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System

Prof. Dr. habil. Björn Kraus

veröffentlicht am 01.02.2024

Etymologie: spätlat. systēma; gr. sýstēma (σύστημα) aus Einzelteilen zusammengefügtes Ganzes/Gebilde

Englisch: system

Allgemein kann ein System bestimmt werden als ein „Gebilde“ aus mehreren Teilen, deren interne Relationen die Unterscheidung von einer Umwelt ermöglichen. Je nach theoretischem Fundament gilt als Grundlage dieser Unterscheidung entweder die substanzielle Existenz von Systemen oder deren kognitive Konstruktion. Als entscheidend für die Systemgrenze gelten dabei entweder die Eigenschaften des Systems oder die Kriterien, mittels derer aus einer Beobachterperspektive diese Grenzen festgelegt werden.

Überblick

  1. 1 Zusammenfassung
  2. 2 Definitionen von System
  3. 3 Relationierung
  4. 4 Quellenangaben

1 Zusammenfassung

Die Auseinandersetzung mit Systemen, insbesondere mit sozialen Systemen, ist für sozial- und humanwissenschaftliche Diskurse von besonderer Relevanz. Sowohl mit Blick auf die Frage wie sich Systeme theoretisch bestimmen und empirisch untersuchen lassen, als auch mit Blick auf die Frage nach möglichen Funktionsweisen und -bedingungen von Systemen. Die erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Grundlagen sind dabei keineswegs einheitlich. Mit Blick auf die Entwicklung der Systemtheorie beschreibt Luhmann die Wandlung „von einem ontologischen Systembegriff in Richtung auf einen funktionalen, umweltbezogenen Systembegriff“ (Luhmann 1971, S. 10). Bei der Bestimmung des Systembegriffs unterscheidet er grob vier Etappen:

  1. Versuche, Systeme mittels der Kategorien „Ganzes und Teil“ zu bestimmen. Als entscheidend gelten dabei die internen Beziehungen der Teile eines Systems. Der Bezug zur Umwelt wird ausgeklammert.
  2. Versuche, Systeme mittels „Gleichgewichtstheorien“ zu bestimmen. Dabei wird die Umwelt zumindest als Ausgangspunkt möglicher Störungen berücksichtigt.
  3. Versuche, Systeme als „umweltoffene Systeme“ zu beschreiben. Hierbei gelten Austauschprozesse mit der Umwelt als normal und es lassen sich die Prozesse untersuchen, mittels derer ein System seinen Bestand und seine Grenzen zur Umwelt aufrechterhält.
  4. Versuche, Systeme mittels „kybernetischer Systemtheorien“ zu bestimmen. Charakteristisch für diese ist, dass Sie „das Verhältnis von System und Umwelt als eine Differenz in Komplexität begreifen“ (Luhmann 1971, S. 10).

Im Rahmen der weiteren Entwicklung rücken bei den Bestrebungen, Systeme zu bestimmen, Überlegungen zur Autopoiese (Selbstherstellung und Selbsterhaltung), zur Selbstreferenzialität (Selbstbezüglichkeit) und zur grundsätzlichen Relationalität jeglicher Aussage (Beobachterperspektive) ins Zentrum.

2 Definitionen von System

Zu den klassischen Versuchen der ersten Etappe, Systeme mittels der Kategorien „Ganzes und Teil“ zu bestimmen, zählen Böse und Schiepek (2000, S. 186) die Definition von Hall und Fagen. Deren Definition findet sich schon im ersten Jahrbuch der Society for Advancement of General Systems Theory, welches Bertalanffy (einer der Pioniere einer allgemeinen Systemtheorie) und Rapaport 1956 herausgegeben haben (Bertalanffy und Rapaport 1956).

„A system is a set of objects together with relationships between the objects and between their attributes“ (Hall und Fagen 1956, S. 18).

Der Fokus liegt dabei auf den Objekten, Beziehungen und Merkmalen, aus denen ein System besteht, wobei der „Bezug des Systems zur Umwelt gänzlich ausgeklammert“ (Böse und Schiepek 2000, S. 186) wird. Während in dieser Bestimmung das Verhältnis zwischen System und Umwelt nicht enthalten ist, ist für Luhmanns Operativen Konstruktivismus (und damit für seine Systemtheorie; Luhmann 1987, 1998) die Differenz von System und Umwelt der Ausgangspunkt jeglicher systemtheoretischer Analysen (Luhmann 2021, S. 35 ff.). Dementsprechend definiert er:

„Systeme müssen als Identitäten begriffen werden, die sich in einer komplexen und veränderlichen Umwelt durch Stabilisierung einer Innen-/Außen-Differenz erhalten“ (Luhmann 1968, S. 120).

Diese Differenz wird durch das System hergestellt (Willke 2016, S. 438), welches in diesem Sinne als autopoetisch (selbstherstellend und selbsterhaltend) gilt:

„Sie konstituieren und sie erhalten sich durch Erzeugung und Erhaltung einer Differenz zur Umwelt“ (Luhmann 2021, S. 35).

Gleichwohl die Differenz zwischen System und Umwelt ebenfalls für das Systemverständnis des Relationalen Konstruktivismus (Kraus 2023) relevant ist, liegt hier der Fokus im besonderen Maße auf den verschiedenen Ebenen der Relationalität, die für die Konstruktion von Systemen relevant sind. Mittels dieser begründet Kraus eine allgemeine Definition (Kraus 2019, S. 37), deren Anwendung auf jegliche Systeme der Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften zielt:

„Als System gelten aus einer Beobachterperspektive als zusammenhängend bestimmte Gebilde, deren interne Relationen quantitativ und/oder qualitativ von ihren Relationen zu anderen Entitäten unterschieden werden. Diese aus einer Beobachterperspektive bestimmten Unterschiede ermöglichen die Konstituierung einer Systemgrenze, durch die das System von seiner Umwelt unterschieden wird“ (Kraus 2023, o.S.).

Damit ist die Kategorie der Relationalität in mehrfacher Hinsicht relevant: Sowohl als „Gegenstand“ der Beobachtung (Beobachtung interner und externer Relationen eines Systems), als auch bei der Beobachtung der Beobachtung (Beobachtung der Relationen zwischen den Beobachter:innen und den beobachteten Systemen).

Insofern wird die auch schon im Operativen Konstruktivismus relevante Beobachterperspektive im Relationalen Konstruktivismus konstitutiver Bestandteil der Systemdefinition. Nicht die vermeintlichen Eigenschaften eines Systems bestimmen dessen Grenze, sondern die Kriterien, mittels der aus einer Beobachterperspektive ein System bestimmt und von seiner Umwelt unterschieden wird.

In diesem Sinne gelten Individuen als kognitive, bzw. bio-psychische Systeme und Gesellschaften als soziale Systeme (vgl. Relationaler Konstruktivismus).

3 Relationierung

Bei Systemdefinitionen, die am „Sein“ von Systemen als „Ganzes“ aus „Teilen“ orientiert sind, liegt der Fokus auf der Ordnung der Teile und der Beziehungen, aus denen ein System als Ganzes besteht (Hall und Fagen 1956, S. 18). Dieses ontologische Systemverständnis legt den Fokus auf das System als „Menge aus Objekten“ (a.a.O.) und klammert das Verhältnis zur Umwelt aus. Im Unterschied dazu kommt der Differenzierung zwischen System und Umwelt sowohl im Operativen als auch im Relationalen Konstruktivismus eine besondere Relevanz zu. Dabei liegt der Fokus des Operativen Konstruktivismus nicht nur auf der Differenz zwischen Umwelt und System, sondern gerade auch auf den Operationen des Systems, mittels derer diese Differenz begründet wird. Soziale Systeme bestimmt Luhmann dementsprechend mit der Operation der Kommunikation:

„Ein soziales System kommt zustande, wenn immer ein autopoietischer Kommunikationszusammenhang entsteht und sich durch Einschränkung der geeigneten Kommunikationen gegen eine Umwelt abgrenzt“ (Luhmann 1986, S. 269).

Zu den Besonderheiten dieser Theorie gehört, dass die Subjekte nicht mehr als Teil, sondern als Umwelt sozialer Systeme verortet werden:

„Soziale Systeme bestehen demnach nicht aus Menschen, auch nicht aus Handlungen, sondern aus Kommunikationen“ (Luhmann 1986, S. 269).

Im Unterschied dazu werden im Relationalen Konstruktivismus Menschen nicht grundsätzlich zur Umwelt sozialer Systeme. Ob Menschen Teil oder Umwelt eines sozialen Systems sind, hängt hier von den Kriterien ab, mittels denen aus einer Beobachterperspektive darüber entschieden wird. Damit wird der Fokus von den Eigenschaften und Funktion eines Systems verschoben hin zu den Perspektiven und Entscheidungen derer, die Systeme als solche bestimmen.

„Systeme können nicht objektiv erkannt, sondern nur aus Beobachterperspektiven, mit zuvor festgelegten Kriterien als System bestimmt und dabei von ihrer Umwelt unterschieden werden“ (Kraus 2023, o.S.).

Folglich wird ein System, nicht mehr durch dessen Teile und seinen Eigenschaften und Funktionen bestimmt, sondern durch die Entscheidungen welche Beobachter:innen treffen.

Gerade dadurch wird die Anwendung nicht nur auf alle Bereiche der Sozialwissenschaften, sondern der Geistes- und Naturwissenschaften möglich.

4 Quellenangaben

Bertalanffy, Ludwig von und Anatol Rapoport, Hrsg., 1956. General Systems, the Yearbook of the Society for Advancement of General Systems Theory. Vol. 1. Ann Arbor, Michigan: The Society for General Systems Research

Böse, Reimund und Günter Schiepek, 2000. Systemische Theorie und Therapie: Ein Handwörterbuch. Heidelberg: Asanger. ISBN 978-3-89334-152-8

Hall, A.D. und R.E. Fagen, 1956. Definition of System. In: Ludwig von Bertalanffy und Anatol Rapoport, Hrsg. General Systems, the Yearbook of the Society for Advancement of General Systems Theory. Vol. 1. Ann Arbor, Michigan: The Society for General Systems Research, S. 18–28

Kraus, Björn, 2019. Relationaler Konstruktivismus – Relationale Soziale Arbeit: Von der systemisch-konstruktivistischen Lebensweltorientierung zu einer relationalen Theorie der Sozialen Arbeit. Weinheim: Beltz Juventa. ISBN 978-3-7799-3949-8 [Rezension bei socialnet]

Kraus, Björn, 2023. Relationaler Konstruktivismus [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet [Zugriff am: 20.12.2023]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/​29443

Luhmann, Niklas, 1968. Zweckbegriff und Systemrationalität: Über die Funktion von Zwecken in sozialen Systemen. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck)

Luhmann, Niklas, 1971. Moderne Systemtheorien als Form gesamtgesellschaftlicher Analyse. In: Jürgen Habermas und Niklas Luhmann. Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie: Was leistet die Systemforschung? Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 7–24. ISBN 978-3-518-06358-3

Luhmann, Niklas, 1986. Ökologische Kommunikation. Opladen: Westdeutscher Verlag. ISBN 978-3-531-11775-1

Luhmann, Niklas, 1987. Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. ISBN 978-3-518-28266-3

Luhmann, Niklas, 1998. Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp. ISBN 978-3-518-28960-0

Luhmann, Niklas, 2021. Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie. 18. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp. ISBN 978-3-518-28266-3

Willke, Helmut, 2016. Komplexität als Formprinzip: Über Niklas Luhmann, Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie, (1984). In: Dirk Baecker, Hrsg. Schlüsselwerke der Systemtheorie. 2. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 437–454. ISBN 978-3-531-20003-3

Verfasst von
Prof. Dr. habil. Björn Kraus
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Zitiervorschlag
Kraus, Björn, 2024. System [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 01.02.2024 [Zugriff am: 13.12.2024]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/1049

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