Soziologie der Kindheit
Dr. phil. Romy Simon
veröffentlicht am 10.10.2023
Die Soziologie der Kindheit ist ein Teilbereich der Soziologie, welcher die Kinder in den Mittelpunkt seiner Betrachtung rückt.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Kindheit aus soziologischer Perspektive
- 3 Anfänge der Soziologie der Kindheit
- 4 Themen der Soziologie der Kindheit
- 5 Systematisierungen
- 6 Agency und generationale Ordnung
- 7 Aktuelle theoretische Entwicklungen
- 8 Aktuelle Forschungsperspektiven
- 9 Quellenangaben
- 10 Literaturhinweise
1 Zusammenfassung
Die Soziologie der Kindheit befasst sich mit der ersten Lebensphase der Gesellschaftsmitglieder. Zu Beginn der soziologischen Auseinandersetzung mit Kindern wurde der Sozialisation eine besondere Aufmerksamkeit zuteil. Diese verengte Perspektive wurde in den 1980er Jahren durch die neu entstehende Soziologie der Kindheit kritisiert. Damit kamen weitere Aspekte ins Blickfeld.
Besonders prägend sind in diesem Forschungsfeld die Konzepte der Akteurschaft (agency) von Kindern als subjektzentrierte Perspektive und der generationalen Ordnung als kontextzentrierte Perspektive. Forschungsfelder der Soziologie der Kindheit sind u.a. der kindliche Alltag, die zwischenmenschlichen Interaktionen, die Bildung von Gruppen in unterschiedlichen Kontexten (z.B. Kindertagesstätte, Schule, Freizeit) sowie die Stellung der Kinder innerhalb der Sozialstruktur oder im Generationenverhältnis.
2 Kindheit aus soziologischer Perspektive
Die Klassiker der Soziologie, wie Auguste Comte, Karl Marx sowie Georg Simmel setzten sich in ihren Arbeiten nicht mit Kindern als Gegenstand der Soziologie auseinander. Ausnahmen stellen Émile Durkheim, Talcott Parsons sowie George Herbert Mead dar. Im Hauptfokus ihrer Aufmerksamkeit lag die Sozialisation der Kinder als Werdende, dem sogenannten „human becoming“ (James und Prout 1997). Demnach stand nicht das Kind als Individuum im Vordergrund des Interesses, sondern in seinem Verhältnis zur Gesellschaft (Bühler-Niederberger 2020).
Kindheit ist die erste Altersphase im Lebenslauf, die historisch, gesellschaftlich sowie kulturell bedeutsam in der Unterscheidung zu den darauffolgenden Lebensphasen ist. Sie unterliegt gesellschaftlichen Wandlungsprozessen, welche sich in der Veränderung von Idealbildern von Kindheit sowie tatsächlichen Formen des Aufwachsens der Kinder abzeichnen.
Durch die Pluralität der Lebensformen in der aktuellen Gesellschaft ist eine Vielzahl an Gestaltungsmöglichkeiten entstanden, die aber auch mit einem höheren Entscheidungsdruck für verschiedene Bereiche des alltäglichen Lebens verbunden sind. Zentrale Merkmale des gegenwärtigen Kindheitsmusters können wie folgt zusammengefasst werden (Hungerland 2018, S. 221):
- räumliche und gedankliche Separierung, d.h. Kinder werden in der Gegenüberstellung zu den Erwachsenen als abweichend wahrgenommen;
- Institutionalisierter Schon- und Vorbereitungsraum, d.h. Separierung der Kinder von den Erwachsenen;
- Scholarisierung und Pädagogisierung, d.h. Begleitung durch Erwachsene innerhalb von Institutionen der Erziehung und Bildung;
- Zunehmende Institutionalisierung von Kindheit, d.h. Einbindung in Institutionen wie z.B. Kindertagesstätte, Schule, Hort etc.;
- Familialisierung, d.h. Rückbezug der Kinder auf die Kernfamilie;
- emotionale Aufwertung, d.h. Zuschreibung eines hohen emotionalen Werts an die Kinder;
- Verhäuslichung, d.h. Verlagerung der Straßenkindheit ins häusliche Umfeld;
- Mediatisierung, d.h. Durchdringen der kindlichen Lebenswelt durch eine Vielzahl an Medien.
Kindheit wird erst ein soziologischer Gegenstand,
„wenn sie nicht nur als abgeleitetes ‚Familienproblem‘ und im Blick auf ihre gesellschaftliche Bedeutung für eine zukünftige Gesellschaft, sondern als sowohl gegenwärtig wie zukünftig wichtiger Forschungsgegenstand und im Blick auf die sich wechselseitig differenzierende Gestalt aller Lebensphasen aller Altersgruppen thematisiert wird“ (Schweizer 2008, S. 56).
Durch eine soziologische Betrachtung der Kindheit kann ihre Funktion als wesentliche Strukturkategorie von Gesellschaften hervorgehoben werden. Denn Kindheit dient als gesellschaftliches Differenzierungsmerkmal, durch welche dem Handeln der kindlichen Akteur:innen Möglichkeiten und Chancen, jedoch ebenso Einschränkungen und Grenzen zugewiesen werden (Hungerland 2018).
3 Anfänge der Soziologie der Kindheit
Die Lebensphase Kindheit fand innerhalb der Sozialwissenschaften als eigenständiges Forschungsfeld lange keine Beachtung, Kindheit als Teilbereich der Soziologie ist daher eine relativ neue Teildisziplin. Erst in den 1940er Jahren entstanden in den USA eine Reihe von empirischen Studien, die es sich zum Ziel gesetzt hatten, die Gelingensbedingungen der kindlichen Integration in die Gesellschaft aufzudecken sowie den Einfluss des elterlichen Erwerbsarrangements auf das Aufwachsen von Kindern herauszustellen (Hengst und Zeiher 2005).
Als Wegweiser für die sozialwissenschaftliche Betrachtung der Lebensphase Kindheit gilt die Monographie „Entdeckung der modernen Kindheit“ von Philippe Ariès (1962). Der französische Historiker formulierte die These, dass das Kindheitskonzept erst zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert entstanden sei. Demnach stelle die Kindheit kein naturgebundenes Phänomen dar und Kinder seien soziale Wesen (Hengst und Zeiher 2005; Schweitzer 2009).
Der in der Tradition des Symbolischen Interaktionismus stehende US-amerikanische Soziologe Norman K. Denzin entwarf in den 1970er Jahren die Vorstellung von Kindern als Akteur:innen. Hinzu kamen ethnomethodologische Studien, die in ihren Arbeiten nicht den Fokus darauf legten, wie soziale Ordnung hergestellt wird, sondern inwieweit Kinder in soziale Interaktionsprozesse eingebunden werden (Bühler-Niederberger 2010).
Die einsetzenden Modernisierungsprozesse in den 1960er und 1970er Jahren führten zu einem zunehmenden sozialwissenschaftlichen Interesse an der Kindheit. Beispielsweise rückte die Frage nach den mit den Veränderungen einhergehenden gesellschaftlichen Konsequenzen in den Betrachtungswinkel (Honig 1996). Dennoch wurde bis in die 1980er Jahre hinein kaum der Blick auf kindliche Akteur:innen mit ihren Perspektiven, Interaktionsmustern sowie sozialen Beziehungen gelegt (Bühler-Niederberger 2010).
Erst ab diesem Zeitraum ist in der internationalen Kindheitsforschung eine Intensivierung des soziologischen Interesses erkennbar. Insbesondere dem dänischen Soziologen Jens Qvortrup ist es zu verdanken, dass eine Gruppe von Forscher:innen zusammenarbeitete, um seine Forderung „Kinder zur Untersuchungs- und Beobachtungseinheit sozialwissenschaftlicher Studien zu machen“ zu realisieren (Bühler-Niederberger 2020, S. 191).
Die Kritik der Kindheitssoziologie an der bisherigen Forschung bezog sich vordergründig auf den Strukturfunktionalismus und das Sozialisationskonzept (Bühler-Niederberger 2010). Bis dato seien die Kinder nicht als eigenständige Gesellschaftsgruppe registriert worden, ebenso wenig seien die kindlichen Perspektiven und Kompetenzen in den bisherigen Studien berücksichtigt worden.
Es etablierte sich eine sozialkonstruktivistische Perspektive auf Kindheit (Hengst und Zeiher 2005). Demnach sind die Alterskategorien historisch, kulturell sowie sozial variabel. Hinzu kommt das normativ aufgeladene Bild einer „guten“ Kindheit, welches auf der einen Seite das kindliche Handeln sowie auf der anderen Seite die Handlungen zu Gunsten der Kinder beeinflusst. Kinder wurden nicht länger als ‚human becomings‘, sondern als ‚human beings‘ – als Seiende – wahrgenommen (Gankam Tambo 2016, S. 126).
Heinzel et al. stellen drei zentrale Entwicklungen fest, die zu „einem Paradigmawechsel im Zugang zu Kindern und Kindheit aus einer übergreifenden sozialwissenschaftlichen Perspektive“ (Heinzel et al. 2012, S. 11) geführt haben:
- Kindheit ist kein starres Konstrukt, da diese in historische und sozio-kulturelle Kontexte eingebunden ist.
- Die Auffassung, kindliche Entwicklung kontrollieren zu können, wandelte sich hin zur Annahme, dass eine Vielzahl von Selbstorganisationsprozessen ablaufen.
- Kinder werden nicht mehr als passive Wesen betrachtet, sondern als ebenso maßgeblich an der Gestaltung ihrer Umwelt beteiligt.
Die Bezeichnungen „Kindheitssoziologie“, „childhood studies“ sowie „new childhood sociology“ verbreiteten sich zunehmend (Bühler-Niederberger 2010, S. 438). Unter der letzten werden weltweit die soziologischen Perspektiven auf Kinder und Kindheit zusammengefasst (Hengst und Zeiher 2005, S. 9).
4 Themen der Soziologie der Kindheit
Die Soziologie der Kindheit wendet sich einer Vielzahl von unterschiedlichen Themen zu, die das kindliche Aufwachsen in den Gesellschaften mit ihren jeweiligen Rechten und Pflichten beleuchten, wie z.B. (Schweizer 2007):
- Familienkindheit
- Schulkindheit
- Freundschaften von Kindern
- Lebenslage und Lebenslauf von Kindern
- Kindheit und soziale Ungleichheit
- Kinder als Außenseiter
- Kindheit und Geschlecht
- Rechte der Kinder
- mediatisierte Kindheit
Es zeigt sich eine breite Palette an unterschiedlichen Aspekten, die in den Betrachtungsfokus rücken und für welche ausgehend von empirischen Studien Daten erhoben werden.
5 Systematisierungen
Insbesondere seit den 1990er Jahren zeigen sich Versuche der Systematisierung und Koordinierung der unterschiedlichen Entwicklungslinien und Differenzierungen der Kindheitssoziologie. In Anschluss an Anthony Giddens Strukturationstheorie wählten Allison James und James Prout einen sozialkonstruktivistischen Ansatz der Kindheitssoziologie (Schweizer 2008). Der Sammelband „Constructing and reconstructing childhood“ (James und Prout 1997) vereint unterschiedliche soziologische Ansätze der Kindheitsforschung und „konstituieren seither mit den New Social Childhood Studies den methodologischen Bezugsrahmen für die neue soziologische Forschung zu Kindern und Kindheit“ (Gankam Tambo 2016, S. 126). Innerhalb dieses Forschungsfeldes findet eine reflexive Auseinandersetzung der Stellung der Kinder in der Soziologie statt.
James und Prout heben sechs Merkmale des Paradigmas der 1980er und 1990er Jahren hervor (James und Prout, 1997; Gankam Tambo 2016):
- Kindheit ist eine sozial-kulturelle Konstruktion;
- Kindheit ist eine Variable der sozialen Analyse;
- die kindlichen Beziehungen und Lebensweisen sind eigen in ihrer Art;
- Kinder gestalten aktiv ihren Alltag;
- Fokus auf ethnografische Methoden zur Erforschung von Kindheit;
- Verkündung eines neuen Paradigmas, welches die Förderung einer Restrukturierung von Kindheit zur Folge hat.
Sichtbar wird, dass Kinder als aktive Teilnehmer:innen der Gesellschaft aufgefasst werden, welche die Gesellschaft verstehen und beeinflussen können. Nachdem die Kinder lange Zeit als unvollständige Erwachsene wahrgenommen wurden, rückte mit dieser Perspektive das Hier-und-Jetzt der Kinder in das Zentrum der Aufmerksamkeit (Schweizer 2008). Dies führte dazu, dass zunehmend Studien über die kindlichen Alltagswelten mit ihren Handlungen und Interpretationen durchgeführt wurden. Insbesondere die Frage, wie sich die Kinder anhand der Gesellschaft die Welt erschließen, wurde von Interesse (Schweizer 2007).
Im November 1989 wurde das Übereinkommen über die Rechte des Kindes der Vereinten Nationen verabschiedet, in welchem den Kindern eigene Rechte anerkannt wurden. Dies führte zu einer Ausweitung der New Social Childhood Studies (Gankam Tambo 2016, S. 127)
Als institutioneller Ausdruck dieser Wissenschaftsentwicklung kann die im Jahr 1995 gegründete Sektion der Kindheitssoziologie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie betrachtet werden (Schweizer 2007). Ihr Ziel ist es, „Kindheit als relevantes gesellschaftliches Phänomen sichtbar zu machen und sozialen Wandel aus dieser Perspektive zu erschließen“ (DGS Deutsche Gesellschaft für Soziologie o.J.).
6 Agency und generationale Ordnung
Gängig ist der Vorschlag, zwei für die Soziologie der Kindheit zentrale Konzepte zu unterteilen (Schweizer 2008; Bühler-Niederberger, 2010, 2018; Hungerland 2018).
- Die Akteurschaft (agency) von Kindern: Demnach werden Kinder als aktiv handelnde Gesellschaftsmitglieder wahrgenommen, die kompetent handeln. Mit diesem akteursbezogenen Blick kann die kindliche Perspektive auf die Welt und ihre Einbettung im sozialen Leben sichtbar gemacht werden. Beispielsweise werden Freundschaften von Kindern untersucht, in denen Konflikte und Geschlechterrollen ausgehandelt werden.
- Die generationale Ordnung: Aus dieser Perspektive werden Diskurse und Praxen in den Blick genommen mit der Frage, welche Positionen und Verfügungen über Ressourcen und Verantwortlichkeiten generational verteilt werden. Beispielsweise werden die Unterschiede bezüglich der Rechte und Pflichten zwischen Kindern und Erwachsenen betrachtet (Schulpflicht, Kinderrechte nach der UN-Kinderrechtskonvention, Wahlrecht, Geschäftsfähigkeit).
Weitere Differenzierungskonstruktionen lassen sich in der Ethnie, der sozialen Herkunft, der sozialen Ungleichheit sowie dem Geschlecht festhalten (Hungerland 2008).
7 Aktuelle theoretische Entwicklungen
Bei den sozialkonstruktivistischen Ansätzen gilt die Prämisse,
„dass Kinder auch als gesellschaftlich anerkannte Akteure ihr Leben nicht unabhängig von ,objektiven Bedingungen‘ führen können, dabei aber Freiheitsgrade und Handlungsspielräume nutzen – und ihrerseits Reorganisationsimpulse geben können“ (Schweizer 2008, S. 260).
Die gesellschaftliche Position der Kinder ist demnach untrennbar mit Bezug auf die Erwachsenen im Kontext der Generationen verbunden. Dabei spielen verschiedene Perspektiven eine zentrale Rolle, wie zum Beispiel Abhängigkeiten zwischen den verschiedenen Altersgruppen, die Positionen, Rechte und Ressourcen der Kinder im Vergleich zu den Erwachsenen sowie die Auseinandersetzung, Ideologisierung und Kritik der intergenerationalen Machtverhältnisse in Diskursen über Kindheit (Hengst und Zeiher 2005, S. 18).
Auf der einen Seite werden die Kinder als kompetente Akteur:innen betrachtet, auf der anderen Seite sind sie jedoch verletzlich durch ihre körperlich und psychisch noch nicht vollentwickelte Verfassung (Zeiher 2000; Schweizer 2008).
Die Sektion der Soziologie der Kindheit der DGS verweist auf drei forschungsleitende Annahmen:
- Kindheit ist ein soziales Konzept und eine generationenübergreifende Struktur durch welche die gesellschaftlichen Gruppen ‚Kinder‘ und ‚Erwachsene‘ bzw. ‚Kindheit‘ und ‚Erwachsenheit‘ reproduziert und verändert werden.
- Gesellschaftliche Veränderungen und Prozesse der sozialen Differenzierung betreffen die Gruppe der Kinder auf eigene Weise und in diesem Kontext bilden sich auch unterschiedliche Kindheitsmuster heraus.
- Kinder sind eine eigenständige Gruppe von Handelnden, die an gesellschaftlichen Entwicklungen teilnehmen und diese ebenso aktiv mitgestalten. Kinder sollten demnach als Forschungssubjekte in die methodische Erforschung gesellschaftlicher Phänomene einbezogen werden.
Demnach grenzen sich Kinder durch unterschiedliche Aspekte von den anderen Generationen ab, stellen jedoch in sich keine homogene Gruppe dar. So wachsen Kinder mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen auf, die sich beispielsweise auf den Zugang auf Bildung auswirken können.
Innerhalb der Forschungspraxis ist eine Zweiteilung beobachtbar. Die auf einer Makroebene angelegten Arbeiten betrachten aus einer quantitativen, historischen Perspektive Kindheit als soziale Konstruktion. Die in der Mikroebene verankerten Studien gehen u.a. der agency von Kindern aus einem ethnographischen Blickwinkel nach (Eßer 2017, S. 74).
Vielfach ist Kritik an der Zweiteilung in structure sowie acengy ausgeübt worden. Aus der kritisch-reflexiven Auseinandersetzung mit den Childhood Studies hat sich eine Strömung entwickelt, die die sozialtheoretischen Grundlagen der Kindheitsforschung erneuern will. Diese lassen sich der so genannten Neuen Kindheitsforschung zuordnen (ebd.).
Ausgehend von dieser wird zum einen die Perspektive Kindheit als Konstruktion zu betrachten, erweitert. Demnach wird das Kind als Hybrid gedacht, in welchem „soziale, biologische, materiale und politische Entitäten zusammenspielen“ (ebd.). Zum anderen wird die Perspektive, Kinder als soziale Akteur:innen wahrzunehmen, verändert. Kinder agieren demnach in eingebundenen Handlungskollektiven (z.B. die Schulklasse, die Peers), welche gewisse Handlungen ermöglichen oder unterbinden.
8 Aktuelle Forschungsperspektiven
Der Medienpädagogische Forschungsverbund Südwest (mpfs) nimmt in verschiedenen Studien das Aufwachsen von Kindern in der digitalisierten Gesellschaft in den Blick. Sowohl 2012, 2014 sowie 2020 wurde die miniKIM Studie vorgelegt, in welcher die Mediennutzung von 2- bis 5-jährigen Kleinkindern untersucht worden ist. In der letzten Studie (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2021) sind 600 primäre Bezugspersonen, welches überwiegend die Mütter gewesen sind, befragt worden, da aufgrund des Alters die Kleinkinder nicht direkt befragt werden konnten. Die KIM-Studie bezog dann jedoch sowohl die Kinder als eigenständige Akteur:innen sowie deren primäre Betreuungspersonen mit in die Erhebung ein.
Mit der KIM-Studie 2022 wurde bereits das 13. Mal die Basisstudie vorgelegt, welche sich mit den Medien im kindlichen Alltag auseinandersetzt (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2023). Insgesamt wurden 1.219 Kinder im Alter zwischen sechs und 13 Jahren sowie deren Hauptbezugspersonen mittels computergestützten persönlich-mündlichen Interviews bzw. Selbstausfüllfragebogen befragt. Sichtbar wird in der längsschnittlichen Studie, dass vermehrt Streaming-Dienste, Tablets sowie Smart-TVs in den Haushalten vorhanden sind. Mit zunehmendem Alter nutzen die Heranwachsenden die Mediengeräte häufig ohne Begleitung von erwachsenen Personen. Eine Begrenzung der Bildschirmzeit bei PC, Laptop, Tablet bzw. Handy findet bei einem Drittel der Kinder statt, ein Viertel bei der Spielkonsole (a.a.O., S. 84).
Eine weitere Längsschnittstudie stellt die Dresdner Kinder- und Jugendstudie dar, welche 2021 zum vierten Mal innerhalb von 20 Jahren durchgeführt wurde (Lenz und Schlinzig 2022). In dieser Untersuchung sind für den Teil der Kinderstudie 400 Schüler:innen der dritten bis neunten Klasse befragt sowie vier biografische Porträts angefertigt worden. Der Hauptfokus lag hier auf den Heranwachsenden, sodass keine Erziehungsberechtigten in die Stichprobe mit einbezogen wurden. Das Erkenntnisinteresse fokussierte auf die Lebenslagen der Heranwachsenden in Dresden mit ihren zentralen Lebensfeldern, wie die Familie, Freund:innen, Schule sowie der freizeitliche Bereich. Zudem wurden ebenso möglicherweise bestehende Problemlagen mit erhoben.
Die mikrosoziologische Studie Doing Mehrkindfamilie zum Familienalltag in Mehrkindfamilien untersuchte sowohl die Elternpaare als auch die Kinder als Geschwistergruppe (Simon 2022). Innerhalb von Geschwisterinterviews berichteten die Heranwachsenden vom Alltag in Familien mit drei und mehr Kindern. Dies ermöglichte, die kindliche Perspektive u.a. auf das Erwerbsarrangement der Elternteile sowie die sozialen Unterstützungsprozesse durch soziale Netzwerke zu erfassen.
9 Quellenangaben
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10 Literaturhinweise
Bühler-Niederberger, Doris, 2020. Lebensphase Kindheit: Theoretische Ansätze, Akteure und Handlungsspielräume. 2. Auflage. Weinheim: Beltz Juventa. ISBN 978-3-7799-2623-8 [Rezension bei socialnet]
Bühler-Niederberger, Doris, 2010. Soziologie der Kindheit. In: Georg Kneer und Markus Schroer, Hrsg. Handbuch Spezielle Soziologien. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 437–456. ISBN 978-3-531-15313-1 [Rezension bei socialnet]
Schweizer, Herbert, 2007. Soziologie der Kindheit: Verletzlicher Eigen-Sinn. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. ISBN 978-3-531-90255-5
Verfasst von
Dr. phil. Romy Simon
Lehrkraft für Besondere Aufgaben
TU Dresden
Institut für Sozialpädagogik, Sozialarbeit und Wohlfahrtswissenschaften
Professur für Beratung und soziale Beziehungen
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