Trauer
Heidi Müller, Susanne Kiepke-Ziemes
veröffentlicht am 13.10.2023
Unter Trauer ist die normale und natürliche Reaktion auf eine Verlusterfahrung zu verstehen. Der Trauerprozess dient der Anpassung an die neue, veränderte Lebenssituation. Zahlreiche Faktoren (z.B. soziales Umfeld, Art der Beziehung, Todesumstände, wirtschaftliche Situation) beeinflussen den Trauerprozess. Trauer ist in Verlauf, Ausprägung und Dauer bei jedem Menschen anders.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Trauer – eine Definition
- 3 Einflussfaktoren
- 4 Reaktionsweisen
- 5 Wie verarbeiten Menschen Verluste?
- 6 Unterschiedliche Trauerverläufe
- 7 Trauer in der ICD-11 und dem DSM-5-TR
- 8 Risikofaktoren einer Prolonged Grief Disorder (PGD)
- 9 Trauerversorgung
- 10 Quellenangaben
- 11 Literaturhinweise
- 12 Informationen im Internet
1 Zusammenfassung
Die meisten Menschen erleiden im Laufe ihres Lebens Verluste. Die Verluste können unterschiedlicher Natur sein, wie etwa der Verlust von Gliedmaßen, Verlust eines nahestehenden Menschen, der Verlust von Hoffnung und von beruflichen Chancen. Am häufigsten wird Trauer mit dem Tod eines Menschen assoziiert. Erleiden Menschen einen Verlust, erleben sie, was Trauer ist und wie lange ein Trauerprozess dauern kann. Trauer ist grundsätzlich ein normaler und wünschenswerter Prozess. Doch es gibt Betroffene, die klinisch auffällige Verläufe aufweisen. Diese schwerwiegenden Verläufe haben über die Diagnose „Prolonged Grief Disorder“ in den Klassifikationssystemen ICD-11 und DSM-V-TR Anerkennung erfahren. Betroffene haben Anspruch auf Psychotherapie. Abseits der Psychotherapie gibt es zahlreiche andere trauerspezifischen Angebote, die sich an alle Hinterbliebenen richten. Diese wurden anhand eines vierstufigen Trauerversorgungsmodells strukturiert, damit Betroffene und Fachkräfte besser einschätzen können, welche Angebote bedarfsseitig angezeigt sind.
2 Trauer – eine Definition
Es gibt zahlreiche Definitionen des Begriffs Trauer. Ganz grundsätzlich kann darunter die natürliche und normale Reaktion auf eine Verlusterfahrung bzw. die Bewältigung der Verlusterfahrung verstanden werden (Wittkowski 2020). Jeder Mensch kann trauern, diese Fähigkeit muss nicht erst erlernt werden. Häufig wird Trauer als Emotion angesehen. Diesbezüglich herrscht unter Expert:innen jedoch keine Einigkeit. So erklärt etwa der Psychologe Bonanno (2001), dass Emotionen von Natur aus eindimensional und flüchtig sind. Diese Aspekte treffen jedoch nicht auf Trauer zu. Die Soziologinnen Charmaz und Milligan (2006) sehen Trauer aus diesem Grund als komplexe Emotion an, die viele Gefühle beinhalten kann. Vermehrt existiert die Auffassung, dass Trauer einen prozesshafter Zustand darstellt, der dazu dient, sich an die neue Lebenssituation anzupassen.
3 Einflussfaktoren
Verlustsituationen sind einzigartig. Wie Betroffene auf einen Verlust reagieren, wird durch zahlreiche Faktoren beeinflusst wie etwa Alter, Geschlecht, Todesumstände, Persönlichkeit, soziales Umfeld, Gesundheitszustand, wirtschaftliche Situation, Kultur, Spiritualität. Dabei können alle Faktoren grundsätzlich sowohl positiven wie auch negativen Einfluss auf den Trauerverlauf nehmen. Besondere Bedeutung kommt der Unterstützung durch das soziale Umfeld zu (Scott et al. 2020; Logan et al. 2018). Erleben Betroffene, dass ihr Umfeld sie langfristig so unterstützt, wie sie es sich wünschen, und ihnen die Unterstützung zukommen lassen, die sie benötigen, dann kann sich dies positiv auf den Trauerverlauf auswirken.
4 Reaktionsweisen
Die Reaktionen von Betroffenen fallen individuell sehr verschieden aus. Sie lassen sich grob in verschiedene Kategorien einteilen, wohl wissend, dass diese Einteilung artifiziell ist und die Reaktionsweisen einander beeinflussen und kaum so starr voneinander zu trennen sind.
- Emotionale Reaktionsweisen, wie Niedergeschlagenheit, Wut, Erleichterung, Sehnsucht
- Körperliche Reaktionsweisen, wie Appetitlosigkeit, Magen-Darmprobleme, Kopfschmerzen
- Kognitive Reaktionsweisen, wie Sinnlosigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, Fassungslosigkeit
- Veränderte Verhaltensweisen, wie sozialer Rückzug, selbst gefährdendes Verhalten
- Spirituelle Reaktionsweisen, wie Abkehr vom oder Zuwendung zum Glauben, Beschäftigung mit spirituellen Fragen
Welche Reaktionen Betroffene zeigen, wie lange sie unter einem Verlust leiden bzw. wie lange jemand für die Anpassung an die neue Lebenssituation benötigt, lässt sich kaum vorhersagen. Häufig wird an das Trauerjahr als Zeitrahmen gedacht, doch diese Annahme trifft nicht auf alle Trauernden zu. Trauerprozesse verlaufen oft länger, als Menschen allgemein annehmen.
Zudem wird die Wirkung von positiven Emotionen auf den Trauerprozess häufig unterschätzt. So weisen Hinterbliebene, die gelegentlich herzhaft lachen oder kurze Momente des Glücks empfinden, geringere Depressionswerte auf (Bonanno und Kaltman 1999). Betroffene trauern nicht in einem sozialen Vakuum. Vielmehr besteht eine Wechselwirkung zwischen Umwelt und trauernder Person (Müller et al. 2022). Trauernde, die beispielsweise gelegentlich auch positive Emotionen zeigen, erfahren eine stärkere Einbindung in das soziale Umfeld. Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass Trauer in Verlauf, Ausprägung und Dauer bei jedem Menschen anders ist.
5 Wie verarbeiten Menschen Verluste?
Die Frage, wie Menschen Verluste verarbeiten, wurde von Fachkräften und Wissenschaftler:innen immer wieder gestellt. Besonders interessiert zeigten sich die Expert:innen an der Frage, warum einige Betroffene stark, andere jedoch weniger unter einem Verlust leiden. Erste Erklärungsversuche finden sich in „Trauermodellen“ wieder.
Frühe Überlegungen gingen davon aus, dass Betroffene Trauer in Phasen durchleben. Bowlby (1980) benannte vier Phasen: Betäubung, Sehnsucht und Suche nach der verstorbenen Person, Desorganisation und Verzweiflung, Reorganisation. Phasenmodelle gelten heute als widerlegt und von ihrem Einsatz in der Praxis wird abgeraten (Stroebe et al. 2017). Bekannt sind auch Traueraufgabenmodelle. Worden (2011) benennt vier Aufgaben: Den Verlust als Realität akzeptieren, den Schmerz verarbeiten, sich an eine Welt ohne die verstorbene Person anpassen, eine dauerhafte Verbindung zu der verstorbenen Person inmitten des Aufbruchs in ein neues Leben finden. Sowohl Phasen- wie auch Trauermodelle fußen auf der Idee, dass Betroffene sogenannte Trauerarbeit leisten müssten, sich also mit dem Verlust und den damit zusammenhängenden Gefühlen konfrontieren müssen. Dies allein, so zeigen Studien (z.B. Ablon 1971), reicht jedoch nicht aus und spiegelt das Erleben der Betroffenen nur unzureichend wider (Stroebe und Schut 2010).
5.1 Das DPM-R
Das erweiterte sogenannte Duale Prozessmodell der Bewältigung von Verlusterfahrungen, kurz DPM-R genannt, bietet eine weitreichendere Erklärung auf die Frage, wie Verluste verarbeitet werden (Stroebe und Schut 2015).
Es besagt, dass jede:r Betroffene, aber auch die Familie als Ganzes, in Verlustsituationen häufig mit zwei verschiedenen Arten von Stressoren konfrontiert sind. Den Begriff Familie fassen Stroebe und Schut (2015) sehr weit, sie verstehen darunter alle Personen, die von dem Verlust betroffen sind. Zum einen sind die Familienmitglieder mit verlustbezogenen Stressoren (z.B. die Bindung zur verstorbenen Person zu verändern), zum anderen mit wiederherstellungsbezogenen Stressoren (z.B. Umzug in eine neue Wohnung) konfrontiert. Im Umgang mit den Stressoren setzen sie emotionsorientierte und lösungsorientierte Bewältigungsstrategien ein.
Ein weiteres zentrales Element des DPM-R stellt der Vorgang des Oszillierens dar. So gehört es zum normalen Verlauf bei Trauerprozessen, dass Menschen hin und her pendeln zwischen Zeiten, in denen sie sich bewusst mit dem Verlust auseinandersetzen und Zeiten, in denen sie sich damit beschäftigen, wie der Alltag weitergeht. Zusätzlich ist der Aspekt des Vermeidens bzw. Verdrängens innerhalb des DPM-Rs von Bedeutung. Durch die Strategie des Vermeidens können sich Familien, aber auch alle Familienmitglieder „Auszeiten“, also Pausen, von der Trauer nehmen, z.B. wenn Gefühle zu schmerzhaft werden. Es geht darum, dass Betroffene und Familien die Auseinandersetzung mit dem Verlust für sich „richtig“ dosieren, aber auch bewusst Abstand von der Trauer nehmen und Pausen machen. Denn trauern ist anstrengend.
Die Balance zwischen individuellem und familiärem Prozess zu gestalten, ist häufig eine Herausforderung für Familien. Können individuelle und familiäre Bedürfnisse aber miteinander in Einklang gebracht werden, stärkt es das Familiensystem. Geschieht dies nicht, kann es zu Problemen bei einzelnen Familienmitgliedern oder der Familie als Ganzes kommen (Stroebe und Schut 2015). Das DPM-R gilt als empirisch belegt. So bestätigt etwa Fiore (2021) in ihrem systematischen Review, dass das DPM-R die Erfahrungen Trauernder akkurat abbildet und Interventionen, die sich am DPM-R orientierten, größere Effekte zeigen als therapeutische Ansätze, die nicht auf den Annahmen des DPM-R beruhen.
Grafisch stellt sich das DPM-R wie folgt dar:

5.2 Ein Vorschlag zur Erweiterung des DPM-R
Stroebe und Schut, die Entwickler:innen des DPM-R, haben angeregt, Trauerprozesse aus einem systemischen Blickwinkel zu betrachten. Einen systemischen Blickwinkel einzunehmen, bedeutet, „die weitreichenden Verkettungen gegenseitiger Abhängigkeit (Interdependenz) zu unterstreichen“ (Rotthaus 1989, S. 10) und entstehende Probleme aus der Mensch-Umwelt-Perspektive heraus zu betrachten. Zahlreiche Studien (z.B. Wilson et al. 2019; Laperle et al. 2022; Lytje 2018) zeigen, dass der systemische Rahmen über die Familie hinausgeht und viele Betroffene mit zahlreichen weiteren Personen ihren Trauerprozess aushandeln müssen. Dazu gehören etwa Kolleg:innen, Freund:innen, Hausärzt:innen und Lehrpersonal. Zudem ist jeder Mensch Teil einer Kultur oder mehrerer Kulturen und teilt die Ideen und Werte dieser Gruppe(n). Befinden sich die Normen, Werte, Gebräuche einer Gruppe mit den individuellen, familiären Bedürfnissen Trauernder in Übereinstimmung, empfinden Betroffene dies als positiv. Ist dies nicht der Fall, kann es Hinterbliebene belasten. Dieser weiterreichende systemische Blickwinkel hat bislang in Trauermodellen noch keinen Ausdruck gefunden. Müller et al. (2022) haben jedoch einen ersten Vorschlag zur Erweiterung des DPM-R um die Elemente „Kultur“ und „Personen der zweiten Reihe“ vorgelegt, in dem sie die weiterreichenden Interdependenzen integriert haben.
6 Unterschiedliche Trauerverläufe
Viele Menschen sind der Auffassung, dass Verluste unvermeidlich mit einer hohen psychischen Belastung einhergehen. Fehlt diese, gäbe dies einen Anlass zur Sorge. Diese Annahme stellt einen populären Mythos dar, der so nicht zutrifft (Wortman und Boerner 2011). Das Spektrum möglicher psychischer Zustände nach einem Verlust ist sehr breit und reicht von leichter Erschütterung bis hin zu schwersten Ausnahmezuständen. Die psychische Belastung ist dabei nicht statisch, sondern Phasen von Sehnsucht, Wut, Hoffnung, Schmerz kommen und gehen wieder. Langzeitstudien zeigen, dass mehr als die Hälfte der Betroffenen nach dem Tod eines nahestehenden Menschen einen sogenannten resilienten Trauerverlauf aufweist (Bonanno und Malgaroli 2020). Das heißt, diese Hinterbliebenen erleben in der Zeit nach dem Verlust immer wieder intensive Trauermomente. Ihre Gesamtverfassung ist jedoch nicht über längere Zeit beeinträchtigt. Sie finden schnell in ihr seelisches Gleichgewicht zurück und beginnen damit, sich an die neue Lebenssituation anzupassen. Neben dem resilienten Trauerverlauf gibt es noch drei „moderate“ Trauerverläufe und den prolongierten Trauerverlauf (Bonanno und Malgaroli 2020). Moderate Trauerverläufe weisen Unterschiede auf. So gibt es den Verlauf, bei dem die anfänglich hohe psychische Belastung schnell wieder abnimmt. Bei einer weiteren Verlaufsart ist die anfängliche Belastung auf moderatem Niveau, nimmt aber nur langsam ab. Im dritten Fall befindet sich die anfängliche Belastung auf moderatem Niveau, sie nimmt aber über 25 Monate hinweg kaum ab. Bei prolongierten Trauerverläufen nimmt die anfänglich hohe psychische Belastung über 25 Monate hinweg weiter zu.
7 Trauer in der ICD-11 und dem DSM-5-TR
Nach dem Tod einer nahestehenden Person kommt es in Deutschland bei 4,2 % der Hinterbliebenen zu klinisch auffälligen Belastungen (Rosner et al. 2021). Mit der Aufnahme der Diagnosen „Prolonged Grief Disorder“ (PGD) in die 11. Auflage der ICD, der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (WHO 2023), sowie in die überarbeitete 5. Auflage des DSM-5-TR, des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (APA 2022), fanden diese Belastungen Anerkennung. Die Diagnosen wurden mit dem Anspruch entwickelt, den Hinterbliebenen zu helfen, die von diesen problematischen Trauerprozessen betroffen sind und psychotherapeutische Unterstützung benötigen. Durch Einführung der trauerspezifischen Diagnosen kann die Behandlung durch approbierte Psychotherapeut:innen in Anspruch genommen werden.
Bei der Betrachtung der Diagnosen in den beiden Klassifikationssystemen fällt auf, dass diese Unterschiede aufweisen. So ist die PGD nach ICD-11 typologisch angelegt, zudem gilt sie nur für Erwachsene. Dahingegen gibt die PGD nach DSM-5-TR Mindestkriterien anhand von Symptomchecklisten vor, die zur Diagnosevergabe erfüllt sein müssen. Sie ist auch auf Jugendliche und Kinder anwendbar. Welche Auswirkungen die Unterschiede auf Forschung und Praxis haben, wird derzeit untersucht. Beide Klassifikationssysteme sind gültig. Für die ICD-11 liegt eine erste Entwurfsfassung in deutscher Sprache vor, die sich aktuell in einem Überarbeitungsprozess befindet. Somit liegt aktuell noch keine deutschsprachige Übersetzung des Begriffs „Prolonged Grief Disorder“ vor.
Die Entwicklung der trauerspezifischen Diagnosen entfachte von Beginn an heftige Diskussionen unter Wissenschaftler:innen der Trauerforschung. Ein Streitpunkt stellt etwa das Zeitkriterium dar. So kann eine PGD nach ICD-11 frühestens nach 6 Monaten diagnostiziert werden. Dies beinhaltet die Annahme, dass länger andauernde Trauerprozesse störungswertig sein können. Da Trauerprozesse für bestimmte Verlustgruppen (z.B. Kindesverlust) jedoch sehr langwierig sein können, zweifeln zahlreiche Expert:innen die Gültigkeit des Zeitkriteriums an (Wagner 2019). Auch Fachkräfte begegnen den trauerspezifischen Diagnosen mit Zweifeln. Sie haben über das Zeitkriterium hinaus Bedenken etwa bezüglich der Bezeichnung der Diagnose und den aufgeführten Kriterien (Dietl et al. 2018).
Darüber hinaus zeigen Untersuchungen, dass die Aufnahme einer PGD in die Klassifikationssysteme nicht losgelöst vom gesellschaftlichen System betrachtet werden kann (Walter 2017; Müller et al. 2022). So gelten etwa zu lang andauernde Trauerprozesse in westlichen Leistungsgesellschaften als störend, denn sie beeinträchtigen die Arbeitsfähigkeit. Die Idee ist, dass Trauernde so kosteneffizient wie möglich behandelt werden, damit sie so schnell wie möglich zurück an den Arbeitsplatz zurückkehren (Granek 2017). Eine Diagnose kann dabei als hilfreiches Mittel angesehen werden.
8 Risikofaktoren einer Prolonged Grief Disorder (PGD)
Laut Wagner (2019) können folgende Faktoren als Risikofaktoren für das Auftreten einer PGD angesehen werden:
- Mehrfache Verluste
- Unnatürliche oder gewaltsame Todesumstände (Suizide)
- Mangelnde soziale Unterstützung
- Vorangegangenes Trauma
- Substanzmissbrauch
- Problematische Beziehung zur verstorbenen Person zu Lebzeiten
- Tod des Kindes
9 Trauerversorgung
Es gibt zahlreiche Versorgungsangebote für Trauernde. Doch die Orientierung fällt Betroffenen, aber auch Fachkräften schwer. Die Angebote in Deutschland weisen bezüglich ihrer Qualität und Quantität große Heterogenität auf. Ein vierstufiges Trauerversorgungsmodell bietet nun erstmalig eine übergeordnete Struktur, die die Angebote ordnet und Hinweise darauf gibt, welche Angebote bedarfsseitig angezeigt sind.

Die Mehrheit der Betroffenen (60 %) verarbeitet den Tod einer nahestehenden Person allein mithilfe ihrer sozialen Netzwerke. Diese Betroffenen entwickeln keine Probleme und benötigen dementsprechend auch keine zusätzliche Unterstützung (Level 1 in Abbildung 2). Faktoren wie etwa fehlender sozialer Rückhalt und wirtschaftliche Schwierigkeiten können diese zusätzliche Hilfe notwendig machen und so haben 30 % der Hinterbliebenen zusätzlichen Unterstützungsbedarf (Aoun et al. 2015). Ihnen stehen Fachkräfte wie zum Beispiel Hausärzt:innen, Sozialarbeiter:innen, Seelsorgende, Trauerberater:innen und Trauerbegleiter:innen zur Verfügung (Level 2 in der Abbildung 2). Ein Anteil von 4.2 % der Betroffenen weist klinisch auffällige Belastungen auf (Rosner et al. 2021) und benötigt Unterstützung durch approbierte Psychotherapeut:innen (Level 3 in Abbildung 2).
Alle Betroffenen profitieren von trauerspezifischen Informationen. Häufig beherrschen jedoch irreführenden und veraltete Modelle (z.B.die Annahme, dass Trauerprozesse in Phasen verlaufen) den öffentlichen Diskurs. Diese Vorstellungen können Betroffenen schaden (Stroebe et al. 2017). Deshalb ist es wichtig, die Öffentlichkeit anhand von aktuellen und wissenschaftlich basierten Kenntnissen über Trauer zu informieren. Denn nur so erhalten Betroffene die Hilfe, die sie benötigen. Dieser Ansatz wird im englischsprachigen Raum „grief literacy“ genannt (Breen et al. 2022). Im Deutschen würde man von „trauerspezifischer Bildungsarbeit“ sprechen (Level 0 in Abbildung 2). Diese dient dazu, die Trauerkompetenz der Gesellschaft zu fördern, sodass jede Person kompetent mit Trauernden und der eigenen Trauer umgehen kann.
10 Quellenangaben
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Walter, Tony, 2017. What death means now: Thinking critically about dying and grieving. Bristol: Policy Press. ISBN 978-1-4473-3736-2
12 Informationen im Internet
- Gute Trauer Informationsportal der Verbraucherinitiative Bestattungskultur Aeternitas e.V.
- Newsletter Projekt „Trauerforschung im Fokus“
- AG Psychosoziale, spirituelle und trauerspezifische Versorgung der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin
Verfasst von
Heidi Müller
Die Diplom-Politologin arbeitet als Wissenschaftlerin im Bereich der Trauerforschung. Sie ist Vorsitzende des Bereavement Network Europe (BNE), Lehrende der Hochschule RheinMain in Wiesbaden und unter anderem Herausgeberin des Newsletters „Trauerforschung im Fokus“. Gerade schließt sie am Universitätsklinikum Gießen ihre Dissertation ab.
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Susanne Kiepke-Ziemes
Die Diplom-Sozialpädagogin (FH) arbeitet im Projekt: „Würdige Sterbebegleitung“ beim Caritasverband Viersen e.V. als Referentin zum Thema Sterben, Tod und Trauer. Sie ist Trainerin für Palliative Care und Palliative Praxis (DGP). Mitautorin der Curricula Palliative Care und Soziale Arbeit (DGP), Systemische Beratung für Schwerkranke und ihre Zugehörigen sowie GVP mit Aachener System. Sie ist freiberuflich Lehrende für Systemische Beratung, Therapie und Supervision (DGSF), Lehrbeauftragte an der Hochschule Rhein-Main.
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Es gibt 2 Lexikonartikel von Heidi Müller.
Es gibt 2 Lexikonartikel von Susanne Kiepke-Ziemes.
Zitiervorschlag
Müller, Heidi und Susanne Kiepke-Ziemes,
2023.
Trauer [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 13.10.2023 [Zugriff am: 15.02.2025].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/1070
Link zur jeweils aktuellsten Version: https://www.socialnet.de/lexikon/Trauer
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