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Suizidprävention

Prof. Dr. phil. Norbert Erlemeier, Prof. Dr. med. Hans Wedler

veröffentlicht am 05.10.2017

Synonyme: Suizidprophylaxe; Selbstmordverhütung

Die Suizidprävention umfasst alle Vorkehrungen, Maßnahmen, Hilfen und Einrichtungen zur Verhütung von Suizidgefährdung, aber auch Hilfen in akuten suizidalen Krisen sowie die Versorgung und Behandlung nach einem Suizidversuch einschließlich der Nachbetreuung zur Verringerung der Wiederholungsgefahr.

Überblick

  1. 1 Begriff
  2. 2 Formen
  3. 3 Ethische Grundlagen der Suizidprävention
  4. 4 Quellenangaben
  5. 5 Literaturhinweise
  6. 6 Informationen im Internet

1 Begriff

Die Suizidprävention zielt nicht nur auf die Unterstützung von suizidalen Personen, sondern umfasst auch Hilfen für Hinterbliebene von Suiziden. Der Oberbegriff Suizidprävention schließt den Begriff Krisenintervention mit ein.

Davon zu unterscheiden ist die Psychotherapie, die sich an Krisenintervention anschließen kann und in der tiefer gehend und längerfristig psychische Probleme bearbeitet werden.

Als suizidgefährdet haben Menschen zu gelten, die wiederholt Suizidgedanken hegen, sich mit Suizidabsichten tragen, die suizidale Handlungen ausführen oder die vor kurzer Zeit einen Suizidversuch überlebt haben. Die Suizidgefahr verstärkt sich nach dem Kontinuitätsmodell von Wolfersdorf mit zunehmendem Handlungsdruck (Wolfersdorf 2008).

2 Formen

Es ist weit verbreitet, in Forschung und Praxis zwischen drei gestuften Formen der Suizidprävention zu unterscheiden. Einigkeit besteht darin, dass alle ineinandergreifen und sich ergänzen müssen.

  1. Primärprävention zielt darauf ab, suizidalen Gefährdungen, Entwicklungen und Krisen vorzubeugen, d.h. Gefahrenmomente und Risiken möglichst früh zu erkennen und durch Schaffung antisuizidaler Einstellungen und Lebensbedingungen in der Gesellschaft möglichst zu verhindern. Dazu gehören besonders sozial- und gesundheitspolitische Maßnahmen und Vorsorgeeinrichtungen wie Kontaktangebote und Beratungsstellen. Primärprävention heißt vor allem Vorbeugung und Behandlung psychischer Erkrankungen mit ihrem Risikopotenzial für suizidale Entwicklungen (siehe Suizid, Abschnitt „Risiko- und Schutzfaktoren“).
  2. Sekundärprävention ist darauf gerichtet, Menschen, die bereits in eine suizidale Krise geraten, d.h. akut suizidgefährdet sind, mit Mitteln der Krisenintervention und Therapie zu helfen. Sie bedeutet erstens, möglichst Aufschub von Suizidhandlungen zu erwirken, und zweitens, solche durch Aufzeigen von Lebensalternativen nicht zur Ausführung kommen zu lassen. Bei akut gefährdeten Patienten ist auch eine beschützende Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung nicht auszuschließen.
  3. Tertiärprävention umfasst die medizinische Akutversorgung und Behandlung, die unmittelbare Krisenintervention nach einem Suizidversuch sowie unter Umständen auch eine längerfristige Nachbetreuung oder Therapie. Sie dient vor allem dazu, einer erneuten Suizidhandlung vorzubeugen und neue Lebensperspektiven aufzuzeigen. Einzubeziehen ist auch die Betreuung und Unterstützung von Angehörigen, die die Suizidhandlung eines Nahestehenden zu verarbeiten haben.

Suizidprävention ist ein weltweites Anliegen. 1960 wurde die „Internationale Assoziation für Suizidprävention – International Association for Suicide Prevention (IASP)“ gegründet, die Kongresse und Tagungen durchführt, Konzepte und Richtlinien zur Suizidprävention vorlegt und den weltweiten wissenschaftlichen Austausch pflegt. In Deutschland arbeitet die „Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention (DGS)“ mit den gleichen Intentionen.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bemüht sich seit Jahren, die Suizidprävention weltweit zu fördern und bei der Einrichtung nationaler Suizidpräventionsprogramme behilflich zu sein. 2012 gab sie z.B. ein Rahmenkonzept (Framework) heraus mit dem Titel „Public Health Action for the Prevention of Suicide“ (WHO 2012). Darin wird nach folgenden Kriterien unterschieden:

  1. Universale Intervention, gerichtet auf die Gesamtbevölkerung
  2. Selektive Intervention, die Risikogruppen fokussiert
  3. Indizierte Intervention. Letztere bezieht sich auf bereits suizidal auffällige Personen, bei denen Therapie angezeigt ist.

2014 erschien die Schrift „Preventing Suicide – A Gobal Imperative“ (WHO 2014). In Deutschland existiert seit 2002 das „Nationale Suizidpräventionsprogramm (NaSPro)“ mit zahlreichen Aktivitäten und Arbeitsgruppen, an denen sich Ministerien, Verbände und Organisationen beteiligen.

Übereinstimmend werden von der WHO und anderen Präventionsprogrammen die folgenden Maßnahmen von politisch Verantwortlichen gefordert:

  • Reduzierung des Zugangs zu Suizidmethoden
  • verantwortliche Berichterstattung in Medien
  • Reduzierung von Alkohol- und Substanzkonsum
  • frühzeitige Kenntnis, Betreuung und Behandlung von Risikogruppen
  • Training von Tätigen in Gesundheitsberufen im Aufdecken von und Umgang mit Suizidalität
  • Nachsorge für Menschen mit Suizidversuchen und Organisation kommunaler Hilfen

Die deutsche Bundesregierung hat sich – einem Bundestagsbeschluss folgend – zur staatlichen Förderung der Suizidprävention bekannt und dafür seit 2017 erhebliche finanzielle Mittel bereitgestellt.

3 Ethische Grundlagen der Suizidprävention

Auf die Frage nach der ethischen Berechtigung der Suizidprävention gibt es nach Wedler drei alternative Antworten (Wedler 2008):

  • Suizidprävention ist in aller Regel geboten und damit eine allgemeine Verpflichtung.
  • Suizidprävention ist erlaubt. Sie ist damit dem jeweiligen persönlichen Engagement anheimgestellt.
  • Suizidprävention ist – zumindest in bestimmten Fällen – als unangebracht zu betrachten. Sie ist eine Anmaßung gegenüber der autonomen Entscheidung des Individuums und damit vom ethischen Standpunkt aus sogar verboten.

Suizidprävention steht im Spannungsfeld zweier ethischer Prinzipien, die zu den Grundrechten in einer freiheitlichen Gesellschaft gehören:

  • das Recht auf Lebensschutz und
  • das Recht der Selbstbestimmung.

Im Falle einer Entscheidung zum Suizid geraten diese Grundprinzipien, die auch in unserer Verfassung als Grundrechte verankert sind, in Konflikt. Beide Grundrechte kommen unter bestimmten Bedingungen an ihre Grenzen, z.B. wenn die Fähigkeit zur Selbstbestimmung nicht mehr vorhanden ist und, im Falle des Lebensschutzes, dieser z.B. bei einer künstlichen Lebensverlängerung nicht mehr gewünscht wird.

In Abwägung dieser zwei Grundprinzipien gibt es nach Wedler keine einheitliche ethische Position, sondern ein ganzes Spektrum divergierender Meinungen (Wedler 2008). Neben fundamentalistisch anmutenden Extrempositionen, die uneingeschränkt entweder die Lebensbewahrung oder die Autonomie des Menschen zum obersten Prinzip erklären, überwiegt vor allem für religiös orientierte Kreise das Prinzip der Lebenserhaltung, während die meisten philosophischen Stimmen dazu tendieren, der Selbstbestimmung einen höheren Rang zuzusprechen. Die ethische Grundlage der Suizidprävention scheint demnach – ähnlich wie die der Wertung des Suizids – persönlichen Überzeugungen zu unterliegen.

Zusammengefasst ist Suizidprävention aus ethischer Perspektive weder eine Anmaßung noch eine um jeden Preis geltende Verpflichtung, sondern sie ist ein Angebot, das bei der in der Suizidalität stets vorhandenen Ambivalenz der Akzeptanz einer individuell geprägten Persönlichkeit bedarf. Bei Einschränkung oder Aufhebung der (stets individuell zu prüfenden) Selbstbestimmungsfähigkeit eines Menschen ist präventives Eingreifen als Notfallhilfe zur Verhinderung eines Suizids oder Suizidversuchs geboten (Wedler 2008, S. 319).
Auch vor jeder beabsichtigten Beihilfe zum Suizid – beispielsweise bei schwer leidenden Menschen nahe dem Lebensende – ist stets zu prüfen, ob eine fachlich fundierte Suizidprävention einen alternativen Weg aufzeigen kann. Suizidprävention ist nach allen Erkenntnissen möglich und als allgemeine humane Verpflichtung – wenn immer möglich – notwendig. Das Recht eines Menschen, sein Leben freiverantwortlich beenden zu können, kann ihm dadurch nicht genommen werden. Eingeschränkt sein kann dieses Recht dann, wenn das Recht anderer Personen auf Leben und Gesundheit durch einen Suizid gefährdet wird.

4 Quellenangaben

Wedler, Hans, 2008. Ethische Aspekte der Suizidprävention. In: Manfred Wolfersdorf, Thomas Bronisch und Hans Wedler, Hrsg. Suizidalität: Verstehen – Vorbeugen – Behandeln. Regensburg: Roderer, S. 311–337. ISBN 978-3-89783-631-0

World Health Organization (WHO), Hrsg., 2012. Public Health Action for the Preventing of Suicide [online]. A Framework. Genf: World Health Organization [Zugriff am: 07.03.2017]. PDF e-Book. ISBN 978-92-4-150357-0. Verfügbar unter: http://www.who.int/mental_health/​publications/​prevention_suicide_2012/en/

World Health Organization (WHO), Hrsg., 2014. Preventing Suicide [online]. A Global Imperative. Genf: World Health Organization [Zugriff am: 07.03.2017]. PDF e-Book. ISBN 978-92-4-156477-9. Verfügbar unter: http://www.who.int/mental_health/​suicide-prevention/​world_report_2014/en/

Wolfersdorf, Manfred, 2008. Suizidalität: Begriffsbestimmungen, Formen und Diagnostik. In: Manfred Wolfersdorf, Thomas Bronisch und Hans Wedler, Hrsg. Suizidalität: Verstehen – Vorbeugen – Behandeln. Regensburg: Roderer, S. 11–43. ISBN 978-3-89783-631-0

5 Literaturhinweise

Erlemeier, Norbert, 2011. Suizidalität und Suizidprävention im höheren Lebensalter. Stuttgart: Kohlhammer. ISBN 978-3-17-021465-1 [Rezension bei socialnet]

Lindner, Reinhard, Daniela Hery, Sylvia Schaller, Barbara Schneider und Uwe Sperling, Hrsg., 2014. Suizidgefährdung und Suizidprävention bei älteren Menschen. Eine Publikation der Arbeitsgruppe „Alte Menschen“ im Nationalen Suizidpräventionsprogramm für Deutschland. Berlin, Heidelberg, New York, Hongkong, London, Mailand, Paris, Tokio, Wien: Springer. ISBN 978-3-662-44011-7 [Rezension bei socialnet]

Schneider, Barbara, Uwe Sperling und Hans Wedler, 2011. Suizidprävention im Alter. Folien und Erläuterungen für Aus-, Fort- und Weiterbildung. Frankfurt: Mabuse-Verlag, ISBN 978-3-86321-003-8

Wedler, Hans, 2017. Suizid kontrovers – Wahrnehmungen in Medizin und Gesellschaft. Stuttgart: Kohlhammer. ISBN 978-3-17-031046-9 [Rezension bei socialnet]

Wurst, Friedrich Martin, Rüdiger Vogel und Manfred Wolfersdorf, Hrsg., 2007. Theorie und Praxis der Suizidprävention. Regensburg: Roderer. ISBN 978-3-89783-586-3 [Rezension bei socialnet]

6 Informationen im Internet

Verfasst von
Prof. Dr. phil. Norbert Erlemeier
Ehem. Mitglied und Sprecher der AG Alte Menschen im Nationalen Suizidpräventionsprogramm für Deutschland
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Prof. Dr. med. Hans Wedler
Ehem. Ärztlicher Direktor Medizinische Klinik 2 - Klinik für Internistische Psychosomatik
Bürgerhospital Stuttgart
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Es gibt 3 Lexikonartikel von Norbert Erlemeier.
Es gibt 4 Lexikonartikel von Hans Wedler.

Zitiervorschlag
Erlemeier, Norbert und Hans Wedler, 2017. Suizidprävention [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 05.10.2017 [Zugriff am: 19.02.2025]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/27580

Link zur jeweils aktuellsten Version: https://www.socialnet.de/lexikon/Suizidpraevention

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