Sprachförderung
Prof'in Dr. Diemut Kucharz
veröffentlicht am 01.11.2024
Sprachförderung unterstützt Kinder mit unzureichender Sprachkompetenz in der Aneignung und Entwicklung der Umgebungssprache, um ihnen eine umfangreiche gesellschaftliche Partizipation zu ermöglichen.
Überblick
- 1 Begriffseingrenzung
- 2 Formen von Sprachförderung
- 3 Herausforderungen und Probleme
- 4 Quellenangaben
- 5 Literaturhinweise
1 Begriffseingrenzung
Der Begriff Sprachförderung grenzt sich von der Sprachbildung und Sprachtherapie ab. In der Regel erfolgt Sprachförderung in Institutionen des Bildungssystems wie in Kindertageseinrichtungen und (Grund-)Schulen. Der Anteil an Kindern mit Sprachförderbedarf im Vorschulalter schwankt erheblich zwischen 15 und 40 Prozent (Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung 2024, S. 121). Sprachbildung dagegen beschreibt den lebenslangen Prozess der Weiterentwicklung und Differenzierung der Sprache(n) eines Menschen. Sie wird daher allen Menschen zuteil und erfolgt insbesondere in Bildungsinstitutionen oder am Arbeitsplatz über die Lebensphasen hinweg. Darüber hinaus ist die Sprachbildung geprägt von anderen Einflüssen, wie Medien, oder durch andere Personen. Sprachtherapie erhalten diejenigen Kinder, bei denen durch Expert:innen ein sprachtherapeutischer Bedarf diagnostiziert wurde; das betrifft in Deutschland etwa fünf bis acht Prozent der Kinder (Kucharz 2022, S. 49). In der Regel handelt es sich dabei um genetisch bedingte Beeinträchtigungen, wie z.B. eine spezifische Sprachentwicklungsstörung, und ist z.B. nicht mit einem zuwanderungsbedingten Förderbedarf in der Umgebungssprache zu verwechseln. Logopäd:innen und Sprachheilpädagog:innen sind Expert:innen für solche sprachtherapeutische Arbeit.
2 Formen von Sprachförderung
Sprachförderung, z.B. in Kindertageseinrichtungen, kann in verschiedenen Formen angeboten werden. Die Unterscheidung zwischen additiver und integrierter Sprachförderung verdeutlicht unterschiedliche Organisationsformen (Kucharz 2022). Bei der additiven Sprachförderung handelt es sich um eine gesonderte Form, die zusätzlich zum Kitabesuch in Kleingruppen für mehrere Kinder mit Sprachförderbedarf angeboten wird. Fast alle Bundeländer haben solche additiven Sprachförderangebote für das letzte Kitajahr unter unterschiedlichen Namen eingerichtet. In manchen Bundesländern ist der Besuch einer solchen Gruppe für die Kinder, bei denen z.B. im Rahmen der Einschulungsuntersuchung ein Sprachförderbedarf festgestellt wurde, verpflichtend (z.B. in Hessen die Vorlaufkurse). Integrierte Formen der Sprachförderung dagegen finden nicht zusätzlich, sondern innerhalb des Kitabesuchs statt und sind in den Kitaalltag eingefügt. Die Kinder mit Sprachförderbedarf werden also nicht aus der Gesamtgruppe herausgenommen, sondern verbleiben in ihr und werden dort während ihrer Aktivitäten sprachlich gefördert, sozusagen nebenbei, aber dennoch gezielt (Kucharz 2022).
Darüber hinaus wird Sprachförderung auch hinsichtlich ihrer Inhalte unterschieden. Es gibt zahlreiche Sprachförderprogramme, die auf eine eher systematische Vermittlung der deutschen Sprache abzielen und lehrgangsmäßig mittels verschiedener Lektionen oder Bausteine aufgebaut sind. Beispiele dafür sind „Konlab“ (Zvi Penner in Jampert et al. 2007) oder „Deutsch für den Schulstart“ (Giulio Pagonis, s. Jampert et al. 2007). Hier lernen die Kinder anhand von meist spielerischen Übungen die grammatikalischen Besonderheiten der deutschen Sprache wie die Verbzweitstellung im Hauptsatz oder die Pluralbildung kennen. Auch der Wortschatz wird anhand vorgegebener Themenfelder erweitert. Solche Programme sind in der Regel linguistisch fundiert, teils auch evaluiert und werden häufig in additiven Sprachfördersettings eingesetzt. Es gibt aber auch Pädagog:innen, die sich bei der Gestaltung solcher additiven Sprachfördersettings weniger an vorgegebenen Programmen orientieren, sondern selbst einen Plan aus vielerlei Material zusammenstellen. Hier fehlt häufig die wissenschaftliche und empirische Fundierung, sodass eine positive Wirkung auf die Sprachkompetenz der Kinder nicht gewährleistet ist (Knapp et al. 2010). Andere sog. alltagsintegrierte Konzepte nutzen die innerhalb der Einrichtung und des Kita-Alltags anfallenden Gesprächssituationen, um diese sprachförderlich zu gestalten. Hierbei werden Scaffolding-Strategien eingesetzt, die an den kindlichen Äußerungen ansetzen, diese korrigieren und erweitern, um damit den Kindern Sprachmuster und -vorbilder wie ein Gerüst (Scaffolding) anzubieten, an dem sie sich orientieren können. Zentrale Strategien sind Sprachfördertechniken wie das Modellieren, also das Ergänzen und Erweitern kindlicher Äußerungen, das Stimulieren, um Kinder zum Sprechen anzuregen, sowie das positive korrektive Feedback (Kucharz 2018; Beckerle 2017; Löffler und Vogt 2015). Solche Strategien werden vor allem in integrierten Sprachfördersettings eingesetzt. Studien zeigten positive Wirkungen auf die Sprachkompetenz der Kinder, wenn die Fachkräfte in der gezielten Anwendung dieser Strategien geschult wurden (z.B. Beckerle 2017; Kammermeyer et al. 2022).
3 Herausforderungen und Probleme
Zu den Herausforderungen und Problemen der Sprachförderung gehören erstens eine uneindeutige empirische Befundlage zur Wirksamkeit, zweitens ein Mangel an umfassend durchgeführter Sprachstandsdiagnostik sowie drittens eine individuell bedarfsorientierte Umsetzung der Sprachförderung.
Als wirksam konnten bisher nur wenige Sprachförderverfahren eindeutig empirisch bestätigt werden (Kämpfe et al. 2021; Beckerle, 2017, Egert und Hopf 2015), obwohl in den letzten Jahren durch die Bund-Länder-Initiative BiSS – Bildung durch Sprache und Schrift zahlreiche Evaluationsstudien durchgeführt wurden (Gentrup et al. 2021). Meist zeigte sich wirksame Sprachförderung in Verbindung mit einer professionellen Fortbildungsreihe für die pädagogischen Fachkräfte (Kammermeyer et al. 2022). Um die Wirkung einer Sprachförderung eindeutig nachweisen zu können, braucht es ein aufwändiges methodisches Forschungsdesign, das in der Realität nicht einfach umzusetzen ist. So sind oft die Stichproben zu klein, die untersuchten Sprachfördersettings zu heterogen, um vergleichbar zu sein, und Kontrollgruppen fehlen (Egert und Hopf 2016; Titz et al. 2018b). Da Sprache aber allgegenwärtig ist und Kinder sich unabhängig von einer Förderung sprachlich weiterentwickeln, sind solche Voraussetzungen wichtig, um einen Effekt eindeutig auf eine bestimmte Förderung zurückführen zu können.
Als herausfordernd erweist sich zweitens das Diagnostizieren eines Sprachförderbedarfs. Es liegen zwar zahlreiche qualitativ hochwertige Sprachtests vor (z.B. SETK 3–5, SET 5–10, LiSe-DaZ. Überblick: Schierbaum und Rezagholinia 2022; Kany und Schöler 2010), die differenziert einen Sprachförderbedarf im Deutschen sowie einen Sprachtherapie-Bedarf feststellen können. Diese können jedoch nur von ausgebildeten Fachleuten eingesetzt und ausgewertet werden. Einige Bundesländer setzen solche standardisierten Sprachtests im Rahmen der Einschulungsuntersuchung ein, um einen Sprachförder- oder Sprachtherapiebedarf festzustellen. Dafür sind solche Verfahren geeignet. Aber nicht in allen Bundesländern kommen solche standardisierten Verfahren zum Einsatz. Vielmehr werden unspezifische Beobachtungen im Kitalltag, subjektive Einschätzungen anhand kindlicher Äußerungen oder selbstgestaltete Testverfahren als Legitimation zur Zuweisung eines Sprachförderbedarfs herangezogen. Manchmal genügt auch einfach der Tatbestand, dass ein Kind mehrsprachig ist und zuhause eine andere Familiensprache als Deutsch gesprochen wird, um ihm einen solchen Status zuzuschreiben. Solche Vorgehensweisen sind weder objektiv noch valide und deshalb nicht geeignet, um einen Sprachförderbedarf festzustellen, da Kinder dadurch ungerechtfertigt einem Vorlaufkurs o.ä. vor der Einschulung zugewiesen werden (zur Problematik s. auch Titz et al. 2018).
Die dritte Herausforderung liegt darin, ein adaptives Vorgehen in der Sprachförderung anzuwenden. Damit ist gemeint, dass die sprachförderlichen Angebote individuell an das Sprachniveau des jeweiligen Kindes angepasst werden, um es im Sinne Vygotskys in der Zone der nächsten Entwicklung zu fördern (Vygotsky 1987). Dies kann nur gelingen, wenn die Fachkraft den differenziert diagnostizierten Sprachstand eines Kindes kennt. Das ist selten der Fall ist, weil entweder nicht diagnostiziert wurde oder die Testergebnisse den Fachkräften nicht bekannt sind oder von ihnen nicht gedeutet werden können. Alltagstaugliche diagnostische Verfahren zur differenzierten Sprachstandsfeststellung liegen inzwischen ebenfalls vor (z.B. Sprachprobe: Beckerle et al. 2019, Schierbaum und Rezagholinia 2022, S. 72 ff.; Sismik und Seldak: Schierbaum und Rezagholinia 2022, S. 71).
4 Quellenangaben
Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung, 2024. Bildung in Deutschland 2024. Bielefeld: Bertelsmann [Zugriff am: 17.07.2024]. Verfügbar unter: https://www.bildungsbericht.de/de/bildungsberichte-seit-2006/​bildungsbericht-2024/​pdf-dateien-2024/​bildungsbericht-2024.pdf.
Beckerle, Christine, 2017. Alltagsintegrierte Sprachförderung im Kindergarten und in der Grundschule: Evaluation des „Fellbach-Konzepts“. Weinheim: Beltz Juventa. ISBN 978-3-7799-3445-5 [Rezension bei socialnet]
Beckerle, Christine, Diemut Kucharz und Katja Mackowiak, 2019. Sprachproben in der Praxis. Die Methode Schritt für Schritt. In: Kindergarten heute. 49(8), S. 10–12. ISSN 0344-3949
Egert, Franziska und Michaele Hopf, 2016. Zur Wirksamkeit von Sprachförderung in Kindertageseinrichtungen in Deutschland. Ein narratives Review. In: Kindheit und Entwicklung. 25(3), S. 153–163. ISSN 0942-5403
Gentrup, Sarah, Sofie Hentschel, Kristin Schotte, Luna Beck und Petra Stanat, Hrsg., 2021. Sprach- und Schriftförderung wirksam gestalten: Evaluation umgesetzter Konzepte. Stuttgart: Kohlhammer. ISBN 978-3-17-037519-2
Jampert, Karin, Petra Best, Angela Guatadiello, Doris Holler und Anne Zehnbauer, Hrsg., 2007. Schlüsselkompetenz Sprache: Sprachliche Bildung und Förderung im Kindergarten. 2. Auflage. Weimar: Verlag Das Netz. ISBN 978-3-937785-60-8
Kammermeyer, Gisela, Sarah King, Patricia Goebel und Astrid Metz, 2022. Gestaltung wirksamer Weiterqualifizierung zur Sprachbildung und -förderung – Erkenntnisse aus BISS. In: Diemut Kucharz, Christine Beckerle und Katja Mackowiak, Hrsg. Wie Sprachförderung in Kindertageseinrichtungen gelingen kann: Erkenntnisse aus der BiSS-Initiative. Weinheim: Beltz Juventa, S. 19–45. ISBN 978-3-7799-6400-1
Kämpfe, Karin, Tanja Betz, und Diemut Kucharz, 2021. Wirkungen von Fortbildungen zur Sprachförderung für pädagogische Fach- und Lehrkräfte. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft. 24(4), S. 909–932. ISSN 1434-663X
Kany, Werner und Hermann Schöler, 2010. Fokus: Sprachdiagnostik: Leitfaden zur Sprachstandsbestimmung im Kindergarten. 2. Auflage. Berlin: Cornelsen Scriptor. ISBN 978-3-589-24520-8
Knapp, Werner, Diemut Kucharz und Barbara Gasteiger Klicpera, 2010. Sprache fördern im Kindergarten: Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis. Weinheim: Beltz. ISBN 978-3-407-25526-6 [Rezension bei socialnet]
Kucharz, Diemut, 2018. Alltagsintegrierte sprachliche Bildung und Förderung im Elementarbereich. In: Cora Titz, Sabrina Geyer, Anna Ropeter, Hanna Wagner, Susanne Weber und Marcus Hasselhorn, Hrsg. Konzepte zur Sprach- und Schriftsprachförderung entwickeln. S. 214–227, Stuttgart: Kohlhammer Verlag. ISBN 978-3-17-032093-2
Kucharz, Diemut, 2022. Zielgruppen und Formate in BiSS. In: Diemut Kucharz, Christine Beckerle und Katja Mackowiak, Hrsg. Wie Sprachförderung in Kindertageseinrichtungen gelingen kann: Erkenntnisse aus der BiSS-Initiative. Weinheim: Beltz Juventa, S. 46–63. ISBN 978-3-7799-6400-1
Kucharz, Diemut, Katja Mackowiak und Christine Beckerle, 2015. Sprachförderung im Alltag: Konzept zur Weiterqualifizierung in Kindergarten und Grundschule. Weinheim: Beltz Verlag. ISBN 978-3-407-29381-7
Löffler, Cordula und Franziska Vogt, Hrsg., 2015. Strategien der Sprachförderung im Kita-Alltag. München: Ernst Reinhardt Verlag. ISBN 978-3-497-02547-3
Schierbaum, Kristina und Sandra Rezagholinia, 2022. Informelle und formelle diagnostische Verfahren zur Sprachstandserfassung im Rahmen der BiSS-Initiative und ihr Nutzen in der Praxis. In: Diemut Kucharz, Christine Beckerle und Katja Mackowiak, Hrsg. Wie Sprachförderung in Kindertageseinrichtungen gelingen kann: Erkenntnisse aus der BiSS-Initiative. Weinheim: Beltz Juventa, S. 64–91. ISBN 978-3-7799-6400-1
Titz, Cora, Anna Ropeter und Marcus Hasselhorn, 2018a. Ausgangslagen erfassen und Veränderungen dokumentieren: Zum Mehrwert von Diagnostik. In: Titz, Cora, Sabrina Geyer, Anna Ropeter, Hanna Wagner, Susanne Weber und Marcus Hasselhorn, Hrsg. Konzepte zur Sprach- und Schriftsprachförderung entwickeln. S. 87–100, Stuttgart: Kohlhammer Verlag. ISBN 978-3-17-032093-2
Titz, Cora, Susanne Weber, Anna Ropeter, Sabrina Geyer und Marcus Hasselhorn, Hrsg., 2018b. Konzepte zur Sprach- und Schriftsprachförderung umsetzen und überprüfen. Stuttgart: Kohlhammer Verlag. ISBN 978-3-17-034476-1
Vygotsky, Lev, 1987. Ausgewählte Schriften Bd. 2. Arbeiten zur psychischen Entwicklung der Persönlichkeit. Köln: Pahl-Rugenstein Verlag. ISBN 978-3-7609-0974-5
5 Literaturhinweise
Beckerle, Christine, Diemut Kucharz und Katja Mackowiak, 2019. Sprachproben in der Praxis. Die Methode Schritt für Schritt. In: Kindergarten heute. 49(8), S. 10–12. ISSN 0344-3949
Beckerle, Christine, Diemut Kucharz und Katja Mackowiak, 2019. Alltagstauglich und leicht einsetzbar. Ein Interview zu Sprachproben. In: Kindergarten heute. 49(8), S. 14–15. ISSN 0344-3949
Kucharz, Diemut, Katja Mackowiak und Christine Beckerle, 2015. Sprachförderung im Alltag: Konzept zur Weiterqualifizierung in Kindergarten und Grundschule. Weinheim: Beltz Verlag. ISBN 978-3-407-29381-7
Verfasst von
Prof'in Dr. Diemut Kucharz
Goethe-Universität Frankfurt am Main
Professorin für Grundschulpädagogik mit dem Schwerpunkt Sachunterricht
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