socialnet Logo

Sozialwirtschaft

Prof. Dr. Katrin Schneiders

veröffentlicht am 02.02.2021

Ähnlicher Begriff: Sozialwesen

Der Begriff Sozialwirtschaft wird alternativ zum „Sozialwesen“ bzw. zum „sozialen Dienstleistungssektor“ zur Bezeichnung des Sektors genutzt, der soziale Dienstleistungen anbietet. Im Gegensatz zu älteren Begrifflichkeiten wie bspw. dem „Sozialwesen“ wird hier die wirtschaftliche Bedeutung und unternehmerische Orientierung von sozialen Diensten und Einrichtungen akzentuiert.

Überblick

  1. 1 Zusammenfassung
  2. 2 Begriffsgeschichte
  3. 3 Struktur der Sozialwirtschaft
  4. 4 Zentrale Themen und Kontroversen
  5. 5 Quellenangaben
  6. 6 Literaturhinweise

1 Zusammenfassung

Die Sozialwirtschaft hat sich in den letzten Jahren zu einem der zentralen Wirtschaftssektoren in Deutschland entwickelt. Sowohl hinsichtlich ihrer beschäftigungspolitischen als auch volkswirtschaftlichen Bedeutung hat die Sozialwirtschaft, der gemäß einer weiten Definition die Sektoren Gesundheit und Pflege, Teilbereiche der Bildung sowie soziale Beratung und Betreuung zugeordnet werden können, industrielle Branchen längst überholt. Der Begriff der Sozialwirtschaft ist noch relativ neu und in der Sozialen Arbeit aufgrund der Betonung der ökonomischen Dimension nicht unumstritten.

2 Begriffsgeschichte

Seit den 1990er-Jahren ist in der deutschen Sozialpolitik (ähnlich wie in anderen bis dato „wirtschaftsfernen“ Politikfeldern) eine an ökonomischen Prinzipien orientierte Neustrukturierung erkennbar, die sich u.a. in der Erosion korporatistischer Organisationsformen der Leistungserstellung, der Privatisierung vormals durch die öffentliche Hand oder frei-gemeinnützige Träger erbrachten Aufgaben sowie einer gestiegenen Selbstbestimmung der Zielgruppen Sozialer Arbeit manifestiert (Heinze und Schneiders 2013). Mit diesen strukturellen Veränderungen ging auch in der Sozialen Arbeit eine begriffliche Neuorientierung einher; Soziale Arbeit wurde nun den Sozialen Dienstleistungen als sozialpolitisch motivierte personenbezogene Dienste zugeordnet (Beiträge in Olk und Otto 2003).

Spätestens seit Ende der 1990er-Jahre bezeichnet sich ein zunehmender Teil der im Sektor tätigen Organisationen als „Sozialunternehmen“ und aus dem „Sozialwesen“ bzw. „Sozialsektor“ wurden neben der Sozialwirtschaft auch Begriffe wie Sozialmanagement kreiert.

Vor diesem sozialhistorischen Hintergrund vereint der Begriff der Sozialwirtschaft in Anlehnung an Wendt (2002) zwei Perspektiven: institutionell können unter dem Begriff der Sozialwirtschaft Organisationen subsumiert werden, die soziale Dienstleistungen im oben definierten Sinne erbringen. Die Sozialwirtschaft ist in diesem Kontext ein Teil des Non-Profit-Sektors, aber mit diesem nicht deckungsgleich, da hier auch andere Dienstleistungen (Kultur, Sport, Bildung) angeboten werden und zudem ein zunehmender Teil von sozialen Dienstleistungen durch erwerbswirtschaftliche Unternehmen erbracht werden („For-Profit“). Aus instrumenteller Perspektive können unter dem Begriff der Sozialwirtschaft bzw. stärker noch des „Sozialmanagements“ (betriebs-)wirtschaftliche Instrumente zusammengefasst werden, die zur Steuerung, Leitung und (Erfolgs-)Kontrolle in Einrichtungen und Diensten eingesetzt werden.

3 Struktur der Sozialwirtschaft

Trotz der beschriebenen Ökonomisierungs- und Privatisierungstendenzen verfügen die fünf großen deutschen Wohlfahrtsverbände (Arbeiterwohlfahrt, Deutsches Rotes Kreuz, Deutscher Caritasverband, Diakonisches Werk sowie Der Paritätische) in fast allen Bereichen des sozialen Dienstleistungssektors über eine zentrale Position. Die auch in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) organisierte Zentralwohlfahrtsstelle der Juden (ZWstJ) spielt demgegenüber als Anbieterin sozialer Dienstleistungen eine untergeordnete Rolle. Mit ca. zwei Mio. Beschäftigten (2016) in über 118.000 Diensten und Einrichtungen allein bei den unter dem Dach der BAGFW organisierten deutschen Wohlfahrtsverbänden verfügt die Sozialwirtschaft über eine vielfach unterschätzte beschäftigungspolitische Bedeutung. Berücksichtigt man gemäß der weiten Definition auch erwerbswirtschaftlich orientierte Unternehmen der Sozialwirtschaft, so ist lt. Beschäftigtenstatistik der Bundesagentur für Arbeit von mindestens 3,2 Mio. Beschäftigten auszugehen (Schneiders 2020, S. 25–34).

Wohlfahrtsverbände unterscheiden sich insofern von anderen (erwerbswirtschaftlichen) Anbietern, als sie nicht nur als Träger bzw. Anbieter von sozialen Dienstleistungen auftreten, sondern darüber hinaus Aufgaben der Interessenvermittlung bzw. der Sozialanwaltschaft übernehmen. Insbesondere die Kinder-, Jugend- und Behindertenhilfe, aber auch die Beratung von Menschen in besonderen Problemlagen werden weiterhin v.a. von frei-gemeinnützigen Anbietern, die in den Wohlfahrtsverbänden organisiert sind, dominiert. Insbesondere in der Altenpflege, in der seit Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1995 signifikante Ökonomisierungstendenzen erkennbar sind, zeigen sich hingegen mittlerweile deutliche Verschiebungen zugunsten privat-gewerblicher Einrichtungen bzw. Dienstleistungsanbietern.

4 Zentrale Themen und Kontroversen

Es liegen mittlerweile zahlreiche Publikationen vor, die anwendungsbezogen betriebswirtschaftliche Instrumente und ihre Einsatzmöglichkeiten in der Sozialen Arbeit darstellen. Die wissenschaftliche Debatte in der Sozialen Arbeit haben u.a. Wolf Rainer Wendt, Armin Wöhrle und Herbert Bassarak bestimmt; die auch innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGSA) wichtige Funktionen innehatten und u.a. die Arbeitsgruppe „Sozialwirtschaft“ innerhalb der DGSA mit aufgebaut haben.

Weitgehend unabhängig davon hat sich in der (Wirtschafts- und Organisations-)Soziologie ein Diskurs über Erscheinungsformen und Folgen der Ökonomisierung entwickelt. Aus verbändesoziologischer bzw. politikwissenschaftlicher Perspektive ist das Thema mit Fokus auf die Wohlfahrtsverbände u.a. in Heinze und Schneiders (2014) und Schimank (2018) thematisiert worden. Die steuerungstheoretische Debatte kreist u.a. um die Frage, inwiefern die verstärkte Integration marktlicher Steuerungsinstrumente in den sozialen Dienstleistungssektor einen Widerspruch zu der Tatsache darstellt, dass die dort tätigen Organisationen (auch als Dritte Sektor Organisationen bezeichnet) aus Gründen des Markt- bzw. Staatsversagens gegründet wurden

Aufgrund der Besonderheiten der Sozialen Dienstleistungen, insbesondere der vorhandenen Informationsasymmetrie über die Notwendigkeit und Qualität von Leistungen sowie der für einen Erfolg erforderlichen Ko-Produktion durch die Adressat_innen entzieht sich der Sektor zumindest partiell marktlichen Steuerungsmechanismen. Dies gilt v.a. für Beratungs- bzw. Unterstützungsleistungen, denen neben der Beseitigung bzw. Reduzierung individueller Probleme auch eine gesamtgesellschaftliche Integrationsfunktion innewohnt (bspw. in der Suchthilfe sowie der Straffälligenhilfe). Daher wird auch von „Quasi-Märkten“ (Bode 2005) gesprochen.

Aktuelle Entwicklungstendenzen zeigen, dass die Unterschiede zwischen erwerbswirtschaftlichen und Non-Profit-Unternehmen der Sozialwirtschaft kleiner werden. Eine Vielzahl von frei-gemeinnützigen Organisationen haben aus rechtlichen Haftungsgründen, aber auch um eine stärkere arbeitsrechtliche Flexibilität zu gewinnen, Tochterunternehmen ausgegründet, die überwiegend ebenfalls als Nonprofit-Unternehmen, aber teilweise auch als steuerpflichtige GmbH organisiert sind. Auch in ihrer Funktion als Arbeitgeber sind die Wohlfahrtsverbände aufgrund mittlerweile öffentlich ausgetragener Arbeitskämpfe von gewerblichen Arbeitgebern nur noch bedingt zu unterscheiden. Auf der anderen Seite etablieren sich in der deutschen Sozialwirtschaft neue Organisationen jenseits der traditionellen Wohlfahrtsverbände, deren primäre Motivation zwar nicht die Gewinnerzielung ist, die aber dennoch Züge von gewerblichen Unternehmen (Rechtsform, Risikorationalität etc.) aufweisen und die unter dem Label „Sozialunternehmen“ bzw. „Social Entrepreneurship“ insbesondere medial eine erhöhte Aufmerksamkeit genießen (Schneiders 2017).

Die Wahrnehmung der Sozialen Arbeit als Teil eines (Wirtschafts-)Sektors in Abgrenzung zu anderen industriellen bzw. Dienstleistungsbranchen ermöglicht die Besonderheiten des Sektors in Bezug auf Produktions- und Finanzierungsformen herauszustellen, gleichzeitig aber auch die volkswirtschaftliche Bedeutung zu konturieren.

5 Quellenangaben

Bode, Ingo, 2005. Einbettung und Kontingenz. Wohlfahrtsmärkte und ihre Effekte im Spiegel der neueren Wirtschaftssoziologie. In: Zeitschrift für Soziologie. 34(4), S. 250–269. ISSN 0340-1804

Heinze, Rolf G. und Katrin Schneiders, 2013. Vom Wohlfahrtskorporatismus zur Sozialwirtschaft? Zur aktuellen Situation der freien Wohlfahrtspflege in Deutschland. In: Archiv für Wissenschaft und Praxis der Sozialen Arbeit. 33(2), S. 2–15. ISSN 0340-3564

Heinze, Rolf G. und Katrin Schneiders, 2014. Ökonomisierung der Sozialpolitik und des sozialen Dienstleistungssektors. In: Gary Schaal, Matthias Lemke und Claudia Ritzi, Hrsg. Die Ökonomisierung der Politik in Deutschland: Eine vergleichende Politikfeldanalyse. Wiesbaden: Springer VS, S. 45–68. ISBN 978-3-658-02619-6

Olk, Thomas und Hans-Uwe Otto, Hrsg., 2003. Soziale Arbeit als Dienstleistung: Grundlegungen, Entwürfe und Modelle. München: Luchterhand. ISBN 978-3-472-03018-8 [Rezension bei socialnet]

Schimank, Uwe, 2018. Die Ökonomisierung des Nicht-Ökonomischen. In: neue Praxis – Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Sozialpolitik. 48(1), S. 3–15. ISSN 0342-9857

Schneiders, Katrin, 2017. Social Entrepreneurship als neues Leitbild der Sozialpolitik?: Von medialen Hypes und empirischer Evidenz eines neuen Phänomens. In: Waltraud Grillitsch, Paul Brandl und Stephanie Schuller, Hrsg. Gegenwart und Zukunft des Sozialmanagements und der Sozialwirtschaft: aktuelle Herausforderungen, strategische Ansätze und fachliche Perspektiven. Wiesbaden: Springer VS, S. 363–376. ISBN 978-3-658-15981-8 [Rezension bei socialnet]

Schneiders, Katrin, 2020. Sozialwirtschaft und Soziale Arbeit. Reihe Grundwissen Soziale Arbeit. Stuttgart: Kohlhammer. ISBN 978-3-17-030766-7 [Rezension bei socialnet]

Wendt, Wolf R., 2002. Sozialwirtschaftslehre: Grundlagen und Perspektiven. Baden-Baden: Nomos. ISBN 978-3-7890-8113-2 [Rezension bei socialnet]

6 Literaturhinweise

Grunwald, Klaus und Andreas Langer, Hrsg., 2018. Sozialwirtschaft: Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Baden-Baden: Nomos. ISBN 978-3-8487-3599-0 [Rezension bei socialnet]

Schneiders, Katrin, 2020. Sozialwirtschaft und Soziale Arbeit. Reihe Grundwissen Soziale Arbeit. Stuttgart: Kohlhammer. ISBN 978-3-17-030766-7 [Rezension bei socialnet]

Verfasst von
Prof. Dr. Katrin Schneiders
Leiterin des Studiengangs M.A. Soziale Arbeit
Hochschule Koblenz
Fachbereich Sozialwissenschaften
Website
Mailformular

Es gibt 2 Lexikonartikel von Katrin Schneiders.

Zitiervorschlag
Schneiders, Katrin, 2021. Sozialwirtschaft [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 02.02.2021 [Zugriff am: 18.01.2025]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/1004

Link zur jeweils aktuellsten Version: https://www.socialnet.de/lexikon/Sozialwirtschaft

Urheberrecht
Dieser Lexikonartikel ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion des Lexikons für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.

Zählpixel