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Spiegeln (Psychodrama)

Thomas Wittinger

veröffentlicht am 24.04.2024

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Englisch: mirroring

Fassung: Neufassung

Spiegeln ist eine Grundtechnik des Psychodramas, bei der die Protagonist:innen die eigene Szene (wie in einem Spiegel) aus der Spiegelposition betrachten.

Überblick

  1. 1 Grundlagen
  2. 2 Anwendungsbereiche
  3. 3 Quellenangaben
  4. 4 Literaturhinweise

1 Grundlagen

Das Spiegeln ist – neben dem Doppeln und dem Rollentausch – eine der drei Grundtechniken des Psychodramas. Der Begründer des Psychodramas, Moreno, erklärt sie nicht aus seiner Rollentheorie, sondern entwicklungspsychologisch:

„Diese Verfahren im Psychodrama können in plausibler Weise mit drei Stufen in der Entwicklung des Kindes verglichen werden: (a) das Stadium der Identität (oder das Stadium des Doppelns); (b) das Stadium der Selbsterkenntnis (das Stadium des Spiegelns); (c) das Stadium des Erkennens des anderen (das Stadium des Rollentauschs).“ (Hutter und Schwehm 2009, S. 330).

Demnach „leitet Moreno die Spiegeltechnik aus der Phase der Ich-Erkenntnis ab. Mit ihrer Hilfe wird eben dieser Entwicklungsschritt, in dem der Mensch lernt, sich und seine eigene Situation realistisch wahrzunehmen und einzuschätzen, unterstützt“ (Hutter 2000, S. 221).

Für die Spiegelposition stellt sich der bzw. die Protagonist:in neben die Leitung an den Bühnenrand und betrachtet von dort aus wie in einem Spiegel noch einmal das eigene Rollenspiel.

Die eigene Rolle wird von einem den bzw. die Protagonist:in stellvertretenden Hilfs-Ich eingenommen. (Manche Autor:innen sprechen auch von einem Stand-In, Ameln und Kramer 2014). Durch das Spiegeln verlässt der bzw. die Protagonist:in die auf das eigene emotionale Erleben gerichtete Innenperspektive der von ihm bzw. ihr erlebte Situationen und betrachtet sie aus einer distanzierteren Außenperspektive.

In der Spiegelposition kann die Leitung mit dem bzw. der Protagonist:in ein Interview führen. Das Ziel dieses Interviews ist, dass ausschließlich (!) der bzw. die Protagonist:in das in der eigenen Szene dargestellte Verhalten überprüft, kommentiert oder eventuell bewertet werden kann. Aus dieser Position kann der bzw. die Protagonist:in sich auch einen Rat geben und direkt im Anschluss ausprobieren.

Aufgrund dieses gezielten Einsatzes entspricht das Spiegeln entwicklungspsychologisch einem späteren Stadium als von Moreno beschrieben (Schacht, unveröffentlichter Vortrag, S. 18–21).

Umgekehrt doppelt die spielende Gruppe das komplexe Erleben des bzw. der Protagonist:in in der dargestellten Situation. Deshalb wird dieses Arrangement auch als spiegelndes Doppeln bezeichnet. Insofern hat die Spiegeltechnik eher konfrontierenden Charakter und sollte nur eingesetzt werden, wenn der bzw. die Protagonist:in die Diskrepanz zwischen seinem bzw. ihrem tatsächlichen Verhalten und dem gewünschten Verhalten emotional und kognitiv annehmen kann.

2 Anwendungsbereiche

Die Spiegeltechnik eignet sich

  • mit Blick auf eine angestrebte Veränderung als Aufwärmung z.B. für ein Probehandeln;
  • wenn der bzw. die Protagonist:in „offensichtlich in starren, eingefahrenen oder sonst wie unangemessenen Verhaltensmustern gefangen ist, dies aber selbst nicht zu bemerken scheint.“ (Ameln und Kramer 2014, S. 67 f.)
  • um Widerstand zu bearbeiten, weil der bzw. die Protagonist:in in der Spiegelposition den eigenen Widerstand selbst sehen kann (a.a.O., S. 229)
  • um eine für den bzw. die Protagonist:in extrem belastende Situation zunächst aus der Distanz zu betrachten.

Von Ameln weist auf die Unterschiede der Spiegeltechnik zum Videofeedback hin (a.a.O., S. 66). In der psychodramatischen Arbeit kann

  • der bzw. die Protagonist:in mit seinem bzw. ihrem Stellvertreter in Kontakt treten;
  • der bzw. die Stellvertreter:in ein Feedback geben;
  • die spiegelnde Gruppe z.B. durch Übertreibung erweitern.

3 Quellenangaben

Ameln, Falko und Josef Kramer, 2014. Psychodrama: Grundlagen. Heidelberg: Springer Verlag. ISBN 978-3-6424-4921-5

Hutter, Christoph, 2000. Psychodrama als Experimentelle Theologie. Münster: Lit-Verlag. ISBN 978-3-8258-4666-0

Hutter, Christoph, und Helmut Schwehm, 2009. J. L. Morenos Werk in Schlüsselbegriffen. Wiesbaden: VS-Verlag. ISBN 978-3-5311-9593-3

Schacht, Michael (unveröffentlichter Vortrag). Theorie und entwicklungspsychologische Begründung psychodramatischer Techniken

4 Literaturhinweise

Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie (14)2, 2015. Spiegeln. ISSN 1619-5507

Verfasst von
Thomas Wittinger
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Es gibt 21 Lexikonartikel von Thomas Wittinger.

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  1. 24.04.2024 Thomas Wittinger [aktuelle Fassung]
  2. 27.10.2021 Inge-Marlen Ropers

Zitiervorschlag
Wittinger, Thomas, 2024. Spiegeln (Psychodrama) [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 24.04.2024 [Zugriff am: 10.10.2024]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/29903

Link zur jeweils aktuellsten Version: https://www.socialnet.de/lexikon/Spiegeln-Psychodrama

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