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Sozialraumorientierung

Prof. Dr. Michael Noack

veröffentlicht am 09.03.2022

Englisch: social space orientation; socio-spatial approaches

Mit Sozialraumorientierung ist eine Ausrichtung Sozialer Arbeit gemeint, die ausgehend vom Willen des Menschen und seinen Ressourcen auch die Gestaltung sozialräumlicher Verhältnisse im Blick hat. Diese Ausrichtung Sozialer Arbeit verdichtet sich im sog. Fachkonzept Sozialraumorientierung.

Überblick

  1. 1 Zusammenfassung
  2. 2 Ein Blick zurück
  3. 3 Die fünf methodischen Prinzipien der Sozialraumorientierung
    1. 3.1 Orientierung an den Interessen und am Willen
    2. 3.2 Unterstützung von Eigeninitiative und Selbsthilfe
    3. 3.3 Konzentration auf Ressourcen
    4. 3.4 Zielgruppen- und bereichsübergreifende Sichtweise
    5. 3.5 Kooperation und Koordination
  4. 4 Fazit und Ausblick
  5. 5 Quellenangaben

1 Zusammenfassung

In diesem Beitrag wird die Entwicklung des Fachkonzepts Sozialraumorientierung skizziert. Dafür ist es notwendig, einen kurzen Blick zurück in die Geschichte der Gemeinwesenarbeit zu werfen, um den Unterschied zwischen Gemeinwesenarbeit und Sozialraumorientierung darzustellen. Anschließend wird der konzeptionelle Kern der Sozialraumorientierung anhand von fünf methodischen Prinzipien vorgestellt. Der Beitrag endet mit Hinweisen, wie sich sozialraumorientierte Soziale Arbeit realisieren lässt. Anstelle von Adressat:innen oder Klient:innen ist in diesem Beitrag von Menschen die Rede.

2 Ein Blick zurück

Das Fachkonzept Sozialraumorientierung lässt sich am besten vor dem Hintergrund der Geschichte der Gemeinwesenarbeit in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg verstehen (Hinte und Treeß 2014, S. 17 ff.).

Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war durch die Übernahme US-amerikanischer Methoden gekennzeichnet. Beim Import gemeinwesenbezogener Arbeitsansätze aus den USA (aber auch aus England und den Niederlanden) beeinflussten begriffliche und institutionelle Aspekte die Entwicklung der Gemeinwesenarbeit in Deutschland. Im englischsprachigen Raum werden gemeinwesenbezogene Arbeitsansätze als „Community Work“ bezeichnet. Zur „Community Work“ gehören u.a. „Community Development“ und „Community Organization“, „über die im deutschen Sprachgebrauch eine sehr unterschiedliche Begriffsverwendung vorherrscht“ (Landhäußer 2009, S. 55).

Die unterschiedlichen Ansätze des Community Work erhielten in Deutschland ab den 1960er-Jahren das Etikett Gemeinwesenarbeit (GWA). GWA wurde neben Einzelfall- und Gruppenarbeit als dritte Methode Sozialer Arbeit diskutiert (Landhäußer 2009, S. 75). Allerdings entwickelte sich GWA nicht zu einer Methode. Es entstanden unterschiedliche GWA-Varianten. Zu diesen Varianten gehören u.a. die wohlfahrtsstaatliche, die integrative, die aggressive und die katalytisch-aktivierende GWA (Hinte, Reinhard und Noack 2016, S. 9 ff.).

In den 1970er-Jahren büßte die GWA als dritte Methode deutlich an berufspraktischer Bedeutung ein:

„GWA hatte sich damals als auch an Hochschulen gelehrte ‚dritte Methode‘ der Sozialen Arbeit durchaus etabliert. Ihr Defizit bestand jedoch darin, dass sie sich für den Bereich der Bundesrepublik fast ausschließlich auf Erfahrungen aus außerinstitutionellen Projekten oder aus zeitlich begrenzten (oft aus Stiftungen finanzierten) Projekten, die dann auch mal bei größeren Trägern angesiedelt waren oder für die speziell ein eigener Träger gegründet wurde, berufen konnte. […] Bis dahin war es jedoch nicht gelungen, in einem längeren Prozess im Bereich der Regelarbeit von Institutionen GWA-Prinzipien zu erproben und sie für institutionelles Handeln handhabbar zu machen“ (Hinte 2018, S. 111).

Als eine weitere Ursache für den Bedeutungsverlust der GWA als dritte Methode nennt Hinte (2010, S. 79) das fehlende methodische „Handlungsrepertoire“ der unterschiedlichen GWA-Varianten. Den Varianten seien zwar fachlich als relevant erachtete Ziele – wie etwa „Selbstbestimmung“, „Überwindung von Entfremdung“ und „Emanzipation“ – zugrunde gelegt worden. Allerdings fehlten den meisten Ansätzen Brücken zwischen diesen Zielen und der Berufspraxis (Hinte, Reinhard und Noack 2016, S. 20).

Trotz des schnellen Ablebens der GWA als Methode haben die praktischen Erfahrungen mit gemeinwesenbezogener Sozialer Arbeit dafür sensibilisiert

  • individuelle Probleme und prekäre Lebenslagen in sozial herausgeforderten Wohnquartieren als Ausprägungen gesellschaftlich bedingter sozialer Ungleichheit zu begreifen und
  • Menschen als Expert:innen ihres Alltags im Wohnquartier (an)zuerkennen und ihre Lebenssituationen ausgehend von ihrem Willen und ihren Ressourcen zu gestalten.

Um diese Blickrichtung weiter zu schärfen und nicht auf GWA zu beschränken, unternahmen Boulet et al. (1980) einen geschickten Schachzug: Sie etikettierten Gemeinwesenarbeit von einer Methode zu einem Arbeitsprinzip um:

„Gemeinwesenarbeit muss Beiträge zur tendenziellen Aufhebung und Überwindung von Entfremdung leisten, also die Selbstbestimmung handelnder Subjekte ermöglichen. Damit ist Gemeinwesenarbeit Befreiungsarbeit insofern, als sie die unmittelbaren Wünsche und Probleme der Menschen ernst nimmt, zu Veränderung der politisch-historischen Möglichkeiten motiviert und Einsicht in die strukturellen Bedingungen von Konflikten vermittelt. In diesem Sinne kann Gemeinwesenarbeit als Arbeitsprinzip jede soziale Arbeit strukturieren“ (Boulet et al. 1980, S. 156 f.).

Hinte, Reinhard und Noack (2016, S. 20) weisen darauf hin, dass sich jedoch „auch Boulet et al. damit [schwer taten], dieses Prinzip so konkret für die Praxis auszubuchstabieren, dass daraus handlungsmethodische und berufsfeldbezogene Schritte gezogen werden konnten“.

Die entsprechenden Schritte wurden im Rahmen des Fachkonzepts Sozialraumorientierung entwickelt. Sozialraumorientierung stellt im Wesentlichen eine Weiterentwicklung des Arbeitsprinzips GWA dar. Sozialraumorientierung wurde „unter ausdrücklichem Rückgriff auf die Tradition der GWA“ (Hinte und Treeß 2014, S. 30), aber auch unter Berücksichtigung ihrer Defizite entwickelt. Durch den unverbrauchten Begriff Sozialraumorientierung „konnte man nach Möglichkeiten der Verankerung gemeinwesenarbeiterischen Gedankengutes im Alltagshandeln der Institutionen suchen“ (ebd.), um das Arbeitsprinzip GWA auch für einzelfallbezogene Arbeitsfelder „institutionskompatibel“ (Lüttringhaus 2007, S. 79) zu gestalten.

Heute ist GWA ein Arbeitsfeld Sozialer Arbeit (Hinte 2018, S. 113; Stövesand und Stoik 2013, S. 21), für das auch die Bezeichnung Stadtteilarbeit genutzt wird. Aus dem Arbeitsprinzip GWA ist über einige Umwege das Fachkonzept Sozialraumorientierung entstanden. Sozialraumorientierung kann in allen sozialarbeiterischen Arbeitsfeldern als Orientierungskonzept für methodisches Handeln dienen, auch im Arbeitsfeld der GWA bzw. Stadtteilarbeit.

Sozialraumorientierung wurde theoriebasiert entwickelt, ist aber (noch) keine „neue Theorie“. Vielmehr werden im Fachkonzept Sozialraumorientierung verschiedene Theorien mit der Berufspraxis verknüpft. Zu diesen Theorien gehören u.a.:

  1. die Feldtheorie (Lewin 1963)
  2. die Sozialökologie (Bronfenbrenner 1981)
  3. die non-direktive Pädagogik (Hinte 1990).

Aus diesen Theorien wurden fünf methodische Handlungsprinzipien abgeleitet, indem „notwendigerweise abstrakte Aussagen in einer Art und Weise [konkretisiert wurden], dass sie für professionelles Handeln nutzbar sind […]. [Sozialraumorientierung] erdet gleichsam Theorie, ohne handlungsmethodisch zu sehr ins Detail zu gehen“ (Hinte 2011, S. 227).

Die fünf methodischen Prinzipien dienen nicht dazu, methodisches Handeln zu standardisieren. Sie bieten Orientierung für die Berufspraxis, lassen aber gleichzeitig Handlungsspielraum (Hinte und Treeß 2014, S. 45):

  1. „Ausgangspunkt jeglicher Arbeit sind der Wille/die Interessen der leistungsberechtigten Menschen (in Abgrenzung zu Wünschen oder naiv definierten Bedarfen).
  2. Aktivierende Arbeit hat grundsätzlich Vorrang vor betreuender Tätigkeit.
  3. Bei der Gestaltung der Hilfe spielen a) personale und b) sozialräumliche Ressourcen eine wesentliche Rolle.
  4. Aktivitäten sind immer zielgruppen- und bereichsübergreifend angelegt.
  5. Vernetzung und Integration der verschiedenen sozialen Dienste sind Grundlage für funktionierende Einzelfallhilfe“ (Hinte 2014, S. 15).

Die fünf Prinzipien können in allen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit Orientierung beim methodischen Handeln bieten. Diese Orientierungsfunktion kann durch bestimmte Organisationsstrukturen und Finanzierungsformen (vgl. Unterstützungsebenen der Sozialraumorientierung in Abbildung 1) unterstützt werden.

Sozialraumorientierung
Abbildung 1: Sozialraumorientierung (verändert nach Godehardt-Bestmann 2020)

Eine unterstützende Finanzierungsform ist bspw. das sog. „Sozialraumbudget“. Allerdings ist Sozialraumorientierung nicht auf diese Unterstützungselemente zu reduzieren. Auch ohne veränderte Organisations- und Finanzierungsformen lassen sich die fünf methodischen Prinzipien in der Berufspraxis realisieren.

3 Die fünf methodischen Prinzipien der Sozialraumorientierung

Ohne zu beanspruchen, den entsprechenden Forschungsstand vollständig abzubilden, werden bei der Darstellung der methodischen Prinzipien Forschungsergebnisse vorgestellt, die mit den Prinzipien korrespondieren (eine umfassende Übersicht zum Forschungsstand zur sozialraumorientierten Sozialen Arbeit findet sich bei Noack 2020).

3.1 Orientierung an den Interessen und am Willen

Diesem Prinzip liegt der Anspruch zugrunde, nicht die durch Fachkräfte definierten Hilfebedarfe zum Ausgangspunkt der Hilfegestaltung zu machen, sondern die auf den Hilfeprozess bezogenen Interessen der Menschen (Hinte und Kreft 2005, S. 869 f.).

„Methodisch hat das zur Folge, dass eine kundenorientierte Haltung mit einer Frage wie: ‚Was kann ich für Sie tun?‘ weniger angezeigt ist als eine Haltung, aus der heraus systematisch die Interessen und der Wille der betroffenen Menschen erkundet werden“ (Hinte 2020, S. 19).

Bei diesem Prinzip geht es darum, herauszufinden, was Menschen antreibt und nicht darum, Menschen „zu motivieren, denn Menschen sind motiviert, wenn mit ihrem Willen gearbeitet wird“ (Früchtel, Budde und Cyprain 2013a, S. 72). Willensorientiert zu arbeiten bedeutet auch nicht, Menschen da abzuholen, wo sie stehen. Vielleicht wollen die Menschen ja dort stehen bleiben, wo sie sind (Hinte 2020, S. 19).

Bezugnehmend auf Schopenhauer beschreiben Budde, Früchtel und Cyprian (2013a, S. 72) den Willen als „Urenergie und Vorstellungskraft von Veränderung und Wachstum“. Sie begreifen das Denken als den zur Vorstellung gewordenen Willen und „den Verstand als Instrument unseres Willens“ (ebd.). Diesem Verständnis folgend lässt sich sagen: Wer seinem Willen nachgeht, übernimmt selbstbestimmt die Regie für die Gestaltung seines Lebens.

Im Fachkonzept Sozialraumorientierung wird vorgeschlagen, zwischen Wunsch und Wille zu unterscheiden. Der Philosoph Bieri (2001, S. 37) illustriert den Unterschied zwischen Wunsch und Wille mit einem Beispiel: Ein Klavierspieler malt sich aus, wie schön es wäre, den Minutenwalzer von Chopin in 60 Sekunden zu spielen. Er möchte es, beschäftigt sich aber nicht damit, wie es gelingen kann. Die Vorstellung verbleibt auf der Ebene eines Wunsches. Kommt ein gedanklicher Prozess in Gang, bei dem sich der Klavierspieler mit den Anforderungen auseinandersetzt, diese Vorstellung zu realisieren, wird aus dem „ich möchte“ ein „ich will“. Ein Wunsch wird zu einem handlungswirksamen Willen, wenn ein Mensch ihn verwirklichen will. In diesem Fall wird der Klavierspieler zum Beispiel darüber nachdenken, Übungsstunden zu nehmen.

Welche auf den Hilfeprozess bezogenen Wünsche Menschen, angehen wollen entscheiden sie selbst. Fachkräfte können Menschen dabei unterstützen, sich zu überlegen, wie die von ihnen selbst „gewollte“ Zukunft aussieht. Sie können mit den Menschen Schritte in Richtung der von ihnen entworfenen Zukunftsbilder entwickeln, die diese gehen können und wollen. Sozialarbeitende können darauf achten, nicht dazu verführt zu werden, die auf den Hilfeprozess bezogenen Wünsche der Menschen selbst zu erfüllen. Wenn Sozialarbeitende Wünsche der Menschen erfüllen, verhindern sie gerade zu, dass Menschen sagen können: „Das habe ich selbst geschafft“.

Menschen, ob Erwachsene oder Kinder, sind mit Bewusstsein ausgestattete, denkende, erkennende, wollende und handelnde Subjekte. Willensorientierte Soziale Arbeit ist ein Gegenentwurf zu erzieherisch orientierter Sozialer Arbeit. Erzieherisches Handeln ist normativ ausgerichtet und zielt darauf ab, Menschen zu verändern (Gudjons und Traub 2016), was sich bspw. in Hilfezielen wie „Die Erziehungskompetenz von Herrn Schmitz hat sich verbessert“ oder „Jens bewirbt sich aktiv auf Ausbildungsstellen“ niederschlägt.

Sozialraumorientierte Soziale Arbeit verzichtet auf jede Form indirekter und direkter Bevormundungen, um nicht in die Falle zu tappen, anderen Menschen irgendwelche (manchmal auch sozialarbeiterischen) Normalitätsvorstellungen aufzuzwingen.

„Interventionen, die am artikulierten Willen einer Person vorbeigehen, sind Zwangshandlungen. Sie werden nicht zu etwas Anderem, weil seitens der Fachkräfte gemutmaßt wird, sie entsprächen eigentlich dem Willen der Klienten/​innen, dieser sei ihnen (aktuell) nur nicht bewusst“ (Raspel 2014, S. 74).

Willensorientierte Arbeit findet bei Fremd- und Eigengefährdung sowie bei Kindeswohlgefährdung ihre Grenzen. Diese Grenzen führen jedoch nicht zu grenzenloser Kontrolle durch Sozialarbeitende. Auch in Gefährdungssituationen zielt Soziale Arbeit auf die Selbstbestimmung von Menschen ab. Daher wird im Fachkonzept Sozialraumorientierung vorgeschlagen, Kooperation und Kontrolle in Zwangskontexten zu verknüpfen.

Aus der Forschung

Seit 2018 finden in Graz regelmäßig Adressat:innenbefragungen statt, um empirisch zu ermitteln, zu welchen Folgen die sozialraumorientierte Gestaltung erzieherischer Hilfen aus Sicht der Adressat:innen führen (Hojnik et al. 2022; Sandner-Koller, Weiland und Noack 2019). Die Forschungsergebnisse zeigen, wie willensorientierte Arbeit erfolgen kann (Hojnik et al. 2022). Die Befragten erlebten es als hilfreich, wenn

  • Fachkräfte unterschiedliche Möglichkeiten für die Realisierung ihrer auf den Hilfeprozess bezogenen Interessen aufzeigten, aus denen sie auswählen konnten.
  • Sie „Ungewolltes“ explizit formulieren konnten:
    „Und die Leiterin hat eigentlich dann mit uns gemeinsam eine Möglichkeit erarbeitet, wobei wir sehr konkret gesagt haben, was wir nicht wollen. Und wir haben dann gemeinsam ein Lösungskonzept zusammengestellt“ (Auszug aus einem Interview mit einem Vater).

Menschen können sich aktiv daran beteiligen, willensorientiert entwickelte Hilfsarrangements umzusetzen. Das zweite Handlungsprinzip bietet dafür Orientierung.

3.2 Unterstützung von Eigeninitiative und Selbsthilfe

Mit diesem Prinzip wird darauf abgezielt, die Interessen der Menschen nicht im Sinne einer „naiven Kundenorientierung“ (Galuske 2013, S. 304) zu befriedigen, sondern sie zu ermutigen, sich aktiv am Hilfeprozess zu beteiligen. Die Aufgabe Sozialarbeitender im Rahmen helfender und kontrollierender Tätigkeiten besteht – im weitesten Sinne – immer darin, entweder akute Gefahren abzuwenden und/oder Menschen dabei zu unterstützen, unabhängig von Sozialer Arbeit zu leben.

Aktivierendes methodisches Handeln nimmt daher seinen Ausgangspunkt beim Willen, den Stärken und den Fähigkeiten der Menschen. Das Credo lautet: So wenig professionelle Hilfe wie möglich, aber so viel wie nötig. Mit diesem Credo lässt sich das zweite Prinzip sozialraumorientierter Soziale Arbeit von neoliberalen Sozialstaatslogiken abgrenzen.

Das Aktivierungsprinzip dient nicht dazu, „die Verantwortung für die Behebung/​Vermeidung prekärer Lebenslagen vom Staat bzw. von einer größeren Gemeinschaft auf […] das einzelne Individuum zu verlagern“ (Butterwegge 2014, S. 34), sondern dazu, Menschen die Gelegenheit zu verschaffen, sich aktiv in den Hilfeprozess einzubringen um möglichst schnell nicht mehr auf Hilfe angewiesen zu sein.

So lassen sich Hilfsabhängigkeiten vermeiden und Selbsthilfepotenziale stärken. Menschen sind selbst in der Lage, Lösungen zu entwickeln, die zu ihrem Alltag passen und somit realisierbar sind. Menschen, die dabei unterstützt werden, Lösungen für herausfordernde Lebenssituationen zu entwickeln und diese eigenständig umzusetzen, können sich als selbstwirksam erleben (dazu ausführlich Noack 2020).

Aus der Forschung

Wie lassen sich Selbstwirksamkeitserfahrungen fördern? Forschungsergebnisse (Noack 2020, S. 242–244) zeigen: Eine zentrale Rolle spielt die Haltung des „Nichtwissens“, die es keinesfalls erfordert, professionelles und erfahrungsbezogenes Fachwissen zu vergessen, sondern es als eine Perspektive zu begreifen, mit der die Alltagsrealität der Menschen aus Fachkraftsicht interpretiert wird. Die Haltung des Nichtwissens lässt sich infolgedessen als „Zurückhaltungskompetenz“ beschreiben. Wenn eine Fachkraft meint zu wissen, welche Lösung zur Situation eines Menschen passt, gilt es, diese Lösung nicht vorzugeben, sondern höchstens vorzuschlagen. Die sozialarbeiterische Kunst besteht darin, Menschen dazu zu ermutigen, Lösungen so weit wie möglich eigenständig zu entwickeln und sie kleinschrittig umzusetzen. Die folgende Aussage stammt von einem Dreizehnjährigen, der im Rahmen der Adressat:innenbefragung in Graz befragt wurde (Sandner-Koller, Weiland und Noack 2019).

„Also, bei den ersten paar Malen war das Kennenlernen und da war ich eher zurückhaltend. Ich war auch nicht so gut zu sprechen mit anderen Leuten, auch mit fremden Leuten und das haben die auch, glaube ich, gemerkt und deshalb sind die auch sehr vorsichtig herangegangen an die ganze Sache. Deshalb war das dann auch sehr angenehm mit denen zu reden. Dann habe ich auch immer so jeden Tag überlegen können und darüber nachdenken können, was die gesagt haben, über die Woche, weil sie eben ein Mal die Wochen gekommen sind. Und das war jetzt nicht alles auf einmal. Ich habe vier bis fünf Lösungsangebote bekommen und konnte mich pro Woche für eines entscheiden, das ich versucht habe, bis zur nächsten Woche zu erledigen.“

3.3 Konzentration auf Ressourcen

Bei diesem Prinzip geht es um die Berücksichtigung hilferelevanter Ressourcen, die (a) Menschen haben und (b) um jene, die sich in ihrem Umfeld befinden, zu denen sie aber noch keinen Zugang haben.

Neben Beziehungen sind es vor allem persönliche Stärken, die zur Ressourcendimension (a) zählen. Wenn Fachkräfte personale Ressourcen berücksichtigen wollen, können sie sich einem Spannungsfeld ausgesetzt sehen: Einerseits wird in der Fachdiskussion unermüdlich darauf hingewiesen, persönliche Stärken und Kompetenzen der Menschen nicht zu übersehen. Andererseits sind es attestierte Defizite, die leistungsrechtlich als Voraussetzung festgelegt wurden, um Einzelfallhilfen zu gewähren (Hinte 2020, S. 12 f.). Dazu ein Beispiel aus der Kinder- und Jugendhilfe. In § 29 SGB VIII heißt es: „Die Teilnahme an sozialer Gruppenarbeit soll älteren Kindern und Jugendlichen bei der Überwindung von Entwicklungsschwierigkeiten und Verhaltensproblemen helfen.“

Sozialarbeitende in einem Jugendamt müssen also Entwicklungsschwierigkeiten und Verhaltensprobleme attestieren, damit eine „Soziale Gruppenarbeit“ gewährt werden kann.

Um mit diesem Spannungsfeld umzugehen, ist es hilfreich, wenn Sozialarbeitende eine „doppelte Blickrichtung“ einnehmen, „um zum einen den gesetzlichen Vorgaben zur Bedarfsfeststellung nachzukommen, zum anderen aber konsequent mit den Menschen an deren Ressourcen zu arbeiten und ihre Potenziale zu nutzen“ (Hinte und Treeß 2014, S. 67).

Das Prinzip der Ressourcenorientierung wird in der Fachdebatte kritisch diskutiert. Manche Sozialarbeitswissenschaftler:innen vermuten, Ressourcenorientierung werde propagiert, um sozialstaatliche Ausgleichsleistungen zwischen Arm und Reich einzusparen (etwa Röh 2019). Hinte und Treeß (2014, S. 60 ff.) heben hervor, dass das Prinzip „Orientierung an den Ressourcen“ ein sozialarbeiterisches Prinzip ist, welches gerade ins Gegenteil verkehrt würde, wenn es als sozialpolitische Maxime missbraucht würde. Werden die gesellschaftlichen Ursachen für prekäre Lebensverhältnisse nicht durch Umverteilungsprozesse und Solidar-Ausgleichs-Verfahren bearbeitet, kann dies dazu führen, sie allein durch die Orientierung an den Ressourcen leistungsberechtigter Menschen lösen zu wollen.

Aus der Forschung

Wenn Menschen die Möglichkeit haben, aus verschiedenen Lösungsangeboten jene auszuwählen, die sie selbst umsetzen können und wollen, greifen das erste und zweite Prinzip ineinander. Selbstwirksamkeitserlebnisse können sich jedoch nur einstellen, „wenn Ressourcen, seien sie persönlich, sozial oder gesellschaftlich, auch wirklich vorhanden und nutzbar sind“ (Röh 2019). Ergebnisse der Adressat:innenbefragung aus Graz (Sandner-Koller, Weiland und Noack 2019) zeigen, dass das dritte Prinzip Fachkräfte nicht nur dafür sensibilisiert, Ressourcen zu berücksichtigen, sondern auch Ressourcen zu vermitteln. Die folgende Aussage stammt von einer alleinerziehenden Mutter, die in Graz befragt wurde (ebd.).

„Die haben mich konkret gefragt, wo brauche ich jetzt wirklich Unterstützung, wie stelle ich mir das vor und dann haben die mir wirklich Möglichkeiten aufgezeigt. Auch Anlaufstellen, die ich in Anspruch nehmen kann.“

3.4 Zielgruppen- und bereichsübergreifende Sichtweise

Eine wichtige Annahme der Humanistischen Psychologie besteht darin, dass jedes Individuum nach Selbstbestimmung und zur Zugehörigkeit zu einer überindividuellen Einheit strebt (dazu ausführlich Quitmann 1996). Mit diesem Prinzip wird daher vorgeschlagen, den einzelnen Menschen nicht als Exemplar „einer statistisch erfassbaren Kohorte (Nationalität, Generation, Geschlecht usw.), auf den alle Eigenschaften des Durchschnittsexemplars dieser Zielgruppe zutreffen, sondern als höchst eigenartige Person mit bestimmten Themen und Interessen“ (Hinte und Treeß 2014, S. 73) zu sehen.

Die Herausforderung mit diesem Prinzip besteht darin, dass Zielgruppen leistungsgesetzlich festgelegt werden. Dazu nochmal ein Beispiel aus dem Kinder- und Jugendhilfegesetz:

„Die Teilnahme an sozialer Gruppenarbeit soll älteren Kindern und Jugendlichen bei der Überwindung von Entwicklungsschwierigkeiten und Verhaltensproblemen helfen. Soziale Gruppenarbeit soll auf der Grundlage eines gruppenpädagogischen Konzepts die Entwicklung älterer Kinder und Jugendlicher durch soziales Lernen in der Gruppe fördern“ (§ 29 SGB VIII).

Auch hier bedarf es eines doppelten Blicks. Trotz leistungsgesetzlicher Vorgaben, mit denen geregelt wird, für welche Personengruppen eine Hilfe gewährt werden kann, lässt sich erkunden, welche Leistungen aus anderen Rechtskreisen für leistungsberechtigte Personen aus dem eigenen Rechtskreis hilfreich sein können. Um beim Beispiel der Kinder- und Jugendhilfe zu bleiben: In familiäre Alltagsrealitäten sind miteinander verknüpfte Bedarfe eingewoben, für die es verschiedene spezialisierte soziale Dienste gibt. Wenn sich Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe mit familiären Lebenszusammenhängen nicht nur aus der Perspektive erzieherischer Hilfen widmen, können sich Fragen ergeben, die andere Arbeitsfelder betreffen:

  • Wieso fehlen Eltern, die aufgrund der Pflege ihrer eigenen Eltern und der Erziehung ihrer Kinder doppelbelastet sind, Informationen über Entlastungsangebote für pflegende Angehörige?
  • Wieso schaffen es alleinerziehende und werktätige Eltern zeitlich nicht mit ihren Kindern eine Ernährungsberatungsstelle aufzusuchen?
  • Weshalb wird der Spielplatz im Wohngebiet nicht wie angekündigt saniert?

Aus der Forschung

In einem von Thiesen (2018, S. 54) beforschten Modellprojekt zur sozialraumorientierten Sozialen Arbeit in den frühen Hilfen wurde es möglich, neben der Zielgruppe „schwangere Frauen“ auch geflüchtete Menschen zu erreichen. Dies gelang durch aufsuchende Arbeit (a.a.O., S. 54 f, S. 78):

„Positive Effekte der Sozialraumorientierung können auf drei Ebenen herausgestellt werden: zum ersten auf der Fachebene (Prävention, Selbsthilfe, Motivation), zum zweiten auf der Raumebene (Präsenz im Stadtteil, Quartiersaufwertung, Kooperation), zum dritten auf der Trägerebene (Bekanntheit/​Reputation) und zum vierten auf der Angebotsebene (Nutzung/​Reichweite)“ (Thiesen 2018, S. 76).

Im Rahmen der Begleitforschung zur Sozialraumorientierung in der Augsburger Kinder- und Jugendhilfe wurden leistungsberechtigte Menschen zu „ihrer Wahrnehmung des Jugendhilfeangebots und seiner Wirkungen“ (Plankensteiner 2013, S. 129 [Hervorheb. i. Orig.]) befragt. Hier zeigte sich: „Vor allem die bereichsübergreifende Zusammenarbeit der Fachkräfte wird von den Klienten auch als solche wahrgenommen und positiv konnotiert“ (a.a.O., S. 135). Für die Fachkräfte ermöglicht bereichsübergreifendes Arbeiten ein verstärktes Erleben der „Wirksamkeit des eigenen pädagogischen Handelns […] durch die Reduktion unnötig starrer Strukturen […]“ (Ender 2013, S. 79).

Das vierte Prinzip sensibilisiert dafür, Leistungen aus unterschiedlichen Rechtskreisen zu kombinieren (Hinte 2020, S. 13). Damit ist das fünfte Prinzip angesprochen.

3.5 Kooperation und Koordination

Die Arbeit in sozialen Diensten wird durch leistungsrechtliche Bestimmungen geprägt, die zur Finanzierung, aber auch zur Zuständigkeitszentrierung sozialer Dienste führen können. Menschen, die Unterstützung suchen, können im „Zuständigkeitsdschungel“ leicht die Orientierung verlieren. Sie werden von einem sozialen Dienst zum nächsten geschickt, ohne dass ihnen geholfen wird.

„Netzwerke scheinen hier, folgt man dem hegemonialen Diskurs, das probate Mittel zu sein, in denen zusammengebunden wird, was sich über die vergangenen Jahrzehnte mühsam spezialisierend auseinanderdividiert hat“ (Kolbe und Reis 2019, S. 276).

Es gibt zwei miteinander verknüpfte Hürden für die Kooperation sozialer Dienste: Das Zuständigkeits- und das Konkurrenzprinzip. Beginnen wir mit dem Zuständigkeitsprinzip. In sozialen Diensten finden sich Zuständigkeiten für Zielgruppen, spezielle Problemlagen oder auch Paragrafen, jedoch selten für das Lebensumfeld der Menschen, für die Leistungen erbracht werden (Früchtel, Budde und Cyprian 2013b, S. 129).

Diese Zuständigkeitsprinzipien können dazu führen, dass die Probleme der Menschen zerschnitten werden, weil je nach Fragestellung eine andere Organisation oder eine andere Organisationsabteilung zuständig ist. Dies kann dazu führen, dass „in einer Familie verschiedene Fachkräfte aus unterschiedlichen Organisationseinheiten arbeiten und Konferenzen benötigt werden, um die Leistungen der Helfer:innen zu koordinieren“ (ebd.).

Neben den oben benannten Zuständigkeitsprinzipien wird die Kooperation zwischen sozialen Diensten auch vom Konkurrenzprinzip erschwert:

„Wesentlicher Ausgangspunkt für diese Gemengelage ist die immer wieder (zum Teil auch medial genährte) Illusion auf Seiten der Kostenträger, man könne durch marktförmige Ausschreibungen von Leistungsaspekten oder gar von einzelnen Fällen und durch das systematische anheizen von Konkurrenz einen Preiswettbewerb initiieren“ (Fürst und Hinte 2020, S. 95 f.)

Dies kann dazu führen, dass vorrangig die Angebotspalette einer leistungserbringenden Organisation und die veranschlagten Kosten für diese Leistungen die relevanten Entscheidungskriterien des Kostenträgers dafür sind, welche Einrichtung welchen Fall erhält. In dieser marktwirtschaftlichen Logik spielt sozialarbeiterische Fachlichkeit eine untergeordnete Rolle. Leistungserbringende Organisationen werden nicht dafür belohnt werden, durch präventive Arbeit die Zahl der Fälle zu mindern, „da dies unweigerlich negative wirtschaftliche Effekte für die freien Träger zur Folge hätte“ (Wittmann 2020, S. 166).

Leistungserbringende Organisationen müssen ihre organisatorischen Kapazitäten aufrechterhalten, was zu Kosten führt (Finanzierung von Immobilien, Personal und Sachmitteln etc.). Sie wissen aber nicht, ob dauerhaft Geld fließt, vielleicht weil morgen kein Fall mehr akquiriert werden kann oder die Konkurrenz vom Kostenträger bevorzugt wird (Hinte 2020, S. 94).

Früchtel, Budde und Cyprian (2013b, S. 129) weisen darauf hin, dass Organisationen, die Leistungen an den methodischen Prinzipien des Fachkonzepts ausrichten möchten, klassische Zuständigkeitsprinzipien aufgeben und „Zuständigkeiten nach Quartieren, Stadtteilen, Landgemeinden Orten usw.“ definieren müssen.

Kostentragende und leistunsgerbringende Organisationen, die sich entsprechend umstrukturieren, schaffen damit auch eine Voraussetzung für die Kooperation ihrer Mitarbeitenden in Sozialraumteams. Sozialraumteams finden sich in Städten und Landkreisen, in denen Sozialraumorientierung als konzeptionelle Leitlinie für Einzelfallhilfen genutzt wird. In den Teams arbeiten Fachkräfte des Jugendamts und Fachkräfte eines oder mehrerer leistungserbringender Träger basierend auf einem Kooperationsvertrag zusammen (Budde, Früchtel und Cyprian 2013b, S. 129). In der Regel sind diese Teams für einen Planungsraum (siehe dazu Sozialraumbudget) zuständig. Die leistungserbringenden Träger sind dann nicht mehr in der gesamten Kommune aktiv, sondern übernehmen nur noch Fälle in ihrem Zuständigkeitsgebiet. Dadurch wird es ihnen möglich, in diesem Gebiet auch fallunspezifisch tätig zu werden.

In Sozialraumteams werden die Prinzipien sozialraumorientierter Sozialer Arbeit kooperativ realisiert. Dazu ein Beispiel aus der Kinder- und Jugendhilfe in Rosenheim (Abbildung 2). In jedem der drei Planungsräume der Stadt existiert ein Sozialraumteam, in dem die Fachkräfte des Jugendamts und der Schwerpunktträger fallspezifisch und fallunspezifisch zusammenarbeiten.

Funktionen von Sozialraumteams
Abbildung 2: Funktionen von Sozialraumteams (Früchtel, Budde und Cyprian 2013b, S. 201)

Für die fallspezifische Arbeit haben die Fachkräfte des Jugendamts die Verfahrensverantwortung inne. Nachdem sie die Leistungsvoraussetzungen nach § 27 SGB VIII geprüft haben, erkunden sie den Willen und die Ressourcen der Fallbeteiligten (Prinzipien 1 und 3a). Sie entscheiden jedoch nicht allein, welche Hilfeform sie den leistungsberechtigten Menschen vorschlagen. Stattdessen bringen sie „den Fall“ zur kollegialen Beratung in das Sozialraumteam ein, um ein Hilfsarrangement zu entwickeln, das den leistungsberechtigten Menschen vorgeschlagen wird. An der kollegialen Beratung werden die Fachkräfte der leistungserbringenden Organisation(en) beteiligt (Prinzip 5). Die kollegiale Fallberatung dient dazu, Ideen für Hilfsarrangements zu entwickeln, die sich nicht an der Angebotspalette der leistungserbringenden Organisation(en) orientieren, sondern an den Interessen und an den Stärken der Menschen sowie an den Ressourcen in ihrem Umfeld. Daher wird bei der kollegialen Fallberatung auch das fallunspezifische Ressourcenlager des Sozialraumteams gesichtet, um zu reflektieren, welche Ressourcen, zu denen die leistungsberechtigten Menschen noch keinen Zugang haben, in das Hilfsarrangement eingeflochten werden können (Prinzip 3b). Zu diesen fallunspezifischen Ressourcen gehören auch Angebote, die nicht primär für die „Zielgruppe Familie“ vorgesehen sind, aber dennoch für Familien relevant sein können, wie bspw. die Begegnungsangebote des lokalen Quartierbüros (Prinzip 4).

Man kann (muss aber nicht) auch die Finanzierung der leistungserbringenden Organisationen ändern. In manchen Kommunen wird/werden die leistungserbringenden Organisation(en) für einen festgelegten Zeitraum (meistens ein oder zwei Jahre) ausfinanziert. Das heißt: Sie müssen nicht mehr jeden Einzelfall separat abrechnen. Stattdessen erhalten sie eine Finanzierung, mit der sie (möglichst) sämtliche zu erbringenden Einzelfallhilfen und fallunspezifische Arbeit in einem Planungsraum erbringen.

Der dadurch entfallene Konkurrenzdruck kann dazu führen, dass die leistungserbringenden Organisationen mit anderen sozialen Diensten kooperieren, ohne Angst haben zu müssen, dass diese ihnen „Fälle wegschnappen“. Denn sie sind ja ausfinanziert.

Aus der Forschung

Aus Befragungen von Menschen, mit denen Fachkräfte aus Sozialraumteams gearbeitet haben, geht hervor, dass sich Hilfsarrangements bei veränderten Willenslagen und/oder Lebenssituationen flexibel modifizieren ließen. Dies wird auf Teamstrukturen zurückgeführt, die einen unbürokratischen Austausch zwischen Jugendamt und Trägern fördern:

„Die beständige Kooperation zur Umsetzung von Sozialraumverantwortung und flexibilisierter Hilfeformen, bedarf verbindlicher Rahmenbedingungen und klarer Absprachen über Aufgaben, Ziele und Rollen der Kooperationspartner. Eine solche verbindliche Rahmenbedingung stellt die gemeinsame Arbeit in sog. Sozialraumteams dar. Mit den Sozialraumteams kann eine beständige und verantwortungsbewusste Kooperation mit freien Trägern der Jugendhilfe sichergestellt werden“ (Klopf 2013, S. 143; auch Hojnik et al. 2022)

Auch verhältnisbezogene Tätigkeiten können durch die Kooperation in Sozialraumteams begünstigt werden. Düring (2011, S. 104) hat herausgefunden, dass „der (Informations-)Austausch im Sozialraumteam zumindest teilweise für eine aktive Problematisierungs- bzw. Einmischungsarbeit auf anderen (lokalen) Ebenen genutzt wird. So verstanden tragen die in den Sozialraumteamsitzungen gebündelten Erfahrungen der Akteure bzw. Akteurinnen zentraler Jugendhilfeinstitutionen im weitesten Sinne zu einer kommunalen Sozialpolitik sowie (darüber vermittelt) zu Aushandlungsprozessen über (infra-)strukturelle Rahmungen von Leben und Arbeiten bei“.

4 Fazit und Ausblick

Sozialarbeitende benötigen zum Teil viele Jahre, bis sie in der Lage sind, einen sozialraumbezogenen Arbeitsstil zu praktizieren. Daher sind Qualifizierungsmaßnahmen förderlich, wenn Sozialraumorientierung als konzeptionelle Leitlinie für methodisches Handeln genutzt wird. Diese Maßnahmen lassen sich mit Organisationsentwicklungsprozessen verknüpfen. Partizipative, willensorientierte und selbstwirksamkeitsgenerierende Hilfegestaltungen gelingen Fachkräften am besten, wenn sie in Organisations- und Finanzierungsstrukturen eingebettet sind, die ein flexibles Eingehen auf Interessen, Stärken und sich veränderte Lebenslagen fördern.

5 Quellenangaben

Bieri, Peter, 2001. „Das Handwerk der Freiheit“. München: Carl Hanser Verlag. ISBN 978-3-446-20070-8

Boulet, Jean Jaak, Ernst Jürgen Krauss und Dieter Oelschlägel, 1980. Gemeinwesenarbeit als Arbeitsprinzip – Eine Grundlegung. Bielefeld: AJZ Druck + Verlag GmbH. ISBN 978-3-921680-20-9

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Verfasst von
Prof. Dr. Michael Noack
Hochschule Niederrhein
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Zitiervorschlag
Noack, Michael, 2022. Sozialraumorientierung [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 09.03.2022 [Zugriff am: 16.10.2024]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/4392

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