Stationäre Erziehungshilfe
Prof. Dr. Jutta Harrer-Amersdorffer
veröffentlicht am 14.02.2025
Als Stationäre Erziehungshilfen werden gemäß SGB VIII unterschiedliche stationäre Betreuungsformen für Kinder und Jugendliche außerhalb der eigenen Familie bezeichnet. Dazu gehören die Vollzeitpflege in einer anderen Familie, Erziehungsstellen bzw. Heimerziehung oder Intensivpädagogische und therapeutische Wohngruppen.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Rechtliche Grundlagen
- 3 Hilfeformen der stationäre Erziehungshilfen
- 4 Fallzahlentwicklung und mögliche Anlässe für die Inanspruchnahme stationärer Erziehungshilfen
- 5 Zentrale Elemente der Ausgestaltung der Hilfeleistungen
- 6 Quellenangaben
1 Zusammenfassung
Stationäre Erziehungshilfen sind im Achten Sozialgesetzbuch (SGB VIII) rechtlich verankert. Sie fallen einerseits unter den Bereich der Hilfen zur Erziehung (§ 27 SGB VIII) andererseits können sie im Rahmen der Eingliederungshilfen gem. § 35a SGB VIII in Anspruch genommen werden. Wird die Hilfeleistung im Zuge der Hilfen zur Erziehung gem. § 27 SGB VIII veranlasst, sind die Eltern oder andere Personensorgeberechtigte anspruchsberechtigt. Die Hilfeleistung ist in diesem Kontext zur Unterstützung der Erziehung oder als Unterstützung zur Eingliederung angelegt. Die stationären Erziehungshilfen sind dazu in §§ 33, 34 und 35 SGB VIII rechtlich benannt.
Bereits durch diese Vielfalt der rechtlichen Grundlagen zeigt sich die Komplexität der Hilfeleistungen. Je nach Bedarf des jungen Menschen und dessen Familie können im Zuge der stationären Erziehungshilfen verschiedene Möglichkeiten mit den Familien erarbeitet und zur Unterstützung der Erziehung installiert werden. Das Spektrum reicht von einer Vollzeitpflege § 33 SGB VIII, welche alltagssprachlich häufig mit dem Terminus Pflegefamilie gleichgesetzt wird, über § 34 SGB VIII, der die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Heimerziehung und weitere betreute Wohnformen festlegt, bis hin zu Maßnahmen der Intensiven sozialpädagogischen Einzelbetreuung im Sinne von § 35 SGB VIII.
Während auf der Basis der Erziehungshilfen die Eltern oder andere Personensorgeberechtigte die Anspruchsberechtigten sind, hat der junge Mensch über die sogenannten Eingliederungshilfen gem. § 35a SGB VIII, bedarfsentsprechend einen eigenständigen Anspruch auf stationäre Erziehungshilfe.
In der Ausgestaltung der eigentlichen Hilfeleistung unterscheiden sich die Zugänge nicht zwangsläufig. Jedoch sind unterschiedliche Voraussetzungen in der Hilfegewährung zu beachten.
2 Rechtliche Grundlagen
Über den Bedarf einer stationären Erziehungshilfe entscheidet das Jugendamt in Kooperation mit den Familien. Der Entscheidung liegt i.d.R. eine sozialpädagogische Diagnostik zugrunde, welche gleichzeitig die Basis für das Hilfeplanverfahren gem. § 36 SGB VIII bildet.
Grundsätzlich hat die Familie, d.h. die Personensorgeberechtigten und der junge Mensch, bei diesen Hilfeleistungen ein Wunsch- und Wahlrecht gem. § 5 SGB VIII. Konkret bedeutet dies, dass die Familie aktiv bei der Wahl der Einrichtung mitbestimmen darf und auch Wünsche hinsichtlich einer möglichen Unterbringung äußern kann.
Gleichzeitig regelt § 36a SGB VIII, dass die Kosten nur durch den öffentlichen Träger übernommen werden, wenn die Hilfe dem Bedarf des jungen Menschen entspricht und die Hilfeleistung auf der Grundlage der Maßgaben des Hilfeplans erfolgt.
Als Anspruchsgrundlage kommt zunächst § 27 SGB VIII infrage. Dort heißt es, dass den Personensorgeberechtigten bei der Erziehung des Kindes oder Jugendlichen Unterstützung zusteht, wenn eine entsprechende Erziehung nicht gewährleistet werden kann. Im Zuge der stationären Erziehungshilfe ist dazu § 27 Abs. 2 SGB VIII zentral. In diesem Absatz wird herausgestellt, dass die Zusammenarbeit der Personensorgeberechtigten im Rahmen der §§ 36 und 37 SGB VIII vorausgesetzt wird.
Diese rechtlichen Rahmenbedingungen greifen auch, wenn die Hilfeleistung im Zuge der Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit seelischer Behinderung oder drohender seelischer Behinderung gem. § 35a SGB VIII gewährt wird. Hier richtet sich der Anspruch der Hilfeleistung nicht an die Personensorgeberechtigten, sondern unmittelbar an den jungen Menschen. Für die Gewährung der Eingliederungshilfe ist § 35a Abs. 1 SGB VIII von zentraler Bedeutung. Die seelische Beeinträchtigung muss gemäß der Rechtsgrundlage von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate anhalten. Darüber hinaus ist durch diese Abweichung die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben eingeschränkt. Nachzuweisen ist dies in der Regel anhand eines psychiatrischen Gutachtens, welches in den Entscheidungsprozess des Jugendamtes und der Familie miteinbezogen wird. Dies wird in den weiteren Ausführungen der Rechtsgrundlage deutlich.
Die gleichzeitige Gewährung von Erziehungshilfen und Eingliederungshilfen wird durch den Gesetzestext explizit nicht ausgeschlossen.
3 Hilfeformen der stationäre Erziehungshilfen
Gesetzlich unterschieden werden drei zentrale Zugänge in den stationären Erziehungshilfen. All die genannten Formen können auch im Zuge der Gewährung von Eingliederungshilfen gem. § 35a SGB VIII in Anspruch genommen werden. In besonderen Fällen kann darüber hinaus auch jungen Erwachsenen bis zur Vollendung des 27. Lebensjahrs eine Hilfeleistung gem. § 41 SGB VIII gewährt werden.
Ausgehend von den rechtlichen Grundlagen können die Hilfeleistungen grob in ihre konzeptionellen Ausrichtungen eingeteilt werden.
3.1 Vollzeitpflege gem. § 33 SGB VIII
Die vielgestaltigen Möglichkeiten der Vollzeitpflege gem. § 33 SGB VIII sind eher als familienorientiert zu verstehen, d.h. dass eine Unterbringung des jungen Menschen in einer Familie oder einem stark familienähnlichen Kontext angestrebt wird.
Diese Hilfeform stellt eine befristete oder auf Dauer angelegte Betreuungsform dar, welche dem Entwicklungsstand des Kindes entspricht. Im Vergleich zur Kindertagespflege werden die Kinder und Jugendlichen in der Vollzeitpflege über Tag und Nacht betreut. In der Regel ist es eine Betreuungs- und Hilfeform, welche in familienähnlichen Strukturen stattfindet. Alltagssprachlich wird unter der Vollzeitpflege die Betreuung des jungen Menschen in einer Pflegefamilie verstanden. In § 33 SGB VIII wird die Formulierung einer „anderen Familie“ verwendet. Dies bedeutet, dass der junge Mensch außerhalb seiner biologischen Kernfamilie aufwächst. Dies kann sowohl im Zuge einer verwandtschaftlichen Pflege geschehen (z.B. wenn ein junger Mensch im Zuge dieser Hilfeform bei den Großeltern oder anderen Angehörigen lebt) oder die Hilfeleistung wird durch eine eher institutionalisierte Pflegefamilie erbracht, welche ebenfalls vom Jugendamt, konkret dem Pflegekinderdienst betreut wird (Struck 2013).
3.2 Erziehungsstellen, Heimerziehung gem. § 34 SGB VIII
Eine Überschneidung in der Familienorientierung gibt es hinsichtlich der Hilfeform der Erziehungsstellen. Diese ist gesetzlich in § 34 SGB VIII verortet, da Erziehungsstellen ähnlichen Zulassungsansprüchen unterliegen wie die institutionelle Heimerziehung. Allgemein sind die Hilfen nach § 34 SGB VIII eher gruppenorientiert, d.h. die jungen Menschen leben in dieser Hilfeform in unterschiedlich großen Wohngruppen zusammen (Jordan, Maykus und Stuckstätte 2015). Die Gruppengröße und die Intensität der Betreuung sowie die personelle Ausstattung richtet sich am Bedarf der Kinder und Jugendlichen sowie deren Familien aus.
- Sozialpädagogischen Wohngruppen verfolgen eine eher offenere Form der Betreuung und Erziehung.
- Heilpädagogische Wohngruppen möchten durch spezifizierte Regelungen und Strukturen den individuellen Bedarfen der Kinder und Jugendlichen gerecht werden.
Die Hilfeleistung der stationären Erziehungshilfe nach § 34 SGB VIII ist deutlich stärker institutionalisiert und konzeptionell gerahmt als die Vollzeitpflege gem. § 33 SGB VIII. Bereits in der gesetzlichen Grundlage wird deutlich die pädagogische oder therapeutische Rahmung der Hilfeleistung festgeschrieben. Grundsätzlich werden in dieser Hilfeform drei Zielsetzungen unterschieden:
- Durch die Hilfeleistung sollen sich die Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie so weit verbessern, dass eine Rückführung in die Familie durchgeführt werden kann.
- Der junge Mensch und die Familie sollen auf die Erziehung in einer anderen Familie (z.B. Pflegefamilie) vorbereitet werden.
- Die Hilfe ist auf Dauer ausgelegt und dient der Verselbstständigung des jungen Menschen. Dazu zählen auch die berufliche Beratung sowie die Erziehung zur eigenständigen Lebensführung des jungen Menschen.
Heimerziehung ist in vielfältigen Variationen und konzeptionellen Zugängen denkbar. Je nach Bedarfslage des jungen Menschen gibt es sowohl hinsichtlich der Größe und Lage der Einrichtung als auch bezüglich der konzeptionellen Ausgestaltung eine breite Varianz. Im Gegensatz zur Tagesgruppe, welche eher als teilstationäres Angebot zu verstehen ist, werden in dieser Hilfeleistung die jungen Menschen Tag und Nacht betreut (Struck und Trenczek 2013).
Durch diese Vielfältigkeit kann von einer Differenzierung und Spezialisierung der stationären Erziehungshilfen gesprochen werden.
Dabei bezieht sich der Aspekt der Differenzierung auf die organisatorische Ausgestaltung der Leistungserbringer und die Schaffung neuer Angebote für die besonderen Bedarfe divergierender Anspruchsgruppen, exemplarisch beispielsweise im Zuge der Betreuung von unbegleiteten Minderjährigen mit Fluchterfahrung (Santen, Mairhofer und Pluto 2024).
Die Spezialisierung betrifft die Arbeitsweisen der Erziehungshilfen. So kommt es zu einer vermehrten Arbeitsteilung nach Kompetenzen der Fachkräfte und Handelnden im Arbeitsfeld. Durch die Spezialisierung wird eine höhere Problemlösekompetenz hinsichtlich der Bedarfe der jungen Menschen angestrebt (a.a.O.).
Differenzierung und Spezialisierung sind häufig stark miteinander verschränkt. Entsprechend der jeweiligen Bedarfe der jungen Menschen entstehen etwa neue Einrichtungsformen, wie beispielsweise geschlechtsspezifische Gruppen, welche gleichzeitig im Handeln spezialisiert sind. Dabei gilt es herauszustellen, dass diese Entwicklung nicht rein auf konzeptionelle Überlegungen zurückgehen muss, sondern sich auch aus den quantitativen Bedarfslagen (z.B. im Zuge von Fluchtbewegungen) ergeben kann (a.a.O).
Gerade das Feld der Heimerziehung und der sonstigen betreuten Wohnformen ist ein Sammelbegriff für eine Bandbreite an vielgestaltigen Hilfeformen, welche in der Betreuungsintensität der jungen Menschen ebenso variiert, wie in den (sozial-)pädagogischen Zielsetzungen.
3.3 Intensivpädagogische und therapeutische Wohngruppen gem. § 35 SGB VIII
Intensivpädagogische und therapeutische Wohngruppen sind konzeptionell mit einer Vielzahl von psychologisch-therapeutischen Angeboten verknüpft sowie mit einer besonders hohen Betreuungsdichte durch qualifiziertes Fachpersonal. Die Zunahme der Betreuungsintensität und die Angebotsdichte wirken sich konzeptionell auf den Personalschlüssel und die Gruppengröße aus. Je intensiver der Bedarf, desto enger die Betreuung und desto höher der Personalschlüssel. Mit den unterschiedlichen Konzepten verändert sich auch die Zusammensetzung der zumeist interdisziplinären Teams. Während in sozialpädagogischen Wohngruppen Pädagog:innen, Erzieher:innen und Sozialarbeiter:innen zusammenarbeiten, ist in therapeutischen und teils auch in intensivpädagogischen Wohngruppen zusätzlich eine therapeutische und enge psychologische Begleitung durch qualifizierte Fachkräfte erforderlich.
Die Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung (ISE) ist als eher einzelfallorientiert zu beschreiben. Die Hilfeform richtet sich an junge Menschen in besonders belasteten Lebenssituationen. Diese Form der Hilfe weist ein hohes Maß an Flexibilität auf und ist im Vergleich zu den Organisationen der Heimerziehung weniger tradiert (Jordan, Maykus und Stuckstätte 2015). Die Maßnahmen der ISE sind auf die soziale Integration und auf die eigenständige Lebensführung der jungen Menschen ausgerichtet. Meist stellt diese Hilfeform eine Alternative zur geschlossenen Unterbringung der jungen Menschen dar. Ein pragmatisches Abgrenzungsmittel zu anderen Hilfeformen ist die hohe Betreuungsintensität. Die Hilfeform wird meist als eine ergänzende Form der Heimerziehung eingesetzt, etwa im Rahmen der Vorbereitung für die Integration in eine andere Wohnform oder auch als Nachbetreuung, wenn die Unterbringung in einer (oder mehreren) Wohngruppen gescheitert ist.
4 Fallzahlentwicklung und mögliche Anlässe für die Inanspruchnahme stationärer Erziehungshilfen
Die Ausführungen dieses Abschnitts beschränken sich rein auf die Inanspruchnahme einer stationären Erziehungshilfe im Sinne der Hilfen zur Erziehung gem. § 27 SGB VIII i.V.m. mit den §§ 33 und 34 SGB VIII.
Im Jahr 2022 lebten rund 207.000 junge Menschen in den Hilfeformen der stationären Erziehungshilfe. Davon lebten etwa 121.000 junge Menschen in Wohnformen der Heimerziehung und 86.000 Personen in Pflegefamilien (Statistisches Bundesamt 2024). Nach einer Zunahme der Fallzahlen in den Jahren 2016, 2017 und 2018, lässt sich eine Stagnation der Fallzahlen etwa auf dem Niveau von 2015 beobachten.
In der empirischen Standortbestimmung der Heimerziehung zeigt Agathe Tabel (2020), dass ein Großteil der jungen Menschen, welche in einem Heim oder in einer sonstigen betreuten Wohnform leben, im Jugendalter ist. Die Autorin stellt zudem heraus, dass durch die Fluchtbewegungen der stationären Jugendhilfe seit 2015 eine besondere Bedeutung zukommt, da viele unbegleitete junge Menschen mit Fluchterfahrung in das Hilfesystem aufgenommen wurden, was auch zur Differenzierung und Spezialisierung des Hilfesystems geführt hat. Auch die Zunahme an Hilfeleistungen im Bereich der jungen Volljährigen lässt sich teils auf die Aufnahme der jungen Menschen mit Fluchterfahrung erklären.
Mit Blick auf die Fallentwicklung ist auch bemerkenswert, dass mit zunehmenden Alter Mädchen als Adressatinnen der stationären Jugendhilfe an Bedeutung gewinnen. Hier stellt sich für Tabel die Frage, inwieweit dies mit der unterschiedlichen geschlechtsspezifischen Wahrnehmung von Herausforderungen und Problemstellungen im Lebenslauf einhergeht.
Deutlich wird auch, dass die Familien meist in finanziell prekären Umständen leben (Tabel 2020). Ein Blick auf die wirtschaftliche Situation der Familien zeigt, dass sich diese häufig am Existenzminimum bewegen. 2022 lebten in 65 % der Fälle die jungen Menschen und deren Familien von Transferleistungen (Statistisches Bundesamt 2023).
Drei zentrale Gründe für die Inanspruchnahme stationärer Hilfen lassen sich herausstellen a.a.O.):
- Unversorgtheit des jungen Menschen Der häufigste Grund betrifft den Aspekt der Unversorgtheit des jungen Menschen. Hierzu zählt der Ausfall der Bezugsperson beispielsweise durch eine (psychische) Erkrankung oder auch durch eine unbegleitete Einreise aus dem Ausland (ebd.).
- Gefährdung des Kindeswohls Der zweithäufigste Grund der Inanspruchnahme einer stationären Erziehungshilfe war 2022 eine Gefährdung des Kindeswohls. Kindeswohl ist als Rechtsbegriff unbestimmt und bildet in der Kinder- und Jugendhilfe allgemein die Handlungslegitimation für Eingriffe in das Familiensystem. Die zentrale Aufgabe der Jugendhilfe ist es, die Familien in ihrer Erziehungstätigkeit zu unterstützen. Bereits in Art. 6 GG wird die Erziehung des eigenen Kindes beziehungsweise der eigenen Kinder als Pflicht und Recht der Eltern definiert, wobei die Rolle des Staates als Wächteramt definiert wird. In § 1 SGB VIII wird die Ausgestaltung der Erziehung präzisiert und auch die Rolle der Jugendhilfe als Unterstützung rechtlich gerahmt. Nur bei einer akuten Gefährdung und der Verweigerung bei der Mitarbeit der Eltern, kann in der Jugendhilfe gegen den Willen der Eltern gehandelt werden (Jordan, Maykus und Stuckstätte 2015). Zentrale Gründe für die Gefährdung des Kindeswohls waren 2022 Vernachlässigung, körperliche und psychische Misshandlung oder sexualisierte Gewalt (Statistisches Bundesamt 2023).
- Eingeschränkte Erziehungskompetenz der Eltern Der dritthäufigste Grund für die Inanspruchnahme einer stationären Erziehungshilfe war im Jahr 2022 die eingeschränkte Erziehungskompetenz der Eltern. Dies zeigt sich etwa an einer anhaltenden Überforderung der Eltern oder an einer starken Unsicherheit hinsichtlich des Erziehungsverhaltens (Statistisches Bundesamt 2023).
5 Zentrale Elemente der Ausgestaltung der Hilfeleistungen
5.1 Hilfeplanung und Partizipation
Rechtlich zentral für die Ausgestaltung der stationären Erziehungshilfen ist zunächst die Mitwirkung im Hilfeplan gem. § 36 SGB VIII. Jede Form der stationären Erziehungshilfe muss als schwerer Eingriff in die Lebensumstände und die Biografie des jungen Menschen und dessen Familie verstanden werden. Unabhängig von der familiären Situation ist das Leben außerhalb der Kernfamilie eine gravierende Veränderung für den jungen Menschen und dessen Herkunftsfamilie. Eine möglichst transparente Informationsvermittlung wird den Beteiligten durch § 36 SGB VIII zugesichert sowie die Mitwirkung am Hilfeprozess eingefordert. Dies gilt sowohl für den Entscheidungsprozess vor und zu Beginn der Hilfeleistung als auch im Verlauf der Unterbringung.
Zentrale Inhalte im Hilfeplanverfahren sind die Bedarfsfeststellung des jungen Menschen auf der Grundlage einer Sozialpädagogischen Diagnostik, die Art, Dauer und der Umfang der Hilfeleistung sowie mögliche Zielsetzungen für den Hilfeverlauf. Die Sozialpädagogische Diagnostik stützt sich stark auf die Zusammenarbeit zwischen jungen Menschen, den Familie beziehungsweise Personensorgeberechtigten sowie (idealtypisch) mehreren Fachkräften.
Je nach grundsätzlicher Ausrichtung und geplanter Dauer der Hilfeleistung findet in einem sechsmonatigen oder jährlichen Turnus ein Hilfeplanüberprüfungsgespräch statt. Besonders relevant ist in diesem Zusammenhang das Recht der jungen Menschen auf Beteiligung gem. § 8 SGB VIII. Der Hilfeplan sowie das Hilfeplanüberprüfungsgespräch können als zentrale Bestandteile des Hilfeverlaufs verstanden werden und betreffen unmittelbar die Lebensrealität der jungen Menschen. Die Fachkräfte sind auf der Grundlage von § 8 SGB VIII dazu angehalten, die Kinder und Jugendlichen aktiv in diesen Prozess miteinzubeziehen und entwicklungsentsprechend die Themenstellungen, welche den jungen Menschen betreffen, zu erarbeiten und verständlich zu machen. Die Person soll sich möglichst selbstbestimmt im Rahmen der eigenen Möglichkeiten zum eigenen Hilfeverlauf und Bedarf äußern können.
Die Frage, ob und inwieweit eine aktive und selbstbestimmte Beteiligung der jungen Menschen im Rahmen der Hilfeplangespräche gelingen kann, bietet Anlass für sozialarbeiterische Forschung und erfordert von den beteiligten Fachkräften ein hohes Maß an methodischem Können. Dies ist vor allem deshalb so relevant, da die Vereinbarungen über Ziele und die Überprüfung des Hilfeverlaufs maßgeblich die Bewilligung und den Verlauf der Hilfeleistung rahmen.
5.2 Elternarbeit und Zusammenarbeit mit der Herkunftsfamilie
Ein weiteres rechtlich rahmendes Element der stationären Erziehungshilfen ist § 37 SGB VIII. Hier wird die Beratung und Unterstützung der Eltern expliziert. Diese Rechtsgrundlage verdeutlicht, dass sich die Hilfeleistung außerhalb der Familie nicht nur an den jungen Menschen richtet, sondern auch die Herkunftsfamilie aktiv in den Prozess miteinbezogen werden soll. Die Eltern haben Anspruch auf die Beratung und Unterstützung mit der Zielsetzung der Rückführung des jungen Menschen in die Familie. Weiterhin soll durch die Zusammenarbeit die Beziehung des Kindes zur Herkunftsfamilie erhalten bleiben. Als Richtwert gilt stets das Wohl des Kindes.
Die Elternarbeit ist teils als spannungsreich zu beschreiben, da die Gründe für die Inanspruchnahme sehr vielfältig sein können und auch teils familiengerichtlich angeordnet wurden. Auch hier ist ein hohes methodisches Können der Fachkräfte gefragt sowie ein Bewusstsein für die Lebenssituationen der Familien. Elternarbeit in den stationären Hilfeformen erfordert eine hohe Sensibilität gegenüber den Bedürfnissen des jungen Menschen und eine gemeinsame Erarbeitung zum Erkennen dieser Perspektive gemeinsam mit den Eltern. Auch stehen die Begleitung und Vermittlung im Hilfeprozess im Zentrum der gemeinsamen Arbeit (Wiesner 2022).
5.3 Methodisches Handeln in den stationären Erziehungshilfen
Pauschal kann keine vereinheitlichende Antwort über die methodische Ausgestaltung der stationären Erziehungshilfen gegeben werden. Dies erklärt sich mit der Differenzierung und Spezialisierung innerhalb der Hilfeform und der damit einhergehenden Bandbreite an konzeptionellen Ausrichtungen. Darüber hinaus lassen sich die stationären Erziehungshilfen als Teil der Kinder- und Jugendhilfe als „komplexe Tätigkeit“ (Hansbauer, Merchel und Schone 2020) beschreiben. Die wenigsten Bereiche des Handelns in diesem Kontext können als trivial bezeichnet werden, da sich der Schwerpunkt der Tätigkeit auf die Alltagsgestaltung mit den jungen Menschen bezieht. So sind die Tätigkeiten nicht nur als komplex, im Sinne von vielschichtig und umfassend, zu beschreiben, sondern auch als kompliziert. Hieraus lässt sich ableiten, dass sich im Rahmen der methodischen Ausgestaltung keine einfachen Kausalitäten ableiten oder klare Schemata das Handeln durchgehend als Routinen formulieren lassen. Trotz dieser Einschränkung können bestimmte Vorhersagen für Verhaltensentwicklungen getroffen werden. Davon ausgehend beschreiben Peter Hansbauer, Joachim Merchel und Reinhold Schone den Dreiklang aus Diagnose, Inferenz und Behandlung als Kern des professionellen Handelns in komplexen Situationen:
- Als Diagnose rahmen die Autoren das Sammeln, Einholen und Klassifizieren von Informationen hinsichtlich der Lebenssituation des jungen Menschen. Diese Informationen speisen sich aus dem Wissen der Fachkräfte und Kolleg:innen sowie der jungen Menschen und deren Familie. Die Diagnose ist in diesem Sinne als partizipativ zu verstehen.
- Als Inferenz bezeichnen die Autoren die Schlussfolgerungen, welche aus der Diagnose, also den gesammelten Informationen, gezogen werden. Dazu zählt der Einbezug des Arbeitsfeldes und spezifischer Umweltbedingungen, welche die Situation und damit auch die Fallkonstruktion besonders beeinflussen. Die Inferenz dient der Verbindung der Diagnose und der Behandlung beziehungsweise der Hilfeleistung, wie die Autoren beschreiben. Als Inferenz können also die professionellen Schlussfolgerungen und Handlungsplanungen auf Grundlage der Informationen der Diagnose und der Wissensbestände der Fachkräfte sowie der Organisation beziehungsweise der Umwelt verstanden werden.
- Aus dieser Begründung ergibt sich schließlich die Hilfe. Der Dreischritt kann als zirkulärer Prozess beschrieben werden, welcher ergänzt wird durch eine regelmäßige Auswertung und Evaluation (Hansbauer, Merchel und Schone 2020).
Dies verdeutlicht, dass die Hilfeleistung sich sowohl an den organisationalen Rahmen sowie den Umweltbedingungen orientiert als auch den Wissensbeständen und Informationen der jeweils handelnden Fachkraft sowie dem jungen Menschen, und dass sie seiner Lebenssituation gerecht werden soll.
5.4 Rückführung in die Herkunftsfamilie als ein zentrales Handlungsziel
Die Rückführung in die Herkunftsfamilie kann sowohl als ein konzeptionelles als auch methodisches Kernelement aller stationären Erziehungshilfen verstanden werden. Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass in der Regel die Rückführung in die Herkunftsfamilie eine der grundlegenden Zielsetzungen ist. Bereits im Zuge der Vorbereitung einer Fremdunterbringung gilt es eine mögliche Rückführung in den Blick zu nehmen. Dies ist gerade deshalb herauszustellen, da die Beteiligung der Eltern im Hilfeplanprozess nicht als rein formal abzuarbeiten ist, sondern durch eine mögliche geplante Rückführung in die Herkunftsfamilie ein fundamentales Element der Hilfeausgestaltung darstellt. Um diesen Prozess besser zu rahmen, ist eine aktive Zusammenarbeit mit den Eltern und eine umfassende Klärung der Zielsetzungen für den Hilfeprozess unabdingbar (Langenohl 2022).
6 Quellenangaben
Hansbauer, Peter, Joachim Merchel und Reinhold Schone, 2020. Kinder- und Jugendhilfe: Grundlagen, Handlungsfelder, professionelle Anforderungen. 2. Auflage. Stuttgart: Kohlhammer. ISBN 978-3-17-045034-9
Langenohl, Sabrina, 2022. Rückführung von Kindern aus Heimen und Pflegefamilien – Konzepte und Strategien. In: Josef Faltermeier; Nicole Knuth und Remi Stork, Hrsg. Handbuch Eltern in den Hilfen zur Erziehung. ​Weinheim: Beltz Juventa, S. 277–295. ISBN 978-3-7799-6760-6 [Rezension bei socialnet]
Maykus, Stephan, Heinz Müller und Eva Christina Stuckstätte, 2015. Kinder- und Jugendhilfe: Einführung in Geschichte und Handlungsfelder, Organisationsformen und gesellschaftliche Problemlagen. 5. Auflage. Weinheim: Beltz Juventa. ISBN 978-3-7799-7642-4
Santen, Eric van, Andreas Mairhofer und Liane Pluto, 2024. Differenzierung und Spezialisierung von Einrichtungen stationärer Hilfen zur Erziehung. In: Manuel Theile und Klaus Wolf, Hrsg. Sozialpädagogische Blicke auf Heimerziehung: Theoretische Positionierungen, empirische Einblicke und Perspektiven. Weinheim: Beltz Juventa, S. 170–183. ISBN 978-3-7799-7319-5 [Rezension bei socialnet]
Statistisches Bundesamt, 2023. Über 207 000 junge Menschen wuchsen 2022 in einem Heim oder einer Pflegefamilie auf [online]. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt [Zugriff am: 20.10.2024]. Verfügbar unter: https://www.destatis.de/DE/Presse/​Pressemitteilungen/2023/12/PD23_493_225.html
Struck, Norbert, 2013. § 33 Vollzeitpflege. In: Johannes Münder, Thomas Meysen und Thomas Trenczek, Hrsg. Frankfurter Kommentar zum SGB VIII Kinder- und Jugendhilfe. 7. Auflage. Baden-Baden: Nomos, S. 362–366. ISBN 978-3-8329-7561-6 [Rezension bei socialnet]
Struck, Norbert und Thomas Trenzcek, 2013. § 34 Heimerziehung, sonstige betreute Wohnformen. In: Johannes Münder, Thomas Meysen und Thomas Trenczek, Hrsg. Frankfurter Kommentar zum SGB VIII Kinder- und Jugendhilfe. 7. Auflage. Baden-Baden: Nomos, S. 366–370. ISBN 978-3-8329-7561-6 [Rezension bei socialnet]
Tabel, Agathe, 2020. Empirische Standortbestimmung der Heimerziehung [online]. Fachwissenschaftliche Analyse von Daten der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik. Frankfurt a.M.: Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen [Zugriff am: 01.02.2025]. Verfügbar unter: https://igfh.de/publikationen/​broschueren-expertisen/​empirische-standortbestimmung-heimerziehung
Wiesner, Reinhard, 2022. Die Position von Eltern im Kontext der Hilfen zur Erziehung – zwischen Anspruch und Wirklichkeit. In: Josef Faltermeier, Nicole Knuth und Remi Stork, Hrsg. Handbuch Eltern in den Hilfen zur Erziehung. Weinheim: Beltz Juventa, S. 142–158. ISBN 978-3-7799-6760-6 [Rezension bei socialnet]
Verfasst von
Prof. Dr. Jutta Harrer-Amersdorffer
Professorin für Theorie und Handlungslehre der Sozialen Arbeit, Technische Hochschule Nürnberg
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