Surplus-Reality
Das Konzept der Surplus-Reality bezeichnet das Realitätsverständnis psychodramatischer Inszenierungen im Raum der Bühne. Die Szenen gehen von der Alltagsrealität aus, die erweitert (Surplus) wird, indem sowohl alle relevanten interagierenden Personen als auch beeinflussende Faktoren wie z.B. Gefühle und Motive oder auch organisatorische Rahmenbedingungen in ihrer ganzen Komplexität auf der Bühne sichtbar werden.
Das Konzept der Surplus-Reality ist im Psychodrama einer der wesentlichen Wirkfaktoren im Interesse einer Heilung individueller oder kollektiver Konfliktlagen. Jacob Levy Moreno (1889–1974) hat dieses Konzept zwar nur ungenau ausgearbeitet. In einer historisch-kritischen Perspektive und mit Blick auf die psychodramatische Praxis werden dennoch der Sinn und das Potenzial des Konzepts besonders deutlich. Moreno entwickelte dieses Konzept in Abgrenzung zu anderen therapeutischen Verfahren seiner Zeit, denen er vorwarf, sich auf die verbale Ebene zu beschränken und dadurch wesentliche Dimensionen der Wirklichkeit (innere Repräsentationen, Projektionen, Übertragungen, Bewertungen, Wünsche und Hoffnungen) auszublenden. Auf der psychodramatischen Bühne können diese Dimensionen erlebbar werden.
„Im Psychodrama werden nicht nur vergangene, gegenwärtige und zukünftige real erfahr- und vorstellbare Episoden gespielt und erlebt. Dies wäre ein Missverständnis. Im Psychodrama können auch Erfahrungen gemacht werden, die über die Wirklichkeit hinaus ein neues und umfassenderes Wirklichkeitserleben ermöglichen. Bei der Prägung des Terminus ‚Wirklichkeits-Mehrwert‘ (Surplus-reality) ließ ich mich durch die Vorstellung von Karl Marx über den ‚Mehrwert‘ beeinflussen. […] Der Wirklichkeits-Mehrwert bedeutet […] eine Bereicherung der Realität durch eine Intensivierung und lebendige Anwendung der Imagination. Eine derartige Erweiterung der Erlebnisfähigkeit wird im Psychodrama durch besondere Methoden ermöglicht: die Hilfs-Iche, Doppelmethode, den leeren Stuhl, Rollenwechsel, Spiegelmethode, Zauberladen, den hohen Stuhl, das psychodramatische Baby, Selbstgespräche, Lebensprobe und andere Methoden. Zwar sind diese Methoden oft beschreiben worden, doch dürfte es wertvoll sein auch im Zusammenhang mit dem Wirklichkeits-Mehrwert auf ihre Bedeutung hinzuweisen […] Das Hilfs-Ich wird gewöhnlich als eine Person definiert, die einen Abwesenden darstellt; im Sinne des Wirklichkeits-Mehrwerts kann sie sich über Einschränkungen durch Geschlecht, Alter und Tod hinwegsetzen. Im Psychodrama kann ein Mann eine Frau spielen und umgekehrt. Es gibt kein Geschlecht im Psychodrama. Ein alter Mann kann ein Kind darstellen, ein Kind einen Greis. Es gibt kein Alter im Psychodrama. Ein Toter kann ins Leben zurückgerufen werden. Es gibt keinen Tod im Psychodrama.“ (Hutter und Schwehm 2009, S. 135)
Mit anderen Worten: Auf der psychodramatischen Bühne werden mehrere Ebenen von Realität sichtbar: „die Alltags- oder Gruppenrealität, die Inszenierung des Möglichen und die Darstellung der Surrealität“ (Hutter 2000, S. 197; Hutter übernimmt hier eine Begrifflichkeit von Sader [1991]). Die Alltags- oder Gruppenrealität wird zwar aufgenommen, aber nicht originalgetreu nachgebildet, sondern erweitert durch die Darstellung von Stimmungen, Motiven und Emotionen und relevanten Personen für ein umfassenderes und komplexes Verständnis der sonst nur erzählten Situation. Sader nennt dies Semi-Realität, so Hutter (Hutter 2000, S. 198). All dies ist unter Surplus-Reality im Sinne von Mehrwert an Wirklichkeit zu verstehen. Moreno nachfolgende Generationen sehen auch die Möglichkeit einer Surrealität, in der neben Träumen oder Wünschen auch Fantasierollen dargestellt werden können (Sader 1991, S. 50 nach Ameln und Kramer 2014, S. 179). In diesem Sinne können auf der Bühne auch verstorbene Menschen dargestellt, zeitliche Differenzen oder geschlechtliche Unterschiede übersprungen werden, weil es immer um die Inszenierung des Möglichen geht.
Der Modus der Surplus-Reality wird augenfällig sichtbar in den psychodramatischen Arrangements (Protagonistenspiel, Soziodrama, soziometrische Messungen) und Techniken (Hilfs-Iche, Rollentausch, Doppeln, Spiegeln etc.).
Mit Hutter ist darauf hinzuweisen, dass der „Wechsel zwischen den Realitätsebenen besonders deutlich gemacht werden [muss], damit es von der Gruppe und vom Protagonisten optimal genutzt werden kann“, zumal „die bewusste Erzeugung erweiterter Realitätsspielräume zum Kern der psychodramatischen Praxis gehört“ (Hutter 2000, S. 197). Diese in der Surplus-Reality der Bühne gemachten Erfahrungen brauchen folglich auch die rationale Auswertung durch Sharing, Rollenfeedback, Rollenidentifikationsfeedback und ein szenisches Verstehen der Szenen (Lorenzer 1970), um dauerhaft heilend im Gedächtnis verankert zu werden.
Auch andere Verfahren arbeiten mit einer Surplus-Reality wie z.B. das Planspiel, das Unternehmenstheater oder das Outdoor Training (Ameln 2013).
Quellenangaben
Ameln, Falco, 2013. Surplus Reality – der vergessene Kern des Psychodramas. In: Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie. 12(1), S. 5–19. ISSN 1619-5507
Ameln, Falko und Josef Kramer, 2014. Psychodrama: Grundlagen. 3., vollst. überarb. Auflage. Berlin: Springer. ISBN 978-3-642-44920-8
Hutter, Christoph, 2000. Psychodrama als experimentelle Theologie. Münster: Lit. ISBN 978-3-8258-4666-4 [Rezension bei socialnet]
Hutter, Christoph und Helmut Schwehm, 2009. J. L. Morenos Werk in Schlüsselbegriffen. Wiesbaden: VS-Verlag. ISBN 978-3-5311-9593-3
Lorenzer, Alfred, 1970. Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Frankfurt/M: Suhrkamp Verlag
Sader, Manfred, 1991. Realität, Semi-Realität und Surrealität im Psychodrama. In: Manfred Vorweg und Traudl Alberg, Hrsg. Psychodrama. Leipzig: Johann Ambrosius Barth Verlag, S. 44–63. ISBN 978-3-335-00271-0
Literaturhinweise
Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie, 2013, 12(1). Surplus-Reality. Heidelberg. Springer Verlag
Verfasst von
Thomas Wittinger
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Zitiervorschlag
Wittinger, Thomas,
2024.
Surplus-Reality [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 01.10.2024 [Zugriff am: 13.10.2024].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/29904
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