Systemische Therapie
Prof. Dr. Christian Paulick
veröffentlicht am 23.10.2020
Unter Systemischer Therapie ist eine spezialisierte Form Systemischer Beratung zu verstehen, die sich unmittelbar auf den Systemischen Ansatz bezieht. Sie ist dabei nicht mit der „Psychologischen Psychotherapie im Vertiefungsgebiet Systemische Therapie“ (siehe unten) gleichzusetzen.
Überblick
- 1 Institutionelle und infrastrukturelle Organisation
- 2 Ursprünge und Charakteristika
- 3 Aktuelle Entwicklungen
- 4 Ausblick
- 5 Quellenangaben
- 6 Informationen im Internet
1 Institutionelle und infrastrukturelle Organisation
In Deutschland organisieren sich Systemische Therapie und Beratung derzeit hauptsächlich in zwei Gesellschaften:
- DGSF – Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie e.V. mit Sitz in Köln
- Systemische Gesellschaft (SG) – Deutscher Verband für systemische Forschung, Therapie, Supervision und Beratung e.V. mit Sitz in Berlin
Die Vermittlung Systemischer Therapie erfolgt im Rahmen einer berufsbegleitenden Weiterbildung in einem regional verorteten Systemischen Weiterbildungsinstitut. Diese sind oft entweder Mitglied der DGSF oder der SG.
2 Ursprünge und Charakteristika
Systemische Therapie hat ihren Ursprung im Systemischen Ansatz, also den drei Entwicklungszusammenhängen von Systemtheorie, Konstruktivismus sowie der Praxis Systemischer (Familien-)Therapie in den historischen Entwicklungslinien seit den 1950er-Jahren. Während eine allgemein gängige Unterschiedsmarkierung von Therapie gegenüber Beratung dahin gehend bestimmt wird, dass (Psycho-)Therapie sich auf „Störungen mit Krankheitswert“ (Engel, Nestmann und Sickendiek 2014, S. 37) bezieht, traditionell unidisziplinär (psychologisch) oder bidisziplinär (medizinisch und psychologisch) orientiert (Nestmann 2002) und dergestalt im Heilungsdiskurs zu verorten ist (Großmaß 2014, S. 101), erweist sich diese Differenzlogik im Systemischen Ansatz als inadäquat, da dieser als „transdisziplinäres und multiprofessionelles Projekt“ (Schwing 2016, S. 151) angelegt ist und „sich aus keiner einzelnen akademischen Disziplin alleine ableiten“ (Levold 2016, S. 15) lässt. Systemische Beratung und Systemische Therapie weisen sowohl hinsichtlich der Grundhaltung, des Vorgehens und der verwendeten Methoden ein hohes Maß an Gemeinsamkeiten auf. Insbesondere vor dem Hintergrund des multi- und transdisziplinären Charakters Systemischen Arbeitens ist eine definitorische Leitdifferenz von Systemischer Beratung und Systemischer Therapie schwierig, nicht zuletzt auch deshalb, weil es weder DIE Systemische Beratung noch DIE Systemische Therapie gibt, sondern beide Interventionsformen ein dynamisches und plurales Paradigma repräsentieren. Während einige Autor*innen beide Termini entweder gezielt synonym (Klein und Kannicht 2011, S. 8) bzw. alternierend verwenden (Schwing und Fryzser 2016, S. 13), wird Systemische Therapie von anderen wiederum „als ein besonderer Kontext systemischer Beratung, nämlich als ein Heilverfahren im Gesundheitswesen“ (Schlippe und Schweitzer 2016, S. 31) verstanden. Realtypisch ist Systemische Therapie, wie sie sich seit den 1980er-Jahren formiert hat, jedoch nicht auf den Gesundheitsdiskurs beschränkt, sondern findet heterogene Anwendungsformen, wie etwa in klinischen Kontexten, im Bereich der Erziehungsberatung, der Ambulanten Familientherapie oder in der Arbeit mit gewaltanwendenden Menschen. Der Begriff Systemische Therapie ist gesetzlich nicht geschützt, das heißt, er ist nicht auf einen bestimmten Anwendungsbereich begrenzt oder einer bestimmten Berufsgruppe vorbehalten, was sich in einer Heterogenität der Verwendungsweisen und Zertifizierungen niederschlägt. In den Curricula der beiden mitgliedsstärksten systemischen Verbände in Deutschland (SG, DGSF) setzt die Aufbauweiterbildung in Systemischer Therapie den Abschluss der Weiterbildung Systemische Beratung voraus und vertieft in 380 Unterrichtseinheiten (SG) bzw. 450 (DGSF) Unterrichtseinheiten erworbene Beratungsroutinen in einer 1–1,5-jährigen Weiterbildung.
3 Aktuelle Entwicklungen
Neben psychodynamischen, kognitiv-behavioralen und humanistischen Verfahren gehört Systemische Therapie weltweit zu den vier Säulen der anerkannten Therapieverfahren (Wirsching und Levold 2016, S. 544 f.). „Als wohl jüngste Form der Psychotherapie ist sie gewissermaßen die legitime Tochter ihrer Vorgängerin, der Familientherapie, und sie kann als ihre Weiterentwicklung angesehen werden“ (Ludewig 2018, S. 7). Systemische Therapie wurde 2008 in Deutschland durch den wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie (für die Bereiche Kinder und Jugendliche, sowie für Erwachsene) als wissenschaftlich anerkanntes Therapieverfahren eingestuft (Kriz 2014, S. 300, Bundesärztekammer 2009, S. 208).
Neben den psychoanalytisch begründeten Verfahren und der Verhaltenstherapie ist Systemische Therapie (als Psychotherapieverfahren) durch Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) vom 22.11.2019 (Inkrafttreten am 24.01.2020) als Leistung der gesetzlichen Krankenkassen für die Behandlung Erwachsener möglich (G-BA 2020a). Der Antrag auf Nutzenbewertung für den Einsatz des Verfahrens bei Kindern und Jugendlichen durch den G-BA ist in Vorbereitung.
„Psychotherapie als ambulante Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung umfasst nach der Psychotherapie-Richtlinie des G-BA die Behandlung seelischer Krankheiten. Als seelische Krankheit wird im Sinn der Richtlinie eine krankhafte Störung der Wahrnehmung, des Verhaltens, der Erlebnisverarbeitung, der sozialen Beziehungen und der Körperfunktionen verstanden. Es gehört zum Wesen dieser Störungen, dass sie der willentlichen Steuerung durch die Patientin oder den Patienten nicht mehr oder nur zum Teil zugänglich sind.“ (Gemeinsamer Bundesausschuss 2020b)
Entsprechend des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) definiert sich Systemische Therapie als Psychotherapieverfahren wie folgt:
„§ 18 Systemische Therapie
(1) Die Systemische Therapie fokussiert den sozialen Kontext psychischer Störungen und misst dem interpersonellen Kontext eine besondere ätiologische Relevanz bei. Symptome werden als kontraproduktiver Lösungsversuch psychosozialer und psychischer Probleme verstanden, die wechselseitig durch intrapsychische (kognitivemotive), biologisch-somatische sowie interpersonelle Prozesse beeinflusst sind. Theoretische Grundlage sind insbesondere die Kommunikations- und Systemtheorien, konstruktivistische und narrative Ansätze und das biopsychosoziale Systemmodell. Grundlage für Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Sinne dieser Richtlinie ist die Analyse der Elemente der jeweiligen relevanten Systeme und ihrer wechselseitigen Beziehungen, sowohl unter struktureller als auch generationaler Perspektive und eine daraus abgeleitete Behandlungsstrategie. Der Behandlungsfokus liegt in der Veränderung von symptomfördernden, insbesondere familiären und sozialen Interaktionen, narrativen und intrapsychischen Mustern hin zu einer funktionaleren Selbst-Organisation der Patientin oder des Patienten und des für die Behandlung relevanten sozialen Systems, wobei die Eigenkompetenz der Betroffenen genutzt wird.“ (G-BA 2020a, S. 138)
Im Unterschied zur Systemischen Therapie, welche sich aus human- und sozialwissenschaftlichen Grundprofessionen rekrutiert, sind die Zugangsmöglichkeiten zur Ausbildung „Psychologische Psychotherapie im Vertiefungsgebiet Systemische Therapie“ durch das Psychotherapeutengesetz (PsychThG) geregelt und dergestalt aktuell ausschließlich psychologischen Psychotherapeut*innen und ärztlichen Psychotherapeut*innen vorbehalten. Mit dem Gesetz zur Reform der Psychotherapeutenausbildung (PsychThGAusbRefG) vom 15. November 2019 wird die Ausbildung von Psychotherapeut*innen ab 1. September 2020 grundlegend verändert und zukünftig in Form eines Direktstudiums an Universitäten (Berufsabschluss als Psychotherapeut*in) sowie einer anschließenden Weiterbildung realisiert, die den Zugang zum Versorgungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung eröffnet (für Ausbildungen nach dem bisherigen System sind dabei Übergangsfristen von 12 bzw. in Härtefällen 15 Jahren vorgesehen). Die Gesetzesnovelle markiert eine deutliche Grenzziehung zwischen Psychotherapie und anderen Formen psychosozialer Hilfen und Uni- versus Multidisziplinarität scheint damit noch deutlicher zu einem zentralen Unterscheidungskriterium zwischen Beratung (und Systemischer Therapie im oben beschriebenen Sinne) und Psychotherapie zu werden.
4 Ausblick
Systemische Therapie ist bereits aktuell von maßgeblichen Entwicklungen und Modifikationen geprägt. Die Parallelität von approbierter und nicht-approbierter Systemischer Therapie ist durchaus ungewöhnlich, zumal sich die beiden mitgliedsstärksten Verbände zu etwa 3/4 aus Grundprofessionen rekrutieren, für die sich eine Ausbildung in „Psychologische Psychotherapie im Vertiefungsgebiet Systemische Therapie“ (für Erwachsene) qua Grundprofession nicht stellt, allen voran Soziale Arbeit. „Noch sind bei weitem nicht alle Möglichkeiten dieses Denkens ausgelotet worden; das Projekt ‚systemische Therapie‘ ist noch mitten im Werden und alles andere als abgeschlossen“ (Ludewig 2018, S. 120).
5 Quellenangaben
Bundesärztekammer, Hrsg., 2009. Bekanntmachungen – Wissenschaftlicher Beirat Psychotherapie nach § 11 PsychThG: Gutachten zur wissenschaftlichen Anerkennung der Systemischen Therapie. In: Deutsches Ärzteblatt [online]. 106(5), S. 208 [Zugriff am: 17.10.2020]. Verfügbar unter: https://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=63232
Engel, Frank, Frank Nestmann und Ursel Sickendiek, 2014. „Beratung“ – Ein Selbstverständnis in Bewegung. In: Frank Nestmann, Frank Engel und Ursel Sickendiek, Hrsg. Das Handbuch der Beratung. Band 1: Disziplinen und Zugänge. 3. Auflage. Tübingen: dgvt Verlag, S. 33–44. ISBN 978-3-87159-048-1 [Rezension bei socialnet]
Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA), 2020a. Gutachten zur wissenschaftlichen Anerkennung der Systemischen Therapie. In: Deutsches Ärzteblatt [online]. 117(3), S. 137–140 [Zugriff am: 17.10.2020]. Verfügbar unter: https://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=212939
Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA), 2020b. Psychotherapie [online]. Berlin: Gemeinsamer Bundesausschuss [Zugriff am: 17.10.2020]. Verfügbar unter: https://www.g-ba.de/themen/​psychotherapie/
Großmaß, Ruth, 2014. Psychotherapie und Beratung. In: Frank Nestmann, Frank Engel, und Ursel Sickendiek, Hrsg. Das Handbuch der Beratung: Band 1: Disziplinen und Zugänge. 3. Auflage. Tübingen: dgvt Verlag, S. 89–102. ISBN 978-3-87159-048-1 [Rezension bei socialnet]
Klein, Rudolf und Andreas Kannicht, 2011. Einführung in die Praxis der systemischen Therapie und Beratung. Heidelberg: Carl Auer. ISBN 978-3-89670-571-6 [Rezension bei socialnet]
Kriz, Jürgen, 2014. Grundkonzepte der Psychotherapie. 7., überarbeitete und erweiterte Auflage. Weinheim: Beltz Verlag. ISBN 978-3-621-28097-6
Levold, Tom, 2016. Systemische Therapie als transdisziplinäres und multiprofessionelles Konzept. In: Tom Levold und Michael Wirsching, Hrsg. Systemische Therapie und Beratung: das große Lehrbuch. Heidelberg: Carl Auer, S. 14–20. ISBN 978-3-89670-577-8 [Rezension bei socialnet]
Levold, Tom und Michael Wirsching, Hrsg., 2016. Systemische Therapie und Beratung: das große Lehrbuch. Heidelberg: Carl Auer. ISBN 978-3-89670-577-8 [Rezension bei socialnet]
Ludewig, Kurt, 2018. Einführung in die theoretischen Grundlagen der systemischen Therapie. 3. Auflage. Heidelberg: Carl Auer. ISBN 978-3-89670-466-5 [Rezension bei socialnet]
Nestmann, Frank, 2002. Verhältnis von Beratung und Therapie. In: PiD – Psychotherapie im Dialog. 3(4), S. 402–409. ISSN 1438-7026
Schlippe, Arist von und Jochen Schweitzer, Hrsg., 2016. Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung I: Das Grundlagenwissen. 3. unveränderte Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. ISBN 978-3-525-40185-9 [Rezension bei socialnet]
Schwing, Rainer, 2016. 2.1 Allgemeine Grundlagen systemischer Praxis. In: Tom Levold und Michael Wirsching, Hrsg. Systemische Therapie und Beratung: das große Lehrbuch. Heidelberg: Carl Auer, S. 151–156. ISBN 978-3-89670-577-8 [Rezension bei socialnet]
Schwing, Rainer und Andreas Fryszer, 2016. Systemische Beratung und Familientherapie – kurz, bündig, alltagstauglich. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. ISBN 978-3-525-45376-6
Wirsching, Michael und Tom Levold, 2016. Teil 6: Schluss. Systemische Therapie – Perspektive und Ausblick. In: Tom Levold und Michael Wirsching, Hrsg. Systemische Therapie und Beratung: das große Lehrbuch. Heidelberg: Carl Auer, S. 544–549. ISBN 978-3-89670-577-8 [Rezension bei socialnet]
6 Informationen im Internet
- Systemische Gesellschaft (SG) – Deutscher Verband für systemische Forschung, Therapie, Supervision und Beratung e.V.
- Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) e.V.
- Gemeinsamer Bundesausschuss: Psychotherapie
Verfasst von
Prof. Dr. Christian Paulick
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Zitiervorschlag
Paulick, Christian,
2020.
Systemische Therapie [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 23.10.2020 [Zugriff am: 07.11.2024].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/1052
Link zur jeweils aktuellsten Version: https://www.socialnet.de/lexikon/Systemische-Therapie
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