2014, S. 166) sind. Diese sozialen Atome bezeichnet Moreno als soziales Netzwerk. Damit wird Moreno als ein Pionier des systemischen Denkens und systemischer Verfahren angesehen (Schlippe und Schweitzer 2002, S. 18).
3 Das soziokulturelle Atom als spezielles Soziogramm
Das soziokulturelle Atom stellt eine besondere Form eines Soziogramms dar. Deshalb eignen sich beide Perspektiven gut zu diagnostischen Zwecken in allen Formaten der Einzelberatung und der Einzeltherapie. So kommen im Coaching eher die Arbeitsbeziehungen zur Sprache, während in der Einzeltherapie die Thematisierung mehrerer Atome im Laufe der Biografie therapeutisch relevante Brüche aufzeigen kann.
Das soziokulturelle Atom ist sehr einfach anzuwenden, indem auf einen größeren Bogen Papier ein Kreis in der Mitte und zwei weitere Kreise um diesen Kreis herum gezeichnet werden. Ursprünglich stellte für Moreno der innerste Kreis den Kern der Personen dar, zu denen Beziehungen unterhalten werden. Der nächste Kreis beinhaltet Personen, zu denen eine Beziehung gewünscht wird. Der äußere Kreis beinhaltet weitere Personen, die eine Beziehung zum Individuum unterhalten. Männliche Personen werden mit einem Dreieck, weibliche mit einem Kreis und Organisationen mit einem Quadrat gekennzeichnet. Die Beziehungen werden mit Pfeilen dargestellt. Zu einer detaillierten Darstellung sei auf das Lehrbuch zum Psychodrama verwiesen (Ameln und Kramer 2014).
Allerdings gibt es verschiedene Beschreibungen für die jeweiligen Kreise, weil es in der konkreten Anwendung zahlreiche Varianten gibt, die sich im Wesentlichen aus den unterschiedlichen soziometrischen Analysekriterien ergeben, mit denen die drei Kreise bezeichnet werden. Kriterien können im Sinne des oben beschriebenen Konzepts unter anderem sein:
- emotionale Beziehungen in ihrer jeweiligen Bedeutsamkeit
- Rollenbeziehungen in Bezug auf gemeinsam geteilte Ideen oder Aufgaben
Insofern entsprechen die verschiedenen Darstellungen nicht nur verschiedenen Kriterien, sondern zeigen als Beispiele zugleich die zahlreichen Möglichkeiten der Verwendbarkeit. Die große Vielfalt dieser Verwendungsmöglichkeiten zeigt sich auch darin, dass die anschließende beratende bzw. therapeutische Arbeit mit Hilfe verschiedener Verfahren erfolgen kann.
Die recht einfache Umsetzbarkeit darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Einsatz des soziokulturellen Atoms nicht nur vielfältige und tiefgehende Emotionen (Mitgefühl, Freude, Liebe, Hass, Ärger) wecken, sondern auch schwierige und belastende Konflikte offenlegen kann, die eine Bearbeitung unter professioneller Begleitung nötig machen können. Deshalb sollte der Einsatz des sozialen Atoms professionell ausgebildeten Berater:innen und Therapeut:innen vorbehalten bleiben.
4 Quellenangaben
Ameln, Falko von und Josef Kramer, 2014. Psychodrama: Grundlagen. Berlin, Heidelberg: Springer. ISBN 978-3-642-44921-5
Hutter, Christoph, 2000. Psychodrama als experimentelle Theologie. Münster: Lit-Verlag. ISBN 978-3-8258-4666-4 [Rezension bei socialnet]
Krauskopf, Karsten und Falko von Ameln, 2016. Vorwort. In: Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie 15(2), S. 193–197. ISSN 1862-2526
Moreno, Jacob Levi, 2009. The Social Atom: A Definition, The Sociometry Reader. In Christoph Hutter und Helmut Schwehm, Hrsg. J. L. Morenos Werk in Schlüsselbegriffen. Wiesbaden: VS-Verlag, S. 246–248. ISBN 978-3-5311-9593-3
Schlippe, Arist von und Jochen Schweitzer, 2002. Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. ISBN 978-3-5254-5659-0
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