Sozialhilfe (Deutschland)
Prof. Dr. Angela Busse
veröffentlicht am 06.02.2023
Der Begriff „Sozialhilfe“ steht für eine Sozialleistung zur Sicherung des (soziokulturellen) Existenzminimums, verschiedener Lebensrisiken, die auch vorrangig durch Versicherungs- und Versorgungsträger abgedeckt werden und darüber hinausgehende soziale Notlagen aufgreift. Diese Leistungen sind im Sozialgesetzbuch XII geregelt. Als Sozialhilfe (im weiteren Sinne) werden auch steuerfinanzierte Sozialleistungen bezeichnet, die das Existenzminimum unter unterschiedlichen Aspekten decken sollen.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Begriff der Sozialhilfe
- 3 Sozialhilfe im Grundgesetz
- 4 Ausgewählte Stationen der Kodifizierung der Sozialhilfe
- 5 Die Sozialhilfe des SGB XII
- 6 Sozialhilfe und Wahrung der Würde des Menschen
- 7 Sozialhilfe des SGB XII im gegliederten Sozialleistungssystem
- 8 Sozialpolitische Perspektive
- 9 Quellenangaben
1 Zusammenfassung
Die Sozialhilfe des SGB XII ist verfassungsrechtlich in den Art. 72, 74 Nr. 7 GG und im Hinblick auf das Soziokulturelle Existenzminimum in Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG verankert. Meist gilt für den Verwaltungsvollzug Art. 84 GG. Sozialhilferecht gab es bereits zur Zeit der Weimarer Republik. Von der Vielfalt ihrer Adressat:innenkreise in der Weimarer Zeit, stellte das Bundessozialhilfegesetz von 1961 einen Höhepunkt der Vereinheitlichung des Adressat:innenkreises dar. Seither erodiert diese Einheit zunehmend, indem einzelne Personen, wie Studierende, Asylsuchende, erwerbsfähige Arbeitnehmer:innen aus dem Anwendungsbereich der Sozialhilfe in andere Sozialleistungsgesetze überführt wurden. Die Sozialhilfe sichert neben dem soziokulturellen Existenzminimum, durch Leistungen zum Lebensunterhalt, auch das medizinische Existenzminimum in Anlehnung an die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung, und ist Anknüpfungspunkt für das steuerrechtlich zu verschonende Einkommen. Innerhalb des Sozialgesetzbuches ist sie auf vielfältige Weise mit anderen Sozialleistungen verknüpft.
2 Begriff der Sozialhilfe
Man kann einen weiten von einem engen Begriff der Sozialhilfe unterscheiden (Grube 2022, Rn. 2). Der weite Begriff der Sozialhilfe, auch materieller Begriff der Sozialhilfe genannt, erfasst alle staatlichen Leistungen, die ohne vorherige Beitragszahlung oder Bezug zu besonderen Aufopferungstatbeständen, zur Sicherung eines Existenzminimums auf gesetzlicher Grundlage an Menschen, die keine Möglichkeit zur Selbsthilfe haben, erbracht werden. Die Sozialhilfe im engeren Sinne, d.h. formalen Sinne, ist im SGB XII geregelt. Sie umfasst neben Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums auch in der Regel nachrangige Leistungen für andere Notlagen, die sich zum Teil mit den in der Sozialversicherung und Versorgung abgedeckten Lebensrisiken decken, aber auch darüber qualitativ oder auch quantitativ hinausgehen können.
3 Sozialhilfe im Grundgesetz
Die Gesetzgebungskompetenz liegt in der BRD grundsätzlich in der Hand der Bundesländer. Im Hinblick auf die Sozialhilfe ist der Bund nach Art. 72, 74 Nr. 7 GG gegenüber den Ländern vorrangig zur Gesetzgebung auf dem Gebiet der öffentlichen Fürsorge befugt. Zur öffentlichen Fürsorge gehört, neben der Jugendhilfe einschließlich Jugendschutz, auch die Sozialhilfe. Die Fürsorge im verfassungsrechtlichen Sinne der Regelung ist die öffentliche Hilfe bei wirtschaftlichen Notlagen. Sie setzt „eine besondere Situation zumindest potenzieller Bedürftigkeit“ voraus. Der verfassungsrechtliche Begriff der öffentlichen Fürsorge ist weit auszulegen und zusätzlich entwicklungsoffen (Kment 2022, Rn. 173). Charakteristisch ist ihre Finanzierung aus Steuermitteln (Kment, 2022, Rn. 17a). Die öffentliche Fürsorge erfasst Regelungen über die Hilfe zum Lebensunterhalt, Maßnahmen zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums oder Bestimmungen über die Hilfe für besondere Personengruppen wie Schwerbeschädigte (Uhle 2022, Rn. 171).
Den Ländern ist es möglich, von den bundesgesetzlichen Regelungen der Sozialhilfe (SGB XII) hinsichtlich des Verwaltungsverfahrens abweichende Regelungen zu treffen. Die Bundesländer machen darin in ihren Ausführungsgesetzen zum SGB XII regelmäßig Gebrauch. Das Leistungsrecht ist von dieser verfassungsrechtlichen Abweichungsmöglichkeit nicht betroffen. Bundesrechtlich wird den Ländern bzw. kommunalen Trägern der Sozialhilfe jedoch durch § 29 SGB XII eine abweichende Regelsatzfestsetzung ermöglicht. In geringem Umfang wird von dieser Abweichungsmöglichkeit Gebrauch gemacht.
Nach Art. 84 GG wird die Sozialhilfe des SGB XII von den Behörden der Länder als eigene Angelegenheit ausgeführt. Dies gilt nicht für die Geldleistungen der Grundsicherung nach §§ 41 ff. SGB XII (Thie 2020, Rn. 2). Die Verwaltungsorganisation obliegt den Ländern. Die Träger der Sozialhilfe regeln § 3 SGB XII sowie die entsprechenden Ausführungsgesetze der Bundesländer (Grube 2022, Rn. 14).
Ausdrückliche inhaltliche Vorgaben seitens des Grundgesetzes für die Sozialhilfe sind nicht nachgewiesen. Inhaltliche Vorgaben werden jedoch aus dem verfassungsrechtlichen Kontext abgeleitet. Die Entwicklung entsprechender inhaltlicher Maßstäbe liegt daher beim Bundesverfassungsgericht. Es hat anlässlich einer Entscheidung zur Höhe der Regelsätze der Grundsicherung für Arbeitsuchende aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG einen verfassungsrechtlich begründeten Anspruch auf das soziokulturelle Existenzminimum hergeleitet. Diese Vorgaben sind auch für das formelle Sozialhilferecht des SGB XII von Bedeutung.
4 Ausgewählte Stationen der Kodifizierung der Sozialhilfe
In der jungen Bundesrepublik löste das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) vom 30.6.1961 das Fürsorgerecht der Weimarer Republik ab. Deren Fürsorgerecht bestand im Wesentlichen aus der Reichsverordnung über die Fürsorgepflicht und aus den Reichsgrundsätzen über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge (beide 1924) sowie auf den Gesetzen über die Fürsorge für Körperbehinderte (1957) bzw. über die Tuberkulosehilfe (1959) (Trenk-Hinterberger 2020, Rn. 5). Mit der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten löste das Bundessozialhilfegesetz das Sozialhilfegesetz der DDR vom 21.6.1990 ab.
In den frühen 1990er- und frühen 2000er-Jahren zeichnete sich eine erneute Ausdifferenzierung des Adressat:innenkreises der Sozialhilfe ab. Das Bundessozialhilfegesetz erfasste alle Menschen, deren Notlage eine Selbstfinanzierung des alltäglichen Lebensunterhaltes oder spezifischer sozialer Risiken oder Problemlagen nicht erlaubte. Das Asylbewerberleistungsgesetz beschnitt den Adressat:innenkreis des Bundessozialhilfegesetzes ab 1993, indem Leistungsberechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz vom 1.10.1993 (AsylbLG v. 30.6.1993, BGBl. I S. 1074) von den Leistungen der Sozialhilfe ausgeschlossen wurden.
Das Gesetz über eine bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (GSiG vom 26.6.2001, BGBl. I S. 1310) setzte diese Entwicklung fort. Mit diesem Gesetz sollte eine neue Form der Existenzsicherung außerhalb der Sozialhilfe geschaffen werden (Trenk-Hinterberger 2020, Rn. 10). Ziel war es, einer verdeckten Altersarmut entgegenzutreten. Um über 65-Jährige und dauerhaft erwerbsgeminderte Personen zu einer Inanspruchnahme der Leistungen zu motivieren, wurde der in der Sozialhilfe des Bundessozialhilfegesetzes zugelassene Rückgriff auf Einkommen von Angehörigen ausgeschlossen, wenn deren Einkommen unter 100.000 Euro lag, § 2 GSiG. Einkommen und Vermögen der Leistungsberechtigten werden im selben Umfang wie in der Sozialhilfe angerechnet, § 3 Abs. 2 GSiG. Das Grundsicherungsgesetz war kurzlebig und trat bereits am 31.12.2004 wieder außer Kraft.
5 Die Sozialhilfe des SGB XII
Die Sozialhilfe des SGB XII entstand im Rahmen der sog. Hartz-Reformen. Das erklärte politische Ziel war, einen grundlegenden Paradigmenwechsel vom fürsorgenden Sozialstaat zum aktivierenden Sozialstaat zu vollziehen (Trenk-Hinterberger 2020, Rn. 5). Der in der Geschichte der Sozialhilfe und Fürsorge bereits historisch durchlaufene Entwicklungsprozess einer Ursachen indifferenten Sozialhilfe erschien nun nicht mehr zeitgemäß.
So unterschied bereits im 17. Jahrhundert die Armenpolitik zwischen arbeitsfähigen, guten (d.h. unverschuldet in Not geratenen), einheimischen, fremden, schlechten (d.h. verschuldet in Not geratenen) und nicht arbeitsfähigen armen Menschen. Arbeit galt entsprechend als Hilfsmittel gegen Laster. Auch die massenhafte Verarmung der Bevölkerung nach dem Ersten Weltkrieg in der Weimarer Republik führte zu einer weiter zunehmenden Zersplitterung und Ausdifferenzierung. So entstand beispielsweise eine kommunale Erwerbslosenfürsorge, die formal nicht der Armenpflege zugeordnet wurde. Es entstanden Kriegshinterbliebenen und Kriegbeschädigtenfürsorge, Kleinrentner- und Sozialrentnerfürsorge, Kinder- und Jugendfürsorge, Gesundheitsfürsorge einschl. Wochenfürsorge und Wohnungsfürsorge. Es entstand ein hoch zersplittertes, schwer überschaubares Gewirr von Sonderfürsorgen mit je unterschiedlichen gesetzlichen Grundlagen und Finanzierungsmodalitäten unterschiedlicher Verwaltungsorganisation und ungleichen Leistungsniveaus (Stolleis 2003, S. 130).
Hier knüpften die Reformen von 2002, ausgehend vom ursprünglich einheitlichen Sozialhilferecht für alle nach dem Bundessozialhilfegesetz, wieder an die Differenzierung zwischen Arbeitenden und nicht Arbeitenden an. Die Kommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ schlug unter anderem vor, die Arbeitslosenhilfe (der §§ 190 ff. SGB III in der Fassung des Gesetzes zur Reform der Arbeitsförderung vom 24.3.1997 BGBl. I S. 594) und die Hilfe zum Lebensunterhalt der §§ 11 ff. BSHG für alle erwerbsfähigen Bezieher:innen beider Leistungen zu einer vom Bund finanzierten Sozialleistung zusammenzufassen. Gleichzeitig wurde das in den 1970er-Jahren begonnene Großprojekt eines Gesamtkodexes zum Sozialrecht der Bundesrepublik Deutschland fortgeschrieben.
Das Ergebnis der Reformen ist die Kodifizierung der Sozialhilfe als Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) durch das Gesetz zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch vom 27.12.2003 (BGBl. I S. 3022). Die Leistungen zum Lebensunterhalt der Sozialhilfe waren seitdem auf den Personenkreis der erwerbsfähigen Personen und der mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden weiteren Personen nicht mehr anwendbar.
Für diese erwerbsfähigen Personen wurde ein Grundsicherungssystem geschaffen, das durch das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24.12.2003 (BGBl. I S. 2954) in einem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) kodifiziert ist. Die Grundsicherung nach dem SGB II unterschied sich zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens durch die Ableitung der Leistungshöhe der Leistungen zum Lebensunterhalt aus der Rentenentwicklung, § 20 Abs. 4 SGB II in der Fassung des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 29.12.2003 (BGBl. I S. 2954). Im Gegensatz zum SGB XII waren die Leistungen somit nicht auf das soziokulturelle Existenzminimum und seine statistisch/​normative Ableitung bezogen. Die Grundsicherung war an Leistungen zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt, §§ 14 ff. SGB II a.F., auf unterschiedlichste Weise gekoppelt. Primäres Ziel war, arbeitslose Menschen so rasch wie nur irgend möglich in den Arbeitsmarkt zu integrieren, §§ 1, 2, 3 Abs. 3 SGB II in der Fassung des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 29.12.2003 (BGBl. I S. 2954). Die Tradition der Hilfe zur Arbeit, §§ 18 ff. BSHG, und der „Folgen bei Arbeitsscheu[…]“ (so die Überschrift im BSHG von 1961 BGBl. I S. 815), § 25 BSHG, des Bundessozialhilfegesetzes wurden im SGB II unter dem Grundsatz des Forderns, § 2 SGB II, fortgeführt und verschärft. Die Eingliederungsvereinbarung, § 15 SGB II, und Leistungskürzungen bei Verletzungen von Mitwirkungspflichten des Sozialrechtsverhältnisses zwischen Leistungsberechtigtem und Leistungsträger konnten dazu führen, dass Leistungen vollständig versagt wurden, § 31 ff. SGB II.
Aufstockende Leistungen der Sozialhilfe, die in der Arbeitslosenhilfe des SGB III noch möglich waren, waren ausgeschlossen, § 5 Abs. 2 S. 1 SGB II in der Fassung des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 29.12.2003 (BGBl. I S. 2954). Die Klarstellung der Abgeltungsfunktion der Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB II wurde durch eine Gesetzesänderung,§ 3 Abs. 3 2. HS und 2. Satz SGB II in der Fassung vom 20.7.2006 BGBl. I 1706 m.W.v. 1.8.2006, noch deutlicher herausgestellt. Die Leistungen zum Lebensunterhalt hießen nun Arbeitslosengeld 2, § 19 Abs. 1 SGB II a.F., und Sozialgeld, § 28 SGB II a.F. Gleichzeitig erhielt die Sozialgerichtsbarkeit die Zuständigkeit für die neue Sozialleistung, § 51 Abs. 1 Nr. 4 SGG in der Fassung des Art. 22 des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt 24.12.2003 BGBl. I S. 2954, bzw. vor Inkrafttreten geändert: § 51 Abs. 1 Nr. 4a durch das Siebte Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes vom 9.12.2004 (BGBl. I S. 3302 mit Wirkung vom 1.1.2005).
Dagegen bot die Sozialhilfe im Zuge ihrer Einfügung in das SGB XII ein vergleichsweise vertrautes Bild. Sie wurde durch die neue Sonderzuweisung § 51 Abs. 1 Nr. 6a SGG (Sozialgerichtsgesetz) von der Zuständigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit in die Sozialgerichtsbarkeit überführt, Art. 38 Gesetz zur Einordnung des Sozialhilferechts in das SGB 27.12.2003 (BGBl. I S. 3022, geändert durch das Siebte Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes vom 9.12.2004, BGBl. I S. 3302 mit Wirkung vom 1.1.2005). Die Grundsicherung des GSiG wurde in das SGB XII integriert und damit formal Teil der Sozialhilfe. Im Kontrast zur Grundsicherung für Arbeitsuchende blieb die Sozialhilfe ihren überkommenen Strukturen weitergehend treu. Die Hilfe zum Lebensunterhalt hatte nur noch Auffangfunktion für Menschen, die selbst durch das Abgrenzungsmerkmal des SGB XII und SGB II „erwerbsfähig/nicht erwerbsfähig“ nicht erreicht wurden. Die sprachlichen Neuerungen, bspw. wurde aus der:dem Hilfebedürftigen des BSHG die:der Leistungsberechtigte des SGB XII (und die:der erwerbsfähige Leistungsberechtigte des SGB II) waren augenfällig. Einmalige Leistungen, § 31 SGB XII, gab es im Vergleich zum Bundessozialhilfegesetz nur noch wenige, § 21 Abs. 1a BSHG. Die Hilfen in besonderen Lebenslagen, § 27 BSHG, bekamen den Namen „Leistungen nach Kapitel 5 bis 9“, s.a. Überschrift des Zweiten Abschnitts des Elften Kapitels des SGB XII. Soweit sie nach § 27 Abs. 3 BSHG mit den Leistungen zum Lebensunterhalt bei teilstationären oder stationären Leistungen eine Einheit bildeten, wurde diese Einheit aufgehoben.
Die Hilfe zur Arbeit des BSHG wurde im SGB XII durch die Förderung bürgerlichen Engagements von Leistungsberechtigten jeden Alters und Gesundheitszustandes ersetzt, § 11 Abs. 3 und 4 SGB XII. Die im Gesetz vorgesehene Leistungsabsprache zur Überwindung einer Notlage, § 12 SGB XII blieb praktisch weitgehend bedeutungslos. Dies gilt auch für die vorgesehenen Leistungskürzungen wegen betätigungsbezogener Pflichtverletzungen, § 39a SGB XII.
Die Materie war und bleibt in ihrer Entwicklung sehr dynamisch: Zwischen dem 1.1.2005 bis zum Jahr 2022 zählte das SGB II 48 Änderungsgesetze zwischen 2005 und 2011 sowie 59 Änderungsgesetze zwischen 2011 und 2022, insgesamt also 107 Änderungsgesetze (6–7 pro Jahr). Das SGB XII kommt zwischen 2005 und 2022 auf 83 verzeichnete Änderungsgesetze (4–5 pro Jahr). Für das BSHG sind zwischen 1994 und seinem Außerkrafttreten zum 1.1.2005 35 Änderungsgesetze (3–4 pro Jahr) dokumentiert.
6 Sozialhilfe und Wahrung der Würde des Menschen
Auf die Formel der Wahrung der Würde des Menschen nehmen § 1 Abs. 1 SGB II und § 1 Satz 1 SGB XII ausdrücklich Bezug. Die Bezugnahme auf die Würde des Menschen in den beiden Regelungen fordert den von der Ewigkeitsgarantie Art. 79 Abs. 3 GG, erfassten Grundsatz der „unantastbaren Würde des Menschen“, Art. 1 Abs. 1 GG, heraus. „Unantastbarkeit“ der Würde ließe keine Einschränkung der Leistungen zu. Auch verliert der in Armut lebende Mensch nicht seine Würde als Mensch. Das Bundesverfassungsgericht hat einen Bezug zur Würde des Menschen hinsichtlich eines Rechtsanspruchs auf ein individuelles soziokulturelles Existenzminimum hergestellt. Diesen verfassungsrechtlich fundierten Rechtsanspruch leitet es aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG (Sozialstaatsprinzip) her. Aufgrund der Synthese beider verfassungsrechtlicher Grundsätze kann der Gesetzgeber das soziokulturelle Existenzminimum gesetzlich ausgestalten.
6.1 Sozialhilfe zur Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums
Die Sozialhilfe des SGB XII konkretisiert den aus der Würde des Menschen und dem Sozialstaatsprinzip, Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG, abgeleiteten Anspruch auf ein individuelles soziokulturelles Existenzminimum durch Bundesgesetz (BVerfG 9.2.2010 - 1 BvL 1/09). Diese Konkretisierung ist gesetzlich durch den parlamentarischen Gesetzgeber vorzunehmen, da die Verfassung selbst eine Quantifizierung des soziokulturellen Existenzminimums nicht erlaubt. Ausgangspunkt für das durch die Sozialhilfe zu gewährleistende Existenzminimum ist ein individueller, d.h. an den einzelnen Leistungsberechtigten, angepasster Bedarf. Dennoch dürfen die Leistungen nach Regelsätzen pauschalisiert werden.
Mit Inkrafttreten der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II wurden die Leistungen zum Lebensunterhalt dieser Grundsicherung Arbeitslosengeld 2 und Sozialgeld jedoch von den Regelsätzen der Sozialhilfe entkoppelt und an die Entwicklung der Renten angelehnt, § 20 Abs. 4 SGB II in der Fassung des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 29.12.2003 BGBl. I S. 2954, ohne dass die Leistungen auf das soziokulturelle Existenzminimum und seine statistisch/​normative Ableitung bezogen waren. Das Bundesverfassungsgericht trat dieser Konzeption zugunsten eines individuellen, soziokulturellen Existenzminimums entgegen, das in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu bemessen ist (BVerfG 9.2.2010 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09). Seitdem werden existenzsichernde Grundsicherungsleistungen auf einheitlicher Grundlage, dem Regelbedarfsermittlungsgesetz (RBEG) und §§ 28 ff. SGB XII bemessen. Verfassungsrechtlich ausschlaggebend ist, dass im Einzelfall die Möglichkeit besteht, von der regelhaften Pauschalisierung abzuweichen.
Die quantitative Festlegung der pauschalisierten Regelbedarfe, § 27a Abs. 3 SGB XII, erfolgt durch turnusmäßige Sonderauswertungen der Einkommens- und Verbrauchsstichproben des Statistischen Bundesamtes, § 1 RBEG, § 28 SGB XII. Die so empirisch statistisch ermittelten Verbrauchswerte werden einer inhaltlich wertenden Kontrolle unterzogen. Zunächst werden durch Entscheidung des federführenden Bundesministeriums für Arbeit und Soziales Beträge ausgeschlossen, für die es andere Sozialleistungen oder Vergünstigungen (Freistellung vom Rundfunkbeitrag) gibt. Es werden aber auch Beträge mit dem bloßen Hinweis ausgeschlossen, diese Ausgabenpositionen seien nicht existenzsichernd (Ausgaben für Alkohol/​Flugverkehr), die in der Stichprobe zum üblichen Lebensunterhalt gehören (BT-Drs. 19/2275). Durch Beschluss des jeweiligen RBEG durch den Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates entscheidet der Gesetzgeber schließlich über das „soziokulturelle Existenzminimum“. Die regelsatzrelevanten Verbrauchsausgaben sind in §§ 5 und 6 RBEG geregelt. Eine regelmäßige Anpassung der so ermittelten Regelbedarfe ist in § 28a SGB XII vorgesehen.
Das soziokulturelle Existenzminimum ist eine dynamische Größe und verändert sich mit dem tatsächlichen Lebenszuschnitt der statistischen Vergleichsgruppe sowie der Preis- und Lohnentwicklung, § 28a SGB XII. Die konkreten Beträge und deren Entwicklung seit 1.1.2011 können in der Anlage zu § 28 SGB XII eingesehen werden.
In der Folge der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen zu den Regelleistungen des SGB II wurden die Leistungen zum Lebensunterhalt des AsylblG einer verfassungsrechtlichen Kontrolle unterzogen. Die Leistungshöhe der Leistungen nach dem AsylblG war gesetzlich festgelegt. Sie wurde über Jahrzehnte nicht angepasst. Das Existenzminimum des betroffenen Personenkreises sollte von Beginn an deutlich unter dem Niveau der Sozialhilfe liegen. Damit sollte der Zuwanderungsanreiz gemindert werden und einem durch den kurzzeitigen Aufenthalt in der BRD niedrigeren Existenzminimum dieses Personenkreises Rechnung getragen werden (Leopold 2020, Rn. 2). Im Jahr 2012 (BVerfG 18.7.2012 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) stellte das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit der Leistungen fest. Daraufhin folgte eine Anpassung der Leistungen an das pauschalisierte Existenzminimum der Sozialhilfe, d.h es findet eine Festsetzung auf Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe sowie eine Fortschreibung des Regelbedarfe statt, § 3a Abs. 4 und 5 AsylbLG. Gleichwohl ist das Leistungsniveau in aller Regel niedriger als in der Sozialhilfe, § 3a Abs. 1–3 AsylbLG.
Zum 1.1.2023 trat eine Reform der Grundsicherung für Arbeitsuchende mit dem Bürgergeld-Gesetz (Zwölftes Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze – Einführung eines Bürgergeldes – [Bügergeld-Gesetz], BGBl. I S. 2328) in Kraft. Das soziokulturelle Existenzminimum, das als Bürgergeld anstelle Arbeitslosengeld II und Sozialgeld ausgezahlt wird, wird weiterhin in Anlehnung an die Regelbedarfe nach dem SGB XII bestimmt. Die individuelle Bedürftigkeit ist unter Veränderung der Modalitäten im Einzelfall weiterhin Voraussetzung für den Leistungsbezug. Der Gesetzgeber bemühte sich insbesondere, die vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG v. 5.11.2019 – 1 BVL 7/16) und letztlich, wie aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ersichtlich, auch praktisch gescheiterten Sanktionen zu reformieren.
Im nächsten Schritt steht die Überprüfung des Existenzminimums der Hilfen für Auszubildende nach dem BAföG an. Anders als die Gewährleistung des soziokulturellen Existenzminimums wird hier ein Anspruch aus einem Teilhaberecht des Art. 12 GG i.V.m. Art. 3 GG und dem Sozialstaatsprinzip Art. 20 Abs. 1 GG auf auskömmliche Leistungen angenommen. Eine Notlage soll im Gegensatz zu den anderen Personengruppen bei Auszubildenden nicht vorliegen, denn ohne die Ausbildung wären sie in der Lage sich selbst zu helfen. Insofern wäre es auch nur konsequent, dass die Bedarfssätze nach §§ 12 und 13 BAföG nicht an die Grundlagen des Regelbedarfsermittlungsgesetzes anknüpfen. Das BAföG vom 26.8.1971 hat jedoch ausweislich § 1 BaföG den Anspruch, für die Auszubilden den Lebensunterhalt und die für die Ausbildung erforderlichen Mittel zur Verfügung zu stellen. Beim Bundesverfassungsgericht ist eine entsprechende Richtervorlage durch das Bundesverwaltungsgericht erfolgt. In dieser Vorlage (BVerwG 20.5.2021 5 C 11.18 Rn 46 ff.) rügt das Bundesverwaltungsgericht die Entkoppelung der Bedarfssätze des BAföG von den Regelbedarfen des SGB XII.
6.2 Das medizinische Existenzminimum
Die Leistungen der Krankenhilfe nach § 48 SGB XII entsprechen den Leistungen der Krankenbehandlung, die die gesetzliche Krankenversicherung nach dem SGB V leistet, vgl. ausdrücklich § 48 S. 1 2. HS SGB XII. Die Angleichung der Leistungen fand bereits zur Zeit der Geltung des BSHG durch Art. 15 Sozialgesetzbuch – Neuntes Buch – (SGB IX) Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen vom 19.6.2001 (BGBl. I S. 1046), statt. Damit bildet der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung das medizinische Existenzminimum der Sozialhilfe ab (Hamdorf 2020, Rn. 51).
6.3 Das steuerrechtliche Existenzminimum
Noch in den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde das Existenzminimum besteuert. Damit die Erfüllung der Steuerpflicht aus Einkommen nicht zum Bezug von Transferleistungen der Sozialhilfe führt, ist das Existenzminimum steuerfrei zu stellen. Die jeweiligen Grundfreibeträge, die das steuerrechtliche Existenzminimum darstellen, werden im jeweiligen Jahressteuergesetz festgelegt, bspw. § 32a Abs. 1 EStG. Das BVerfG hat zur steuerlichen Belastung und zur Ausgestaltung von Grundfreibetragsregelungen mehrfach Stellung genommen. Für das steuerrechtliche Existenzminimum wurden unterschiedlichste grundrechtliche Anknüpfungspunkte (Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 1 GG oder Art. 3 GG; Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 14 Abs. 1 GG und Art. 12 Abs. 1 GG, Art. 6 GG) gewählt. Obgleich die verfassungsrechtliche Ableitung eine andere ist, knüpft die Quantifizierung des steuerrechtlichen Existenzminimums an das sozialhilferechtliche Existenzminimum an. Der Bundestag beschloss am 2.6.1995 (BT-Drs. 13/1558), dass die Bundesregierung alle zwei Jahre einen Bericht über die Höhe des zu erwartenden freizustellenden Existenzminimums von Erwachsenen und Kindern vorzulegen hat. Diese Berichte sind prognostisch angelegt. Hierdurch soll der Gesetzgeber in die Lage versetzt werden, durch steuergesetzliche Maßnahmen das Existenzminimum von einem Steuereingriff zu verschonen. Die Beträge werden in typisierender Form, aus dem sozialhilferechtlichen Regelbedarf, Bedarf für Unterkunft und Heizung, einmalige Hilfen (Wagner 2022, Rn. 28) ermittelt. Ausgehend von den im Bericht genannten Beträgen berechnet der Gesetzgeber den Grundfreibetrag regelmäßig neu (Wagner 2022, Rn. 39).
7 Sozialhilfe des SGB XII im gegliederten Sozialleistungssystem
Charakteristisch für das Sozialleistungssystem der Bundesrepublik Deutschland ist die Verteilung der unterschiedlichen Sozialleistungen für unterschiedliche Lebenslagen und Lebensrisiken auf zahlreiche unterschiedliche Sozialleistungsträger und entsprechend differenzierte Kodifizierung.
7.1 Grundsätzlicher Nachrang der Sozialhilfe des SGB XII
Formal zusammengefasst ist das Sozialleistungssystem im formellen Sozialrecht im Sozialgesetzbuch, dessen erster Teil, SGB I Sozialgesetzbuch Allgemeiner Teil (11.12.1975 BGBl. I S. 3015) bereits 1975 in Kraft trat. Das Sozialgesetzbuch umfasst die Sozialgesetzbücher I bis XIV (XIII ist unbesetzt) sowie die in § 68 SGB I als weitere besondere Teile des Sozialgesetzbuches benannten Gesetze, nicht jedoch das AsylbLG. Innerhalb dieses Systems hat die Sozialhilfe (zumindest grundsätzlich) die Aufgabe, Notlagen und Bedarfe, die durch Leistungen anderer Sozialleistungsträger nicht gedeckt werden, zu decken. Die Sozialhilfe ist in der Regel gegenüber allen anderen Leistungen nachrangig zuständig. Dieser systematische Nachrang wird jedoch gelegentlich auch durchbrochen.
7.2 Die Sozialhilfe im System des Sozialgesetzbuches
Die Bezüge der Sozialhilfe zu den anderen Teilen des Sozialgesetzbuches sind im Detail komplex. Vorrangig zur Sozialhilfe sind zwar Arbeitslosengeld 2 und Sozialgeld, d.h. seit 1.1.2023 das Bürgergeld des Sozialgesetzbuches II der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Ausnahmen bestehen hier aber im Verhältnis zur Grundsicherung für alte und erwerbsgeminderte Menschen nach dem SGB XII. Innerhalb der Sozialhilfe sind wiederum die Leistungen zum Lebensunterhalt gegenüber Grundsicherungsleistungen für alte und erwerbsgeminderte Menschen nachrangig. Die Leistungen zum Lebensunterhalt sind zudem nachrangig gegenüber allen Versicherungsleistungen, die Entgeltersatzleistungen darstellen. Allerdings liegt das weniger am systematischen Nachrang als daran, dass diese Leistungen in der Regel als Einkommen auf den Anspruch der Hilfe zum Lebensunterhalt oder der Grundsicherung für alte und erwerbsgeminderte Menschen angerechnet werden.
Die Sozialhilfe enthält auch Leistungen, die nicht zu den Leistungen zum Lebensunterhalt gehören, aber an spezifische Lebensrisiken und Lebenslagen anknüpfen. Hier bestehen weitere Verschränkungen mit anderen Sozialleistungen, die den Nachrang der Sozialhilfe durchaus infrage stellen können und eine differenziertere Betrachtung fordern:
Im Verhältnis zur sozialen Pflegeversicherung gilt, dass die Sozialhilfe mit der Hilfe zur Pflege die Leistungen der Versicherung ergänzt. Bei der sozialen Pflegeversicherung handelt es sich bereits der Konzeption nach nicht um eine Versicherung, die den gesamten Pflegebedarf einer Person deckt. Leistungen der Pflegeversicherung decken den Bedarf nur anteilig durch im SGB XI festgelegte Höchstbeträge. Den übersteigenden individuellen Bedarf muss der Leistungsberechtigte aus eigenen Mitteln beisteuern. Fehlen ihm diese Mittel, bietet die Hilfe zur Pflege, §§ 61 ff. SGB XII, qualitativ und quantitativ ergänzende Leistungen.
Die Krankenhilfe schließt mit ihrem Leistungsumfang an den gesetzlichen Leistungskatalog der Krankenbehandlung der gesetzlichen Krankenversicherung an, § 48, 1 SGB XII. Sie bildet damit das in der gesetzlichen Krankenversicherung vorgegebene medizinische Existenzminimum ab und ergänzt diese Leistungen weder in qualitativer noch in quantitativer Hinsicht.
Die Sozialhilfe umfasste bis zum 1.1.2020 mit der Eingliederungshilfe nach § 53 ff SGB XII in der Fassung vom 31.12.2019 auch die Leistungen zur Teilhabe für Menschen mit Behinderungen (Grube 2022, Rn. 8). Der Sozialhilfeträger war damit auch Rehabilitationsträger im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 7 SGB IX in der Fassung bis zum 31.12.2017. Durch das Bundesteilhabegesetz wurde die Eingliederungshilfe formal aus dem SGB XII und damit Sozialhilfe im engeren, formalen Sinne herausgelöst. Die Eingliederungshilfe ist nun im 2. Teil des SGB IX geregelt. Sozialpolitisch wurde dies als Befreiung der Eingliederungshilfe aus der Fürsorge betrachtet. In der Tat zeigt ein Vergleich der Einkommens- und Vermögensanrechnung der Sicherungssysteme ein deutliches Zurücktreten des Aspektes der finanziellen Bedürftigkeit des leistungsberechtigten Menschen mit Behinderung. Das Bundessozialgericht bescheinigte dem Gesetzgeber bereits die Schaffung einer der Sozialhilfe nicht mehr zuzuordnenden Sozialleistung (BSG v. 28.1.2021 B 8 SO 9/19 R; a.A.: LSG Sachsen v. 13.7.2022 L 8 SO 48/21). Die Länder hatten nach § 94 SGB IX die Träger der Eingliederungshilfe zu bestimmen. In der Regel sind nun dieselben Körperschaften wie zuvor in der Pflicht.
8 Sozialpolitische Perspektive
Solange und soweit der Bezug von Sozialhilfe als stigmatisierend betrachtet wird, die Orientierung am individuellen Bedarf und Existenzminimum als bürokratischer Ballast empfunden wird, werden Forderungen nach einer „einfacheren und nicht stigmatisierenden“ Mindestsicherung nicht verstummen. Die Diskussion um die Erweiterung der Grundsicherungssysteme für weitere Personen, wie die Kindergrundsicherung und das „neue“ „Bürgergeld“ (Bürgergeld-Gesetz v. 16.12.2022 BGBl. I S. 2328 zur Änderung des SGB II), zeigt deutlich, dass man im Gegensatz zur Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, trotz fortgeschrittener und fortschreitender Automatisierungsmöglichkeiten, der individuellen Existenzsicherung überdrüssig geworden ist. Das konsequent bedürftigkeitsunabhängige „Bürgergeld“ einzuführen, zieht keine politischen Mehrheiten an. Die Grundrente, § 76g SGB VI, mag grob in diese Richtung zielen. Da sie jedoch anteilig aus eigenen Vorleistungen finanziert ist, ist sie eine Reaktion auf die finanzielle Schwäche der Rentenversicherung, strukturelle gesellschaftliche Probleme der Verteilung und die monetäre Bewertung der Erwerbstätigkeit. Die Vorlagerung pauschal existenzsichernder Systeme vor eine individuelle Sozialhilfe entspricht sichtlich deutscher sozialstaatlicher (Krisen-)Tradition. Solange und soweit an der verfassungsrechtlichen Ausgangssituation eines individualisierten Existenzminimums festzuhalten ist, bleibt die Sozialhilfe allerdings unverzichtbar.
9 Quellenangaben
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Verfasst von
Prof. Dr. Angela Busse
Professur für Recht der Sozialen Arbeit insbesondere Sozialrecht
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Zitiervorschlag
Busse, Angela,
2023.
Sozialhilfe (Deutschland) [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 06.02.2023 [Zugriff am: 03.12.2023].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/29315
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