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Sozialpolitik

Lea Giulia Reiß, Prof. Dr. Martin Seeleib-Kaiser

veröffentlicht am 21.03.2022

Sozialpolitik umfasst alle staatlichen und gesellschaftlichen Maßnahmen, die der Absicherung von sozialen Risiken und Problemlagen dienen und zur Kompensation sozialer Nachteile beitragen. Sozialpolitik ist eng an staatliche Systeme sozialer Sicherung geknüpft, wird jedoch auch von nicht-staatlichen Akteuren gestaltet und umgesetzt.

Überblick

  1. 1 Zusammenfassung
  2. 2 Historische Ursprünge der Sozialpolitik
    1. 2.1 Das Altertum: Erste Beispiele der kollektiven Fürsorge
    2. 2.2 Das Mittelalter: Grundstein für die moderne Sozialpolitik
    3. 2.3 Frühe Neuzeit: Ausbau der kommunalen Sozialpolitik
    4. 2.4 Moderne: Die Entwicklung des Wohlfahrts- und Sozialstaates
    5. 2.5 Zeitgenössische Sozialpolitik
  3. 3 Begriffsverständnisse und theoretische Zugänge
    1. 3.1 Der Sozialpolitikbegriff im Wandel der Zeit
    2. 3.2 Das Normative Verständnis von Sozialpolitik
    3. 3.3 Sozialpolitik aus funktionalistischer Sicht
  4. 4 Instrumente der Sozialpolitik
  5. 5 Funktionale Äquivalente zu klassischen Instrumenten der Sozialpolitik
    1. 5.1 Fiskalische Sozialpolitik
    2. 5.2 Arbeitspolitik
    3. 5.3 Betriebliche Sozialpolitik
  6. 6 Internationale Sozialpolitik
  7. 7 Quellenangaben

1 Zusammenfassung

Der folgende Beitrag wendet sich dem vielfältigen Feld der Sozialpolitik zu und liefert unter Einbezug verschiedener Theorien und empirischer Studien einen grundlegenden Überblick. Nach einem Abriss der historischen Entwicklung der Sozialpolitik, mit einem besonderen Fokus auf Deutschland, werden unterschiedliche wissenschaftliche Definitionen des Begriffs „Sozialpolitik“ diskutiert. Daraufhin werden die klassischen Instrumente der Sozialpolitik entlang unterschiedlicher Struktur- und Gestaltungsprinzipien dargelegt, bevor ein Überblick über funktionale Äquivalente klassischer Sozialpolitikinstrumente folgt. Der Beitrag endet mit einem Ausblick auf die internationale Sozialpolitik.

2 Historische Ursprünge der Sozialpolitik

2.1 Das Altertum: Erste Beispiele der kollektiven Fürsorge

Sozialpolitik ist keine Erfindung der Moderne. Vielmehr sind „Vorkehrungen zum Schutz vor Risiken […] so alt, dass sich ihre Spur im Dunkel der Geschichte verliert“ (Stolleis 2001, S. 207).

Früheste Aufzeichnungen über Gesetzgebungen, die bestimmte benachteiligte Bevölkerungsgruppen unter besonderen Schutz stellten, fanden sich v.a. bei den potamischen und meso-potamischen Hochkulturen. So erließ der sumerische König Urukagina um 2.400 v.Chr. die ersten verzeichneten Sozialreformen, die mit einem grundlegenden Umbau des Steuersystems einhergingen und Steuererleichterungen für Waisen und Witwen vorsahen. Ebenfalls in Mesopotamien wurden in der ältesten schriftlich überlieferten Rechtssammlung der Menschheit (ca. 2.100 bis 2050 v.Chr.) Schutzbestimmungen für Waisen, Witwen und Arme festgehalten (Kramer 1956, S. 102). Ähnliche Beispiele der steuerlichen Umverteilungspolitik zu Gunsten schwächer gestellter Menschen sowie arbeitsrechtliche Reglementierungen für bestimmte Berufsgruppen finden sich auch in Ägypten und Babylonien im 17. Jahrhundert v.Chr. (Frerich und Frey 1996, S. 2).

In Europa finden sich die frühesten Beispiele sozialer Sicherungssysteme ab dem 4. Jh. v.Chr. in den Stadtstaaten des antiken Griechenlands und im Römischen Reich. So boten private Unterstützungskassen und solidarisch organisierte Krankenkassenvereine (collegia tenuiorum), die unter staatlicher Aufsicht standen, ihren Mitgliedern im Krankheitsfall Verpflegung, medizinische Versorgung durch Vereinsärzte und Darlehen zur finanziellen Kompensation des Einkommensausfalles (Tauchnitz 2004, S. 64; Frerich und Frey 1996, S. 4).

Rein staatliche bzw. herrschaftlich organisierte sozialpolitische Maßnahmen fanden sich unter anderem im Römischen Reich ab Ende des 2. Jh. v.Chr. Mit der Getreidegesetzgebung (lex frumentaria) etwa wurden die hauptstädtischen Getreidepreise zunächst ermäßigt, später erhielten Bedürftige festgesetzte Getreiderationen unentgeltlich. Diese Form der Armenfürsorge hielt sich über mehrere Jahrhunderte, wobei das Getreide im 3. Jh. n.Chr. durch Brot ersetzt wurde (Frerich und Frey 1996, S. 3 f.).

Das Bereitstellen von Fürsorge- und Ausgleichsleistungen bei beispielsweise Hungersnöten, Kriegen und Pandemien dienten in den oben genannten Fällen der Herrschaftssicherung. Die Hauptlast der sozialen Sicherung lag zu Zeiten der Antike jedoch auf den Familien bzw. Sippen (Boeckh et al. 2015, S. 8). Nichtsdestotrotz lassen sich erste Parallelen zur modernen Sozialpolitik erkennen: sei es die steuerliche Besserstellung von Bedürftigen, das Bereitstellen von Verpflegung oder Ausgleichs- und Hilfsleistungen in Krisensituation, wie sie auch während der COVID-19 Pandemie beobachtet werden konnten.

2.2 Das Mittelalter: Grundstein für die moderne Sozialpolitik

Die Geschichtsschreibung der Sozialpolitik setzt meist erst im Hochmittelalter an, da sich in dieser Epoche in weiten Teilen Europas angesichts anhaltender Kriege und Pandemien und der damit verbundenen, weitverbreiteten Armut erste Formen kollektiver sozialer Sicherung etablierten. Somit ist die Geschichte der Sozialpolitik eng mit der Geschichte der Armut verknüpft.

Insbesondere die Christliche Soziallehre prägte das Europäische Fürsorgewesen des Mittelalters, welches durch die Entstehung erster Spitäler und die Einführung eines Almosenwesens gekennzeichnet war (Sachße und Tennstedt 1998, S. 28). Insbesondere Kirchen, Klöster und Orden unterhielten karitative Einrichtungen, wie Leprosen- und Pesthäuser (Stolleis 2001, S. 211). Darüber hinaus brachten sich sowohl kirchlich-religiöse Institutionen als auch das mit der Städteentwicklung des 11. Jahrhunderts entstandene Bürgertum im Almosenwesen ein (Sachße und Tennstedt 1998, S. 29). Mit zunehmender Säkularisierung nahmen ab dem 13. und 14. Jahrhundert ‚weltliche‘ Akteure eine stärkere Rolle im Fürsorgewesen in Deutschland ein. Insbesondere die Angebote der kommunalen Armenpflege wurden hierbei massiv ausgebaut. Viele Städte gründeten eigene Spitäler oder setzten Stadtärzte in den bereits bestehenden ein, zudem übernahmen die Kommunen vielerorts die Verwaltung vormals kirchlicher Unterstützungseinrichtungen und Stiftungen (Frerich und Frey 1996, S. 7 f.).

Neben kirchlichen, bürgerlichen und kommunalen Akteuren trugen im Hoch- und Spätmittelalter auch Genossenschaften, Gesellenbruderschaften und Knappschaften, Innungen und Zünfte und ähnliche Zusammenschlüsse einen Teil zur Ausbildung sozialer Sicherungssysteme in Europa bei. Diese Zusammenschlüsse dienten nicht nur der wirtschaftlichen Absicherung ihrer Mitglieder (bspw. beim Warentransport), sondern sie setzten auch Arbeits- und Qualitätsstandards für die jeweilige Branche und etablierten Unterstützungskassen für ihre Mitglieder (Dietz, Frevel und Toens 2015, S. 20 f.). So ist die Geburtsstunde der ersten Sozialversicherung im europäischen Raum mit der Bruderschaft der Bergleute des Bergwerks Rammelsberg bei Goslar auf das Jahr 1260 datiert (Boeckh et al. 2015, S. 9). Als solidarisch organisierter Zusammenschluss, ließ diese ihren Mitgliedern bei Krankheit und Invalidität sowie im Ruhestand finanzielle Hilfe zukommen. Darüber hinaus erhielten auch die Hinterbliebenen von im Bergbau verunglückten Mitgliedern Unterstützungsleistungen (Frerich und Frey 1996, S. 12 f.). Ihre Gründung stellt somit ein Vorläufer moderner genossenschaftlicher Kranken-, Unfall- und Rentenversicherungen dar.

2.3 Frühe Neuzeit: Ausbau der kommunalen Sozialpolitik

Mit Beginn des 16. Jahrhunderts vollzog sich ein grundlegender Wandel des Fürsorgewesens, welcher sich insbesondere in der Kommunalisierung und Bürokratisierung der Armenfürsorge äußerte (Sachße und Tennstedt 1998, S. 30 f.).

Angesichts der fortschreitenden Abwanderung vom Land in die Städte und der damit verbundenen neuen Armut verpflichtete Kaiser Karl V (1500-1558) die Kommunen, sich der Armut der Bevölkerung anzunehmen. In diesem Zuge entstanden die sogenannten Bettelordnungen, die das Betteln reglementierten und Zugangsvoraussetzungen für Hilfen definierten. Obgleich schon früher Kriterien der Bedürftigkeit im Almosenwesen vorlagen, gingen die Bettelordnungen erstmals mit Institutionen für deren Überprüfung einher (Sachße und Tennstedt 1998, S. 33). Es wurde fortan strikt zwischen würdigen und unwürdigen Armen differenziert (Boeckh et al. 2015, S. 10).

Als würdig galten all jene Notleidenden, die unverschuldet in Armut gerieten, bspw. durch den Verlust der Arbeit oder aufgrund von Krankheit oder Behinderung. Sie wurden in Armenlisten erfasst und erhielten öffentliche Almosen aus den sogenannten Armenkassen, welche aus privaten Spenden, kirchlichen Kollekten, Strafgeldern und Steuern gespeist wurden. Die Verwaltung der Kassen oblag in der Regel einem kommunalen Armenkollegium, welches unter Aufsicht des Magistrats stand (Richel 1904, S. 398 f.). Des Weiteren erhielten würdige Arme mancherorts Verpflegung, welche von den Kommunen gesammelt und bereitgestellt wurde. Unwürdige Arme, namentlich solche, die trotz körperlicher Gesundheit keiner Erwerbsarbeit nachgingen, den Kirchenbesuch scheuten oder zur Trunkenheit neigten, wurden von der öffentlichen Fürsorge ausgeschlossen (ebd., S. 400). Diese Unterscheidung hat bis heute einen Einfluss auf Sozialpolitik; regelmäßig wird alten Menschen und Menschen mit Behinderung eine höhere Bedürftigkeit (deservingness) zugeschrieben als Arbeitslosen oder Einwander:innen (Oorshot 2006).

Nach englischem und niederländischem Vorbild entstanden ab dem 17. Jahrhundert in ganz Europa Arbeitshäuser, in welchen unwürdige Arme, die nicht aus eigenem Antrieb einer Erwerbstätigkeit nachgingen, zur Arbeit gezwungen wurden. Im Fokus der Arbeitshäuser stand nicht die Unterstützung der von Arbeitslosigkeit betroffenen Individuen, sondern die Umsetzung der Arbeitspflicht (Boeckh et al. 2017, S. 19 f.; Boeckh et al. 2015, S. 10). Diese Institutionen dienten vor allem der Beschaffung und Disziplinierung von Arbeitskräften (Sachße und Tennstedt 1998, S. 131). Sie sollten somit einen Beitrag zur öffentlichen Ordnung und Sicherheit leisten und als Anreiz zur freiwilligen Aufnahme einer Arbeit fungieren (Stolleis 2001, S. 2014).

Nichtsdestotrotz zeigen die Armen- und Bettelordnungen des 16. und 17. Jahrhunderts damit deutliche Gemeinsamkeiten zur zeitgenössischen Armenfürsorge. Diese Parallelen umfassen, so Boeckh et al. (2017, S. 16), ein Recht auf ein Mindestmaß an Fürsorge, die Differenzierung von würdigen und unwürdigen Armen, die Mitwirkungspflicht, das Prinzip ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘ und die Schlechterstellung von Fürsorgeleistungen im Vergleich zur Lohnarbeit.

2.4 Moderne: Die Entwicklung des Wohlfahrts- und Sozialstaates

Die nächste Entwicklungsstufe der Sozialpolitik markierte den Wandel von „der Sozialpolitik für Wenige zur sozialen Sicherung der Vielen“ (Schmidt 2005, S. 21), beginnend mit dem Preußischen Allgemeinen Landrecht, welches 1794 die Fürsorgepflicht des Staates gegenüber der armen Bevölkerung rechtlich festsetzte (Reiter 2017, S. 88; Frerich und Frey 1996, S. 17). Des Weiteren kodifizierte das Gesetzeswerk das Prinzip des Heimatrechts für die Armenfürsorge, verpflichtete also die Geburts- bzw. Heimatkommunen zur Unterstützung der rasant steigenden in Armut lebenden Bevölkerung (Boeckh et al. 2017, S. 37).

Angesichts der anhaltenden, durch die Frühindustrialisierung begünstigte Binnenmigration in Preußen, welche durch einen starken Zuzug in die Städte gekennzeichnet war, wurde die Last in der Armenfürsorge für die Heimatkommunen immer größer. Mit entsprechenden Gesetzgebungen reagierte zunächst Preußen (1842, 1855) und später der Norddeutsche Bund bzw. das Deutsche Reich (1870/71). Das Unterstützungswohnsitzgesetz von 1870/71 trat an Stelle des Heimatrechts und verpflichtete die deutschen Staaten auf wechselseitige Übernahme der Verantwortung für die öffentliche Armenfürsorge. Diese sollte fortan dezentral und nach dem Prinzip der Subsidiarität organisiert werden. Dieser Schritt begründete somit das Wohnsitzprinzip, welches bis heute die deutsche Sozialpolitik kennzeichnet (Reiter 2017, S. 90; Sachße und Tennstedt 1998, S. 199–205).

Der Erlass des Preußischen Verbots der industriellen Kinderarbeit im Jahr 1839 markierte einen weiteren sozialpolitischen Meilenstein der deutschen Sozialgeschichte. Er war „gegen die unmittelbaren Erwerbsinteressen der Fabrikanten“ (Reidegeld 2006a, S. 47; Wendt 2017, S. 284) gerichtet und stellte somit einen Bruch mit vorangegangenen wirtschaftsliberalen Reformen Preußens dar. Die Einführung dieses ersten sozialen Mindeststandards nach englischem Vorbild erfolgte allerdings aus zweckrationalen Gründen: die Industriearbeit schädigte die Kinderkörper derart, dass Jungen in Folge nicht mehr für den Militärdienst geeignet waren (Boeckh et al. 2015, S. 11; Reidegeld 2006a, S. 51). Auch waren die Kinder durch die harte körperliche Arbeit oft zu erschöpft, um dem schulischen Unterricht zu folgen. Mangelnde Bildung barg wiederum die Gefahr einer weiteren Pauperisierung der Bevölkerung (Wendt 2017, S. 284). Somit markierte das Verbot gleichzeitig erste Bemühungen, die allgemeine Schulpflicht durchzusetzen (Reiter 2017, S. 89).

Mit der Entstehung des Deutschen Reichs im Jahr 1871 formierte sich die Sozialpolitik nun auch auf nationalstaatlicher Ebene. Daneben etablierte sich jedoch auch der sogenannte dritte Sektor im Fürsorgebereich. Mit dem Wiedererstarken der Kirchen entstanden die ersten Wohlfahrtsverbände. 1848 gründete sich der ‚Centralausschuss für die Innere Mission der deutschen evangelischen Kirche‘ (heute Diakonie) gefolgt von dem ‚Caritasverband für das katholische Deutschland‘ im Jahr 1897. Die ‚Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden e.V.‘ reihte sich 1917 zu den Wohlfahrtsverbänden. Weltliche Verbände folgten nur kurze Zeit später: 1919 wurden die Arbeiterwohlfahrt und 1921 das Deutsche Rote Kreuz gegründet (Reiter 2017, S. 91). Diese Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege stellen bis heute wichtige sozialpolitische Akteure in Deutschland dar und sind maßgeblich mit der Erbringung sozialer Dienstleistungen betraut. Mit dem Erstarken des Verbändewesens verbreiteten sich zudem die Hilfskassen, deren Ursprung in der Knappschaft von 1260 lag (s.o.), weiter im Handwerk, in der Industrie und im Bergbau. Auch in einzelnen Kommunen und auf betrieblicher Basis entstanden erste Krankenkassen (ebd., S. 90). Große Teile der Industriearbeitenden blieben jedoch weiterhin ohne Schutz.

Durch die Industrialisierung und die damit einhergehende Verlagerung der sozialen Frage hin zur Arbeiterfrage wurde offensichtlich, dass die bisherigen vereinzelten und unkoordinierten Maßnahmen sozialer Fürsorge nicht ausreichten, um die gesellschaftlichen Missstände insbesondere in der Industriearbeit zu beheben. Angetrieben durch Sozialrevolutionär:innen, wie Karl Marx und Friedrich Engels formierten sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts massive Proteste unter der Arbeiterschaft. Gleichsam organisierten sich Arbeiter:innen in Parteien und Verbänden, die die Lage der Arbeiter:innen weiter in die Öffentlichkeit rückten und sozialistischen Ideologien Aufwind gaben (Reiter 2017, S. 91 f.).

Das Erstarken der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung bewegte das Deutsche Reich zur Gegenreaktion. Nachdem die institutionelle Einschränkung der neuen Arbeiterbewegung mittels des Sozialistengesetzes (1878) kaum Erfolge verzeichnete, initiierte Reichskanzler Otto von Bismarck im Jahr 1881 seine berühmte Sozialgesetzgebung. Diese sollte durch Förderung des Arbeiterwohls zur sozialen Schlichtung beitragen und so den Sozialist:innen die Argumentationsgrundlage entziehen (s.o. zu den politischen Funktionen der Sozialpolitik). Diese Logik spiegelte sich auch in den von Bismarck vorgetragenen Botschaft Kaisers Wilhelm I. am 17. November 1881 wider:

„Schon im Februar dieses Jahres haben Wir Unsere Überzeugung aussprechen lassen, daß die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sein werde.“ (Ayass, Tennstedt und Winter o.J.)

Das in Folge begründete staatliche Sozialversicherungssystem, bestehend aus Kranken-, Unfall-, Alters- und Invalidenversicherung, hob sich insofern von den vorangegangenen sozialpolitischen Bemühungen ab, als dass die Leistungen auf dem Beitragsprinzip basierten und entsprechend soziale Rechte darstellten – im Gegensatz zu den im Ermessen der staatlichen Akteure stehenden Fürsorgeleistungen (Butterwegge 2006, S. 35). Zu Anfang standen die Sozialversicherungen lediglich den Arbeiter:innen offen. Erst mit Beginn des 20. Jahrhunderts wurden auch Angestellte in die Sozialversicherungen einbezogen.

Deutschland hatte eine Pionierrolle bei der Entwicklung der sozialen Sicherung inne, der weitere Industrienationen sukzessive folgten. Insbesondere Systeme zur Risikoabsicherung gegen Arbeitsunfälle, Krankheit oder Arbeitslosigkeit, aber auch Formen der Alterssicherung konnten sich noch vor dem ersten Weltkrieg in weiten Teilen Westeuropas etablieren. Dabei begannen sich die Unterschiede zwischen versicherungsbasierten und universellen Sicherungssystemen abzuzeichnen (Näheres zu den unterschiedlichen Modellen sind im Artikel über den Sozialstaat zu finden).

Ab 1914 stand die deutsche Sozialpolitik dann ganz im Zeichen des Ersten Weltkrieges. Neben Einschränkungen war jedoch das Reich auch bestrebt, sozialpolitische Flankierungen vorzunehmen, um die Legitimität in der Arbeiterschicht zu erhöhen. Die Altersgrenze der Rentenversicherungen wurde 1916 zwischen Angestellten und Arbeiter:innen angeglichen und Militärdienstzeiten ließen sich nun auf Anwartschaft- und Wartezeiten anrechnen. Die sogenannte Wochenhilfe (1914/15) gewährte Ehefrauen krankenversicherter Kriegsteilnehmender und nicht krankenversicherter Ehefrauen im Kriegsunterstützungsbezug Mutterschaftsschutz (Reidegeld 2006a, S. 332).

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Serie an Sozialreformen weiter fortgesetzt. Es kam zur Herausbildung einer eigenständigen, von der Armenpflege unabhängigen Jugendfürsorge und zur Etablierung einer Kriegsopferversorgung. Überdies wurde das Rentenniveau erheblich angehoben und die Armenfürsorge neu strukturiert (Boeckh et al. 2015, S. 13; Schmidt 2005, S. 48). Überaus bedeutende Folgen brachte jedoch die Einführung der reichsweiten obligatorischen Arbeitslosenversicherung mit dem ‚Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung‘ im Jahr 1927 mit sich. Die Expansion der deutschen Sozialpolitik kam mit der Weltwirtschaftskrise des Jahres 1929 allerdings zum Erliegen. Die Arbeitslosenversicherung selbst, die auf Zeiten wirtschaftlicher Expansion und Stabilität ausgelegt war, stieß angesichts des rasanten Anstiegs der Arbeitslosigkeit relativ schnell an ihre Grenzen; entsprechend wurden Leistungen und Versichertenkreis wieder eingeschränkt (Schmuhl 2003; Adamy und Steffen 1982).

Die NSDAP nutzte die schwere soziale, wirtschaftliche und politische Ausnahmesituation politisch aus; von lediglich 2,8 Prozent im Jahr 1928 (12 Mandate) konnte die nationalsozialistische Partei schließlich ihren Stimmanteil im Reichstag auf 37,4 Prozent (230 Mandate) in der Wahl vom 31. Juli 1932 ausbauen (Reidegeld 2006b, S. 292). Im Dritten Reich wurde Sozialpolitik systematisch zur Kriegsvorbereitung, Herrschaftssicherung und Stärkung der völkischen Ideologie angewandt. Die bereits angelegten sozialpolitischen Sicherungssysteme, etwa die Sozialversicherungen, blieben dabei in ihrer Struktur weitgehend unangetastet. Ab 1939 wurden Sozialleistungen spürbar aufgebessert. Dies hatte militärpolitisches Kalkül, sollte aber auch bspw. im Falle der Kinderzuschüsse zur Realisierung des nationalsozialistischen Familien- und Bevölkerungskonzeptes dienen (Schmidt 2005, S. 63).

Die Anwendung der faschistischen Ideologie des NS-Regimes wurde dabei insbesondere über die NS-Volkswohlfahrt vorangetrieben, während die vormaligen Verbände der freien Wohlfahrtspflege entweder verdrängt oder verboten wurden. Soziale Fürsorge wurde fortan als ‚Dienst an der Rasse‘ verstanden und sollte jenen deutschen ‚Volksgenossen‘ zugutekommen, die ‚erbgesund‘ und als ‚völkisch besonders wertvoll‘ galten. Mittels der Rassengesetzgebung fand 1936 das Ausnahmerecht gegenüber bestimmten sozialen Gruppen (entlang politischer und rassenideologischer Trennlinien) auch Einzug in das Sozialversicherungsrecht. Beispielsweise wurden all jene aus der Rentenversicherung ausgeschlossen, die sich nach der Machtübernahme Hitlers ‚staatsfeindlich‘ betätigt hatten. Als ‚rassisch minderwertig‘ betrachtete Menschen wurden von Fürsorgeleistungen ausgenommen (Reidegeld 1989).

2.5 Zeitgenössische Sozialpolitik

Die Grundlagen der Sozialpolitik wurden, wie die vorangegangenen Abschnitte deutlich machten, primär im 19. und 20. Jahrhundert angelegt. Dennoch kam es in der Nachkriegszeit zu vielfältigen sozialpolitischen Veränderungen und Transformationsprozessen. Aufgrund der Fülle der Reformen, die den Auf-, Aus- und Umbau der Wohlfahrtsstaaten weltweit ab 1945 begleiteten soll an dieser Stelle nur auf vereinzelte Ereignisse eingegangen werden (eine weiterführende Auseinandersetzung mit den sozialpolitischen Etappen der BRD ab 1945 finden sich im Lexikon-Beitrag zum Sozialstaat).

Die Nachkriegszeit wird häufig in der Sozialpolitikforschung als „goldenes Zeitalter“ bezeichnet (Lessenich 2013). In Westeuropa und Nordamerika basierte dieses idealtypisierend auf Vollbeschäftigung und einer sozialrechtlichen Absicherung der sozialen Risiken des männlichen Ernährers und abgeleiteten sozialrechtlichen Ansprüchen der Ehefrau und Kinder (Gleichen und Seeleib-Kaiser 2018; Lewis 1992). Aufgrund der unterschiedlichen Stärke der Arbeiterbewegung und der Christdemokratischen Parteien in den verschiedenen Ländern bildeten sich im Wesentlichen drei unterschiedliche Modelle bzw. Regime staatlicher Sozialpolitik heraus: das sozialdemokratische, christdemokratische und liberale Regime (Esping-Andersen 2013 [1990]).

Seit Mitte der 1970er Jahre waren die Wohlfahrtsstaaten in den wohlhabenden Demokratien verschiedenen Transformationen (Leisering 2000) ausgesetzt. Über die Zeit kam es zu einer „doppelten Transformation“. Diese war einerseits von Einschränkungen im Bereich der klassischen sozialen Sicherungssysteme, etwa der Arbeitslosen- und Rentenversicherungen gekennzeichnet. Andererseits wurden familienpolitische Leistungen (Kinderbetreuung, Elternzeit und Elterngeld) ausgeweitet (Bleses und Seeleib-Kaiser 2004). Die Einschränkungen im Bereich der klassischen Sozialleistungen waren zudem von einer Dualisierung charakterisiert, wonach Leistungen für Arbeitsmarkt-Insider kaum eingeschränkt wurden, Arbeitsmarkt-Outsider jedoch zunehmend auf bedürftigkeitsgeprüfte Mindest- bzw. Grundsicherungsleistungen angewiesen sind (Seeleib-Kaiser, Saunders und Naczyk 2012).

3 Begriffsverständnisse und theoretische Zugänge

Der Begriff ‚Sozialpolitik‘ lässt sich, wie so viele zentrale Begriffe der Sozialwissenschaften, aufgrund der Fülle an Bedeutungszuschreibungen nur schwer bestimmen. Er unterlag dem historischen Wandel und wird je nach theoretischem Hintergrund unterschiedlich ausgelegt. Für den weiteren Verlauf wird Sozialpolitik als Gesamtheit aller Maßnahmen verstanden, welche sich der Absicherung zentraler sozialer Risiken, wie etwa Alter, Arbeits- oder Erwerbslosigkeit, Behinderung und Krankheit, verschreiben und sozialen Problemlagen sozial-investiv bzw. kompensatorisch begegnen.

3.1 Der Sozialpolitikbegriff im Wandel der Zeit

Seit seiner erstmaligen Verwendung im deutschsprachigen Raum Mitte des 19. Jahrhunderts unterlag der Begriff ‚Sozialpolitik‘ kontinuierlicher Bedeutungswandel. Während das Wort ‚sozial‘, zurückgehend auf das lateinische ‚societalis‘, in vielen Sprachen eng mit dem Gesellschaftsbegriff verknüpft war und eine lange Tradition der Verwendung aufwies, war dies im Deutschen nicht der Fall (Kaufmann 2001, S. 9). ‚Sozial‘ bürgerte sich erst in den 1830er Jahren im deutschsprachigen Raum ein und war – im Gegensatz zum englischen und französischen Pendant – stärker normativ ausgerichtet (ebd., S. 14). Angesichts des anhaltenden Pauperismus im 19. Jahrhundert wurden die Begriffe ‚sozial‘ und entsprechend auch ‚Sozialpolitik‘ zunächst eng an die Armutsfrage geknüpft (Kaufmann 2001, S. 14). Sozialpolitik verwies hierbei auf Maßnahmen, die zur Lösung der ‚sozialen Frage‘ beitragen sollten. Allerdings fiel die Verwendung des Begriffs sowohl im wissenschaftlichen als auch im politischen Diskurs zunächst spärlich aus (Kaufmann 2001, S. 26 f.).

Mit der Industrialisierung und der damit verbundenen Herausbildung neuer sozialer Problemlagen, rückte die ‚Arbeiterfrage‘ zunehmend in den gesellschaftlichen Fokus. ‚Sozialpolitik‘ wurde eng mit dieser in Verbindung gebracht und wandelte sich von einem kaum genutzten Terminus zu einem gesellschaftlichen und politischen Schlagwort (Kaufmann 2001, S. 35). Sozialpolitik implizierte fortan alle Bestrebungen insbesondere von Betrieben und Unternehmen, aber auch der Arbeitnehmenden selbst, zur sozialen Absicherung der Industriearbeitenden (Achinger 1979, S. 161).

Mit Bismarcks Sozialgesetzgebung bzw. dem Auf- und Ausbau des Wohlfahrtsstaates in der Weimarer Republik wurde Sozialpolitik mehr und mehr als Politik in staatlicher Verantwortung verstanden. Darüber hinaus begann der Begriff sich von den Industriearbeitenden zu lösen und beschrieb auch Maßnahmen zur Absicherung der Gesamtbevölkerung (Kaufmann 2002, S. 25; Kaufmann 2001, S. 37) Trotzdem sollte die Absicherung des männlichen Ernährermodells (und abgeleiteten sozialrechtlichen Ansprüchen für Ehefrau und Kinder) noch über Jahrzehnte im Mittelpunkt der Sozialpolitik in vielen Industriestaaten stehen (Gleichen und Seeleib-Kaiser 2018). Seit dem zweiten Weltkrieg fand der Begriff auch international Einzug in den politischen und wissenschaftlichen Diskurs und wird seither meist mit wohlfahrtsstaatlicher Politik gleichgesetzt (Kaufmann 2002, S. 25 f.).

3.2 Das Normative Verständnis von Sozialpolitik

Welche sozialen Bedarfslagen als ‚Problem‘ wahrgenommen und entsprechend sozialpolitisch angegangen werden, hängt stark von weltanschaulichen und gesellschaftlichen Normen ab. Soziale Probleme und Risiken werden somit vor dem Hintergrund normativer Vorstellungen sozial konstruiert (Bäcker et al. 2010, S. 53). Doch auch die konkrete Gestaltung der Sozialpolitik, d.h. welcher Instrumente sich die Sozialpolitik bedient, „ist immer auch Ausdruck von Leitbildern und Wertvorstellungen“ (Bäcker, Naegele und Bispinck 2020, S. 10).

Entsprechend lassen sich unterschiedliche Entwicklungen der Sozialpolitik in wohlhabenden demokratischen Staaten anhand unterschiedlicher normativer Vorstellungen erklären, die in den jeweiligen Ländern vorherrschen. So steht in manchen Staaten die Armutslinderung, in anderen Staaten die Bewahrung der sozialen Stabilität oder die soziale und ökonomische Umverteilung im Vordergrund (Goodin et al. 1999; Goodin 1988).

3.3 Sozialpolitik aus funktionalistischer Sicht

Die funktionalistische Sicht versteht Sozialpolitik zunächst als Reaktion auf sich verändernde soziale Risiken und Probleme. So hat der US-amerikanische Soziologe Wilensky (1974, S. 28) darauf hingewiesen, dass wohlhabende Staaten, unabhängig von ihrem jeweiligen politischen bzw. wirtschaftlichen System, Sozialpolitiken zur Bearbeitung sozialer Risiken und Bedarfe entwickeln. Als Risikoabsicherungs- und -bewältigungsinstrument passt sie sich dabei den sich im steten Wandel befindlichen Lebens, Arbeits- und Familienformen an (Bonoli 2005). Sozialpolitik ist somit Folge von sozialen Bedarfen und den zur Verfügung stehenden ökonomischen Ressourcen.

Gleichzeitig kommt der Sozialpolitik eine Reihe von politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Funktionen zu. So nimmt Sozialpolitik eine regulierende und pazifizierende Funktion zur Stabilisierung und Legitimation von politischen Gemeinwesen sowie der Ökonomie ein (so bereits Piven und Cloward 1971; Offe 1969). Deutlich wird diese Funktion auch in vielen gegenwärtigen Autokratien, in denen die Sozialpolitik, neben unterschiedlichen Formen der Unterdrückung, gezielt dafür eingesetzt wird, Loyalität bestimmter Bevölkerungsgruppen zu ‚erkaufen‘ (Eibl 2020). Hiermit unterscheiden sich die gegenwärtigen Regime nicht fundamental von ihren Ursprüngen im autokratischen Deutschen Reich (Wehler 1995). In Westeuropa gingen oftmals soziale Unruhen und Spannungen großen sozialpolitischen Reform- und Transformationsprozessen voraus (Kaufmann 1997, S. 37).

Zudem kommen Sozialpolitik unterschiedliche ökonomische Funktionen zu – neben politischer Stabilität, Voraussetzung für nachhaltiges ökonomisches Wachstum, zählen hierzu u.a. die Förderung des Humankapitals sowie die Stabilisierung der ökonomischen Nachfrage in Krisenzeiten (bereits Briefs 1930 und Vobruba 1989) Die neuere Literatur zu den Varianten des Kapitalismus verweist speziell auf die Funktion einer umfassenden Arbeitslosenversicherung bzw. eines Kündigungsschutzes für die Ausbildung und den Erhalt bestimmter spezifischer Fähigkeiten und Fertigkeiten in koordinierten Marktökonomien, wie etwa der bundesdeutschen Wirtschaft, im Gegensatz zu liberalen Marktökonomien, wie bspw. den USA (Estévez-Abe, Iversen und Soskice 2001). Die ökonomische Stabilisierungsfunktion wurde im Rahmen der COVID-19 Krise eindrücklich unter Beweis gestellt – in vielen Ländern hat in diesem Zusammenhang – neben den klassischen Arbeitslosenversicherungen -- gerade das Kurzarbeitergeld eine tragende Rolle zur gesellschaftlichen und ökonomischen Stabilisierung gespielt (u.a. Cantillon, Seeleib-Kaiser und Veen 2021).

4 Instrumente der Sozialpolitik

Die Instrumente, die der Sozialpolitik zur Bearbeitung sozialer Risiken und Problemlagen zur Verfügung stehen, sind äußerst vielfältig und lassen sich nur schwer katalogisieren. Sie unterscheiden sich bspw. hinsichtlich ihrer Ziele, Zielgruppen, Zugangsvoraussetzungen sowie ihrer Art der Finanzierung. Des Weiteren lassen sie sich anhand des Zeitpunktes ihrer Erbringung differenzieren: sozialpolitische Instrumente können sowohl präventiv als Vorsorgeleistung zur Abwendung sozialer Risiken als auch reaktiv bzw. kompensatorisch nach Eintritt einer sozialen Problemlage ansetzen. Auch die Art der Erbringung, Geld- vs. Sachleistung, stellt ein wichtiges Unterscheidungskriterium dar.

Die Instrumente der Sozialpolitik unterliegen dabei unterschiedlichen Prinzipien bzw. Logiken, die nach Struktur- und Gestaltungsprinzipien unterteilt werden können:

Strukturprinzipien

  1. Das Versicherungsprinzip: Leistungen nach dem Versicherungsprinzip basieren auf Versicherungsbeiträgen und stehen i.d.R. nur versicherten Personen zur Verfügung. Beispiele hierfür sind die gesetzlichen Kranken-, Renten-, Unfall-, Pflege- und Arbeitslosenversicherungen.
  2. Versorgungsprinzip: Leistungen nach dem Versorgungsprinzip werden staatlich finanziert und stehen dem Grunde nach allen Bürger:innen offen (universeller Charakter). In Deutschland richten sich Leistungen nach dem Versorgungsprinzip an spezifische Gruppen (etwa Kriegsopfer oder Beamte) und fungieren als Entschädigung bzw. Kompensation.
  3. Fürsorgeprinzip: Leistungen nach dem Fürsorgeprinzip stehen nur bedürftigen Personen zu. Als Beispiel kann die Sozialhilfe genannt werden, welche Personen offensteht, die ihren Lebensunterhalt nicht eigenständig sichern können.

Gestaltungsprinzipien

  1. Solidarprinzip: Das Solidar- bzw. das Solidaritätsprinzip ist die Grundlage moderner Sozialpolitik. Es bedeutet, dass Mitglieder einer Solidargemeinschaft (etwa Staatsbürger:innen bzw. Mitglieder einer Krankenversicherung) nicht allein für sich verantwortlich sind, sondern sich gegenseitig unterstützen.
  2. Äquivalenzprinzip: Das Äquivalenzprinzip ist ein grundlegendes Prinzip in vielen Sozialversicherungen (etwa der deutschen Arbeitslosen- und Rentenversicherung). Es beruht auf der Idee, dass Versicherte, die hohe Sozialversicherungsbeiträge gezahlt haben, auch einen Anspruch auf entsprechend hohe Leistungen haben. Mit anderen Worten: das Äquivalenzprinzip reflektiert die individuelle Leistungsfähigkeit der Versicherten. Entsprechend spiegeln sich ungleiche Markteinkommen auch in den Leistungen der Sozialversicherung wider.
  3. Subsidiaritätsprinzip: Das Subsidiaritätsprinzip geht auf die katholische Soziallehre zurück und besagt, dass eine Aufgabe möglichst von der kleinsten Einheit übernommen werden soll. Nur sofern diese Einheit nicht in der Lage ist, ihre Aufgabe zu erfüllen, übernehmen übergeordnete Einheiten die Verantwortung. Bei Mindestleistungen basierend auf dem Subsidiaritätsprinzip, etwa den verschiedenen Grundsicherungsleistungen der bundesdeutschen Sozialpolitik, geht man davon aus, dass zunächst der:die Einzelne alle Anstrengungen unternimmt, die Bedürftigkeit abzuwenden, bzw. die Familie Unterstützung leistet. Nur sofern diese Unterstützung unzureichend ist, springt der Staat ein. In Deutschland greift das Subsidiaritätsprinzip auch bei der Erbringung von sozialen Dienstleistungen, denn nur wenn Organisationen des dritten Sektors (insbesondere die freie Wohlfahrtspflege) oder gewerbliche Anbieter hierzu nicht in der Lage sind, erstellt der Staat eigene Angebote (siehe bspw. § 17 Abs. 3 SGB I, § 17 Abs. 1 SGB II, § 4 Abs. 2 SGB VIII, § 72 Abs. 3 S. 2 SGB XI, § 5 Abs. 4 SGB XII). Die Sozialpolitik innerhalb der Europäischen Union basiert ebenfalls auf diesem Prinzip; entsprechend wurde die Sozialpolitik bisher nicht auf die EU-Ebene gehoben, sondern bleibt weitestgehend eine Angelegenheit der Mitgliedstaaten.

Basierend auf diesen Struktur- und Gestaltungsprinzipien können unterschiedliche Wohlfahrtsstaatstypen identifiziert werden (Esping-Anderson 2013 [1990]). Während in konservativ-korporatistischen bzw. christdemokratischen Wohlfahrtsstaaten eher das Vorsorge- bzw. Versicherungsprinzip zum Tragen kommt, setzen sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten den Fokus auf das Versorgungsprinzip. Im Gegensatz basieren liberale Wohlfahrtsstaaten primär auf dem Markt und bedürftigkeitsgeprüften Mindestleistungen (Fürsorgeprinzip).

5 Funktionale Äquivalente zu klassischen Instrumenten der Sozialpolitik

Neben klassischen Instrumenten der staatlichen Sozialpolitik existieren zahlreiche funktionale Äquivalente der Sozialpolitik (Seeleib-Kaiser 2008; Seeleib-Kaiser 2001). Von funktionalen Äquivalenten in der Sozialpolitik kann man dann sprechen, wenn soziale Risiken kollektiv abgesichert werden, die Arrangements umverteilende Elemente beinhalten und auf die Inklusion in die Gesellschaft zielen. Gleichzeitig müssen diese Arrangements ein hohes Maß an Erwartungssicherheit gewährleisten und somit eine von den Wechsellagen der kapitalistischen Ökonomie und Schwankungen individueller Leistungsfähigkeit relativ unabhängigen Absicherung sozialer Risiken sicherstellen (Seeleib-Kaiser 2001, S. 41). Hierunter fallen beispielsweise: Fiskalpolitik, Arbeitspolitik, Betriebliche Sozialpolitik.

5.1 Fiskalische Sozialpolitik

Fiskalpolitik wird in der öffentlichen Wahrnehmung oft nicht mit Sozialpolitik in Verbindung gebracht. Dabei wurde Fiskalpolitik, wie der historische Abriss darlegte, schon um 2.400 v.Chr. bewusst als Fürsorgeinstrument zu Gunsten gewisser sozialer Gruppen (bspw. Witwen und Waisen) eingesetzt. Bereits Titmuss (2018 [1956]) identifizierte neben der staatlichen auch eine fiskalische Sphäre der Sozialpolitik. Dennoch bleibt die Fiskalpolitik in der gegenwärtigen Sozialpolitik- und Wohlfahrtsforschung weitgehend vernachlässigt (Ruane, Collins und Sinfield 2020, S. 438). Howard (1997) sprach bezüglich der Verwendung fiskalischer Instrumente in den USA bereits vor Jahrzehnten vom „hidden welfare state“.

In Deutschland fungiert zum Beispiel das Ehegattensplitting, bei welchem verheiratete Paare und eingetragene Lebenspartnerschaften steuerliche Vorteile erhalten, als familienpolitisches Unterstützungsinstrument (Blum 2017, S. 302). Weitere Beispiele sind die steuerliche Berücksichtigung der Kindererziehung, die Absetzbarkeit von Ausgaben für Bildung bzw. die steuerliche Unterstützung zum Erwerb eines Eigenheims.

5.2 Arbeitspolitik

Unter Arbeitspolitik wird gemeinhin die betriebliche, überbetriebliche und staatliche Organisation von Arbeits- und Produktionsverhältnissen mit der (funktionalen) Zielsetzung verstanden, die soziale Integration in den und die Stabilität auf dem Arbeitsmarkt zu fördern, um idealtypisch das Risiko Arbeitslosigkeit und/oder Armut aufgrund eines unterhalb des Existenzminimums liegenden Erwerbseinkommens zu verhindern. Exemplarisch seien hier folgende Bereiche erwähnt: das Arbeitsrecht, vor allem der Kündigungsschutz, die Subventionierung von Erwerbseinkommen, die aktive Arbeitsmarktpolitik, Mindestlöhne sowie unter bestimmten Bedingungen auch die Mittelstands- oder Agrarpolitik (Seeleib-Kaiser 2001, S. 42; Keller 1999). In Ländern ohne oder nur mit lückenhaftem Sicherungssystem gegen Arbeitslosigkeit fungiert die Arbeitspolitik als funktionales Äquivalent zur Arbeitslosenversicherung. Als Beispiele hierfür galten über viele Jahrzehnte der Nachkriegszeit ostasiatische Staaten wie unter anderem Japan, wo die Subventionierung der Landwirtschaft sowie die protektionistische Handelspolitik weniger produktiven (älteren) Menschen eine Erwerbsbeschäftigung ermöglichte (Seeleib-Kaiser 2001, S. 181–188). Aber auch die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union kann als funktionales Äquivalent staatlicher Sozialpolitik betrachtet werden, zumal es ein Ziel dieser Politik ist, „der landwirtschaftlichen Bevölkerung, insbesondere durch Erhöhung des Pro-Kopf-Einkommens der in der Landwirtschaft tätigen Personen, eine angemessene Lebenshaltung zu gewährleisten“ (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Art. 39, 1b; Rieger 1995). In der Landwirtschaft kann auch eine Ernteversicherung als funktionales Äquivalent zu einer staatlichen Arbeitslosenversicherung betrachtet werden; diese findet sich in einer Reihe von Ländern des globalen Südens. Im Bereich der Arbeitspolitik spielen in Europa Gewerkschaften eine besondere Bedeutung. Durch das Aushandeln von Tarifverträgen (Kollektivvereinbarungen), setzen Gewerkschaften Mindeststandards in Branchen, Sektoren und Unternehmen (Bäcker, Naegele und Bispinck 2020, S. 334 f.; Bäcker et al. 2010, S. 250 f.).

5.3 Betriebliche Sozialpolitik

Einen weiteren wichtigen Pfeiler der Sozialpolitik stellen betriebliche Systeme dar. Beginnend mit den Sozialkassen der Knappschaften und Zünfte des Mittelalters haben sich betriebliche (Zusatz-)Versicherungen in weiten Teilen der Welt etabliert. In den liberalen USA kommen betrieblichen Sozialleistungen aufgrund der begrenzten staatlichen Leistungen, gerade im Bereich der Absicherung des Risikos Gesundheit, eine besondere Bedeutung zu. So waren hier im Jahr 2019 55 Prozent der Bevölkerung über betriebliche Arrangements gegen das Risiko Krankheit abgesichert (Seeleib-Kaiser 2021, S. 174).

Neben den klassischen betrieblichen Sicherungssystemen, die aufgrund von Reformen in den vergangenen Jahrzehnten auch in Europa an Bedeutung gewonnen haben (Pavolini und Seeleib-Kaiser 2018), existiert eine breite Palette sozialpolitischer Instrumente, derer sich Unternehmen bedienen können. Hierunter fallen beispielsweise Formen der betrieblichen Kinderbetreuung oder flexible Arbeitszeitregelungen, die die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglichen sollen. Betriebliche Sozialpolitik dient dabei häufig als ein modernes Instrument des Personalmanagements, um qualifizierte Arbeitskräfte zu halten oder anzuwerben. Familienfreundliche Unternehmenspolitiken haben aber ebenso positive Auswirkungen für Arbeitnehmer:innen und tragen zu Vereinbarkeit von Familie und Beruf bei (Schneider 2017, S. 271 f.; Seeleib-Kaiser und Fleckenstein 2009, S. 758 f.).

6 Internationale Sozialpolitik

Sozialpolitik wird nicht nur von den verschiedensten Akteuren innerhalb von Nationalstaaten betrieben, sondern auch von internationalen Organisationen. Die Erkenntnis, wonach im internationalen Wettbewerb stehende Staaten zusammenarbeiten müssen, um Sozialdumping zu minimieren und Sozialstandards zu koordinieren, hat eine lange Geschichte. Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert forderten Gewerkschaften internationale Maßnahmen. In einem Erlass von Kaiser Wilhelm II aus dem Jahr 1890 hieß es: „Die in der internationalen Konkurrenz begründeten Schwierigkeiten der Verbesserung der Lage unserer Arbeiter lassen sich nur durch internationale Verständigung der an der Beherrschung des Weltmarktes beteiligten Länder, wenn nicht überwinden, doch abschwächen“ (zit. nach Seeleib-Kaiser 2001, S. 54). Schließlich wurde die internationale Arbeitsorganisation (International Labour Organization, ILO) 1919 im Rahmen der Pariser Friedenskonferenz gegründet. Die Governance der ILO basiert auf dem Tripartismus von Vertreter:innen der Gewerkschaften, Unternehmensverbänden und den Mitgliedsstaaten. Die Organisation hat die Verbesserung der Arbeits- und Sozialstandards zum Ziel; bisher wurden über 180 Übereinkommen und mehr als 200 Empfehlungen ausgehandelt. Des Weiteren leistet die ILO technische Unterstützung und hat Programme zur Abschaffung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit entwickelt sowie in den 1990er Jahren die Decent Work Agenda verfolgt. Im Jahr 2008 wurde die „Erklärung über soziale Gerechtigkeit für eine faire Globalisierung“ verabschiedet; zudem beteiligt sich die ILO an der Zusammenarbeit mit anderen Organisationen der Vereinten Nationen im Rahmen der Umsetzung der globalen Nachhaltigkeitsziele. Trotz mancher Erfolge fehlen der ILO die Mechanismen zur Durchsetzung des internationalen Arbeits- und Sozialrechts; folglich versucht die ILO auch über technische Unterstützung entsprechende Normen innerhalb der Mitgliedsstaaten zu stärken (Sengenberger 2013).

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) wurde nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Ziel gegründet, das bestmögliche Gesundheitsniveau bei allen Menschen zu verwirklichen. Aber auch hier gab es bereits Bestrebungen im ausgehenden 19. Jahrhundert zu verstärkter Zusammenarbeit im Gesundheitssektor. Zu den Aufgaben der WHO zählen die Förderung der allgemeinen Gesundheit weltweit, die Koordination von nationalen und internationalen Aktivitäten beim Kampf gegen übertragbare Krankheiten, die Unterstützung von globalen Impfprogrammen sowie beim Aufbau von effektiven und kostengünstigen Gesundheitssystemen in Entwicklungsländern. Trotz vieler Erfolge bei der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten, wurde an der Arbeit der WHO immer wieder, vor allem auch von den USA, Kritik geübt (Cueto, Brown und Fee 2019), zuletzt im Rahmen der Bekämpfung der COVID-19 Pandemie.

Auch innerhalb der Europäischen Union kommt Sozialpolitik eine wachsende Bedeutung zu. Kern der europäischen Sozialpolitik ist die sogenannte Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit für mobile Unionsbürger:innen. Hierbei geht es darum, in verschiedenen Mitgliedstaaten erworbene Ansprüche und Leistungen der sozialen Sicherheit zu aggregieren und zu exportieren. Für viele Unionsbürger:innen sichtbarster Ausdruck der sozialen Koordinierung ist die Europäische Krankenversicherungskarte, mithilfe derer in einem anderen Mitgliedsstaat notwendige Gesundheitsleistungen in Anspruch genommen werden können. Des Weiteren haben beispielsweise Rentner:innen die Möglichkeit, bei einer Verlegung ihres Wohnortes in einen anderen Mitgliedsstaat ihre Rentenleistungen dorthin zu exportieren. Arbeitssuchende können bis zu einer Dauer von drei Monaten ihre Arbeitslosengeldansprüche in ein anderes EU-Land exportieren, um dort nach Arbeit zu suchen. Obzwar dieses Arrangement insgesamt als herausragender Fortschritt der sozialpolitischen Kooperation innerhalb der EU zu bewerten ist, bleibt festzuhalten, dass das System aufgrund der immensen Lohnunterschiede sowie der unterschiedlichen Sozialsysteme sehr stratifizierend ist. Unionsbürger:innen aus den ärmeren Ländern Mittel-, Ost- und Südeuropas haben nur sehr eingeschränkte substanzielle soziale Rechte, wenn sie vom Recht auf Freizügigkeit gebrauchen machen und in die reicheren Mitgliedstaaten West- und Nordeuropas migrieren (Bruzelius, Reinprecht und Seeleib-Kaiser 2017). Grundsätzlich bleibt aufgrund des Prinzips der Subsidiarität Sozialpolitik eine nationalstaatliche Kompetenz. In Folge der COVID-19 Krise hat die EU jedoch im Rahmen des SURE-Programms (Support to mitigate Unemployment Risks in an Emergency) Darlehen an Mitgliedsstaaten ausgezahlt, um die Arbeitsmärkte mittels Kurzarbeitergeldzahlungen o.ä. zu stabilisieren. Über das Programm Next Generation Europe wurden zum ersten Mal nichtrückzahlbare Transfers in signifikanter Höhe geleistet, um Mitgliedstaaten zu unterstützen, die COVID-19 Krise zu überwinden. Ob es sich hierbei in den Einstieg in territoriale Umverteilung bzw. in eine Transferunion in signifikantem Ausmaß handelt, bleibt abzuwarten.

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Verfasst von
Lea Giulia Reiß
Wissenschaftliche Mitarbeiterin
Eberhard Karls Universität Tübingen
Institute of Political Science
Research Unit Comparative Public Policy
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Prof. Dr. Martin Seeleib-Kaiser
Professor für Comparative Public Policy
Eberhard Karls Universität Tübingen
Institute of Political Science
Research Unit Comparative Public Policy
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Es gibt 1 Lexikonartikel von Lea Giulia Reiß.
Es gibt 1 Lexikonartikel von Martin Seeleib-Kaiser.

Zitiervorschlag
Reiß, Lea Giulia und Martin Seeleib-Kaiser, 2022. Sozialpolitik [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 21.03.2022 [Zugriff am: 09.11.2024]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/991

Link zur jeweils aktuellsten Version: https://www.socialnet.de/lexikon/Sozialpolitik

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