Typologie
Prof. Dr. Werner Schönig
veröffentlicht am 27.02.2025
Eine Typologie ist ein Ordnungsschema. Mit ihr können die komplexen Phänomene der Welt durch Konstruktion und Identifikation von herausgehobenen Eigenschaften mit einem inneren Sinnzusammenhang beschrieben und so der Nähe nach den Ideal- oder Realtypen zugeordnet werden.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Die Typologie als Ordnungsschema
- 3 Typologien als Brückenkonzepte zur Sozialpolitik
- 4 Quellenangaben
1 Zusammenfassung
Typologien sind Ordnungsschemata, die notwendig und nützlich sind, um die Komplexität der Welt in reduzierter Form erfassen und auf sie reagieren zu können. Als Theorien mittlerer Reichweite sind Typologien geeignet, eine Brücke zwischen der Sozialen Arbeit und der Sozialpolitik herzustellen, allerdings nur, soweit sie kritisch hinterfragt werden und einer ständigen Überprüfung und ggf. Revision unterliegen. Mit den Typologien überwindet erstens die Soziale Arbeit ihren sonst dominierenden Fokus auf den Einzelfall, zweitens helfen die Typologien den Akteur:innen der Sozialpolitik jenseits von Aggregaten und Durchschnittswerten einzelne Falltypen zu differenzieren. Für beide geht es darum, auf Typen von Problemlagen differenziert zu reagieren.
Durch ihre empirische Fundierung bei gleichzeitiger Anschaulichkeit und innerem Sinnzusammenhang sind die Typologien grundsätzlich gut als Brückenkonzepte geeignet. Sie bergen jedoch auch die Gefahr, ein „eingefrorenes“ und zudem fremdbestimmtes Bild sozialer Problemlagen zu vermitteln. Denn die einmal definierten Typen werden aus Merkmalskombinationen eines ebenfalls definierten Merkmalsraumes hypothetisch gebildet (Idealtypen) oder empirisch identifiziert (Realtypen). Auf dieser Grundlage erfolgt dann die Zuordnung der Fälle zu einem oder mehreren herausgehobenen fiktiven Idealtypen der realen Prototypen (pars pro toto = einer repräsentiert das Ganze). Da in diesem Prozess die Fälle der Nähe und dem inneren Sinnzusammenhang nach einem Typus zugeordnet werden, ist diese Zuordnung nicht eindeutig. Vielmehr kann gleichzeitig eine Nähe/Distanz zu anderen Typen bestehen, sodass ein konkreter Fall auch zwischen zwei oder mehreren Typen einzuordnen sein mag. Die Zuordnung der Nähe und dem inneren Sinnzusammenhang nach ist das zentrale Unterscheidungsmerkmal einer Typologie im Vergleich zu einer Klassifikation, welche die Fälle eindeutig und vollständig zuordnet.
Notwendig ist angesichts des sozialen Wandels eine kontinuierliche Revision aller Ordnungsschemata, was für die Typologien bedeutet, dass neue Typen ergänzt und alte nicht mehr verwendet werden. Entsprechende Revisionen sind in Typologien – im Vergleich zu den Klassifikationen – weniger problematisch und konfliktbehaftet, da die Typologien ja nicht eindeutig und vollständig zuordnen und insofern ein neuer Typus eher ein neues Angebot, eine neue Zuordnungsoption darstellt und insofern die Typologie öffnet und nicht schließt. Entsprechend selten ist daher die Streichung eines Typus aus einer Typologie.
Vor der Erstellung und Nutzung einer Typologie ist es unerlässlich, dass man sich mit impliziten und expliziten Bewertungen, methodischen Fragen der möglichst partizipativen Erstellung sowie auch mit den politischen Gefahren insbesondere einer abwertenden Typologisierung von Bevölkerungsgruppen auseinandersetzt.
2 Die Typologie als Ordnungsschema
Oftmals werden in der Literatur die Begriffe Typologie und Klassifikation synonym verwendet oder sie werden zumindest nicht deutlich voneinander abgegrenzt. Dies ist insofern unbefriedigend, als beide Ordnungsschemata unterschiedlich funktionieren und daher unterschiedlich zu bewerten sind. Gerade in der Unterscheidung voneinander kann das Besondere von Typologie einerseits und Klassifikation andererseits herausgearbeitet werden (Schönig 2019). Hierzu wird im Folgenden ein Ansatz vorgestellt. In diesem Sinne der Abgrenzung konstatiert Herzog, dass Nähe (analog: Ähnlichkeit) und Ganzheitlichkeit (analog: innerer Sinnzusammenhang) die Hauptmerkmale einer Typologie sind:
„Typologien gruppieren Entitäten oder Ereignisse nach ihrer Ähnlichkeit […] Typologische Merkmale kommen den ‚typischen‘ Vertretern einer Klasse zu, die ‚atypischen‘ können sich unter Umständen in verschiedener Hinsicht davon unterscheiden. […]
Typologien beanspruchen Ganzheitlichkeit. […] Für einen Typus genügt daher nicht, wenn Merkmale lediglich korrelativ verbunden sind; vielmehr müssen sie notwendigerweise zusammengehören. […] Merkmale lassen sich beliebig klassifizieren, typisch werden sie erst, wenn sie einen theoretisch oder logisch begründeten Zusammenhang aufweisen“ (Herzog 2003, S. 389 f.; Hervorhebungen im Original).
Durch die Begriffe der Nähe/Ähnlichkeit und der Ganzheitlichkeit/​sinnhaften Verbindung von Merkmalen sind Typologien und Klassifikationen (mit deren Fokus auf Vollständigkeit und Eindeutigkeit) klar zu unterscheiden. Darüber hinaus gibt es eine wichtige Unterscheidung nach Einzeltypen und Gruppen.
2.1 Zwei Definitionsvarianten
2.1.1 Typus als Prototyp
Der Typusbegriff wird in mehrfacher Weise verwendet. Erstens bezeichnet der Begriff Typ (synonym: Typus) ein reales Einzelphänomen, einen Prototyp, d.h. aus etymologischer Sicht
„durch die einer bestimmten Gruppe von Personen oder Dingen gemeinsamen, für diese Gruppe charakteristischen wesentlichen Merkmale gekennzeichnete Erscheinungsform einer Person, eines Einzeldinges, Grundform, Urgestalt. […] Entlehnung (Ende 16. Jh.) vom lat. typus ‚Figur, Bild‘. […] Typologie für ‚Lehre von den Typen, systematische Einteilung nach Typen‘ (1. Hälfte 20. Jh.)“ (Pfeiffer 1995, S. 1478 f.).
Die obige Definition betont, dass der Typus eine reale „Erscheinungsform einer Person, eines Einzeldinges, Grundform, Urgestalt“ ist. Diese Erscheinungsform, d.h. diese reale Person, dieses reale Ding und dieses reale Phänomen ist dadurch gekennzeichnet, dass sich in ihr/ihm die „charakteristischen wesentlichen Merkmale“ wiederfinden, „die einer bestimmten Gruppe von Personen oder Dingen“ gemeinsam sind. Der Typus ist demnach – dies sei ausdrücklich betont – nicht abstrakt, sondern konkret, real und gleichzeitig repräsentativ, da er ein allgemeineres Phänomen repräsentiert.
Reale Typen in diesem Sinne werden auch als Prototypen bezeichnet. Prototypen bezeichnen konkrete Einzelfälle, die für einen Typus repräsentativ sind, weil sie mit ihm in idealer Weise übereinstimmen und ihn selbst geprägt haben. Sie besitzen erheblichen didaktischen Wert zur Veranschaulichung und sind sorgfältig auszuwählen, damit ihre Funktion nicht verunklart wird (Kluge 1999, S. 58–85). Folgende Beispiele mögen dies illustrieren:
- Die Maßnahmenkarriere von Frau Schmitz ist prototypisch/repräsentativ für den Typus der „administrativ gescheiterten Beschäftigungsförderung“. Dessen problematischer Ablauf lässt sich auch in anderen Fällen beobachten, bei Frau Schmitz jedoch in besonders klarer Ausprägung.
- Seit Jahren gilt die Stadt Haßloch bei Bad Dürkheim in Rheinland-Pfalz als repräsentativ für Deutschland und dies z.B. bei politischen Wahlen oder auch als Testmarkt für Produkte und Einzelhandelskonzepte. Haßloch ist also prototypisch für eine deutsche Stadt – analoge Prototypen gibt es in anderen Ländern. Andere deutsche Städte (Berlin, Münster, Lübeck) repräsentieren andere Städtetypen, denen nicht selten auch medial Denkmäler gesetzt werden (Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“, „Münster-Tatort“, Thomas Manns „Lübeck als geistige Lebensform“).
- Mahatma Gandhi prägte den Typus des gewaltfreien Politikers, der erfolgreich sein Hauptziel, die Befreiung Indiens, verfolgte. Angela Merkel repräsentiert den Typus der Amtsinhaberin, Willy Brandt den des Staatsmanns.
- Lionel Messi ist der Prototyp des kleinen, flinken, dribbelstarken Fußballstürmers; Mohammed Ali derjenige des tänzelnden Zerstörers im Boxsport.
- Der sogenannte „Wolfsmann“ steht nach Sigmund Freuds Fallbeschreibung prototypisch für einen Fall infantiler Neurose.
- Deutschland gilt nach Esping-Andersen als repräsentativ für den Typus des konservativ-korporatistischen Sozialstaats, Schweden hingegen repräsentiert den sozialdemokratischen Typ.
Die Beispiele zeigen, dass der Typusbegriff im etymologischen Sinne dem Begriff des Prototypus entspricht. Es handelt sich hierbei um „Urbild, Grundform, Original“ (Pfeiffer 1995, S. 1052) eines Phänomens. Andere konkrete Phänomene mögen dem Prototypus mehr oder weniger ähnlich sein und können ihm zugeordnet werden. So bildet ein konkreter Prototyp gleichsam ein Zentrum (mehrere Prototypen können mehrere Zentren bilden), dem andere konkrete Fälle mehr oder weniger gut zugeordnet werden können.
2.1.2 Typus als Gruppe
Die zweite Verwendungsart des Typusbegriffes bezieht sich auf Untergruppen, die als Typus bezeichnet werden, wenn diese durch gemeinsame Merkmale beschrieben werden können:
„Mit dem Begriff des Typus werden die gebildeten Teil- oder Untergruppen bezeichnet, die gemeinsame Eigenschaften aufweisen und anhand der spezifischen Konstellation dieser Eigenschaften beschrieben und charakterisiert werden können.
[…] Entsprechend besteht jeder Typus (1.) aus einer Kombination von Merkmalen, wobei jedoch zwischen den einzelnen Merkmalsausprägungen nicht nur empirische Regelmäßigkeiten (Kausaladäquanz), sondern (2.) auch inhaltliche Sinnzusammenhänge (Sinnadäquanz) bestehen sollten“ (Kluge 2000, S. 2; Hervorhebungen im Original; Kluge 1999, S. 26 ff.; in diesem Sinne bereits Hempel und Oppenheim 1936, S. 85).
Typen sind in diesem zweiten Verständnis keine realen Einzelfälle, sondern konstruierte „Teil- und Untergruppen“, welche auf ein konkretes Ziel und Problem hin erstellt werden und deren Konstruktion einer inneren Logik folgt. Schon Weber (1921) hat daher sowohl die Kausal- als auch die Sinnadäquanz als konstituierend für eine Typologie angesehen, da die Typen sowohl empirisch fundiert als auch sinnvoll sein müssen, damit sie z.B. das Handeln von Personen aufzeigen können.
2.1.3 Schematische Darstellung
Beide Verwendungsarten des Typusbegriffes – der Fall und die Gruppe – werden im folgenden Schema zusammengeführt. Ausgangspunkt der Typologie sind ein oder mehrere einzelne, herausgehobene Fälle, seien sie nun real oder konstruiert. Diese herausgehobenen Fälle werden in einen zweidimensionalen Merkmalsraum eingetragen (Lehmann 2025).
Der nächste Schritt besteht darin, die übrigen Fälle zuzuordnen und sie in konzentrische Kreise einzutragen, die in unterschiedlicher Distanz zu den herausgehobenen Fällen gezeichnet sind. Diese Kreise entsprechen den Teil- und Untergruppen.

Die herausgehobenen Fälle – sie mögen, wie oben erläutert, reale Fälle oder aber Konstruktionen sein – sind in ihrer Herausgehobenheit eine Setzung seitens der Forschung und ihre zentrale Stellung ist daher nicht naturgegeben. Im Beispielschema wurden als herausgehobene Fälle B und K jene beiden Fälle ausgewählt, die zentral in der Verteilung liegen. Aus dieser Setzung ergaben sich dann die weiteren Zuordnungen. Man erkennt:
- Als ausgezeichnete Fälle sind B und K hervorgehoben.
- Im inneren Kreis von B liegen die Fälle D, F und J; im inneren Kreis von K liegt nur Fall N. Alle diese Fälle können ihrem Typus recht gut zugeordnet werden, da sie sich nur geringfügig von ihm unterscheiden.
- Die Fälle A und C bzw. C, E und L befinden sich zu ihren Typen in dessen äußeren Kreis, können diesen aber noch zugeordnet werden.
- Der Fall C nimmt eine Sonderstellung ein, da er für beide zentrale Fälle B und K im äußeren Kreis liegt. Er ist mithin nicht klar zuzuordnen, obgleich er in der Abbildung eine leichte Tendenz in Richtung B zeigt.
- In der schematischen Darstellung gibt es zudem Fälle, die von der Typologie nicht erfasst werden (M, G und I).
Alternativ können auch die Extremfälle am Rande der Verteilung als herausgehobene Fälle definiert werden, woraus sich eine andere Zuordnung ergäbe. Es liegt auf der Hand, dass a) die Auswahl der relevanten Merkmale und b) die Definition der herausgehobenen Fälle jeweils normativen Gehalt haben. Die folgende Abbildung zeigt eine alternative Typologie mit derselben Fallbasis.

Setzt man die vier extremen Fälle A, E, M und G als herausgehobene Fälle der Typologie, so zeigt sich ein völlig verändertes Bild, bei dem die zentralen Fälle des ersten Beispiels B und K nur noch marginal zugeordnet werden. Auf einen Blick scheint dieselbe Verteilung mit einer anderen Typologie zerstreuter und dispers. Allerdings folgt sie lediglich einem anderen Erkenntnisinteresse, der hier nun in einem Fokus auf Extremfälle besteht. In einem dritten Schaubild sind beide Typologien zusammengefasst.

Das zusammengefasste Schaubild zeigt deutlich, dass die Typologie hier eine Grenze überschritten hat und nicht mehr anschaulich ist. Sie ist mit nun sechs ausgezeichneten Fällen zum einen unübersichtlich, da die Vielzahl der Kreise Auge und Geist verwirrt. Zum anderen ist nun kein einziger Fall mehr ohne Zuordnung, d.h. erst hier deckt die Typologie alle erfassten Fälle ab. Mit dieser vollständigen Abdeckung aller Fälle verfehlt jedoch die Typologie ihr eigentliches Ziel, die Fälle anschaulich und ihrem inneren Sinne zu ordnen.
Mit gutem Grund hat in der Forschungspraxis kaum eine Typologie mehr als sechs herausgehobene Fälle, höchstens werden zusätzliche Untertypen gebildet. Bei einer größeren Zahl von Obertypen verliert die Typologie bald an Anschaulichkeit, zumal die Obertypen ja selbst recht komplex sind und in ihrem inneren Sinnzusammenhang erfasst werden sollten. Anschaulichkeit und Abdeckung sind nicht gleichzeitig zu maximieren.
So ist bei der Entscheidung für eine günstige Zahl von ausgezeichneten Fällen eine Abwägung zwischen Anschaulichkeit und Abdeckung der Fallgesamtheit vorzunehmen. Zum Teil hat dies mit dem Anteil ausgezeichneter Fälle an der Fallgesamtheit zu tun (im Beispiel 14 %, 25 % bzw. 42 %), zum anderen Teil mit der Lage dieser Fälle im Merkmalsraum. Die Typologie ist dann besonders anschaulich, wenn Kausal- und Sinnadäquanz gegeben sind, die sich ergebende Streuung gering ist und sich die Fälle eng um die ausgezeichneten Fälle gruppieren.
Ein weiterer Hinweis ist hier zum Verständnis der Typologie notwendig: Auch wenn in den Abbildungen klare Kreislinien gezeichnet sind, welche das Zentrum von einem inneren und den inneren von einem äußeren Kreis trennen, so sind doch in einer Typologie die Übergänge fließend und statt Kreislinien können auch andere Formen eingesetzt werden. Die Kreislinien sind lediglich als Hilfslinien gedacht, um mögliche Gruppentypen zu veranschaulichen.
2.2 Innerer Sinnzusammenhang, Chancen und Gefahren
Insbesondere aufgrund der bereits von Max Weber (1921) erkannten Besonderheit, in Typen Sinnzusammenhänge zu repräsentieren, eignen sich Typologien für die sozialwissenschaftliche Forschung, um an ihnen allgemeinere Zusammenhänge und Prozesse deutlich zu machen. Dabei ist es zu verschmerzen, dass keine absolut klaren Abgrenzungen möglich sind – bedeutsam sind die Sinnzusammenhänge, die durch Typen repräsentiert werden.
Im Typus treffen sich daher die singulären Besonderheiten einer einzelnen Person, eines konkreten Falles oder eines speziellen Dinges mit den allgemeinen, abstrahierenden, die reale Ausprägung übersteigenden, empirischen und durch einen Sinn verbundenen Merkmalen, welche in Summe Grundlage der Zuordnung sind. Die Typologie hat dabei insbesondere festzulegen
- Welches die Merkmale sind, welche die Grundlage der Ordnung bilden,
- Wie diese Merkmale abgestuft sind, welche Ausprägungen also erfasst werden und
- Welche Merkmalskombination schließlich als Typus bezeichnet wird.
Ist dies getan, so ergibt sich im Umkehrschluss, welche konkreten Einzelphänomene keinem Typus zugeordnet werden können, daher als Restmenge aufgefasst und meist nicht näher behandelt werden. Auch hierin zeigt die Typologie ihren normativen Gehalt: Sie bewertet, was dem inneren Sinne nach wesentlich ist und sie definiert Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit.
Daher ist bereits im Wesen der Typologie eine grundlegende Frage und Kritik angelegt, nämlich jene nach der Legitimität und den Folgen der Typologisierung. Sind hier die naturwissenschaftlichen Typologien von chemischen Elementen, Pflanzen und Tieren noch unproblematisch, so können Typologien von Personen fatale (z.B. in der Rassenlehre) oder zumindest weitreichende Folgen haben (z.B. medizinische Diagnose oder auch Falltypen in der Sozialen Arbeit), insbesondere dann, wenn an diese Typologien standardisierte Handlungsverfahren geknüpft sind.
Obgleich die Falltypologie prima facie banal erscheinen mag, so birgt sie doch bei näherer Analyse ein breites Feld an offenen Fragen und strittigen Punkten, an Chancen und auch Gefahren. Will man mit der Typologie ein didaktisches Ziel erreichen, den Sinnzusammenhang der Merkmalskombinationen zu verdeutlichen, so sollte man sich der Gefahren typologischen Arbeitens immer und von Anfang an bewusst sein.
Insbesondere im Kontext des qualitativen Forschungsparadigmas werden seit einiger Zeit häufiger und zunehmend regelmäßig Typologien entwickelt. Diese sind dann zum einen greifbares Hauptergebnis z.B. einer Dissertation oder eines anderen Forschungsprojektes, bei dem die untersuchten Fälle anderen herausgehobenen Fällen zugeordnet, durch einen inneren Sinnzusammenhang beschrieben und dadurch letztlich auch für Handlungskonzepte der Sozialen Arbeit und Maßnahmen der Sozialpolitik handhabbar werden.
Typologien sind daher in sehr unterschiedlichen Kontexten zu finden und werden in der Sozialen Arbeit breit rezipiert. Angefangen z.B. bei der betriebswirtschaftlichen Unternehmensmorphologie (welche für die Sozialwirtschaft von grundlegender Bedeutung ist), über die soziologischen Sinus-Milieus (welche in der Ehrenamtsforschung und der interkulturellen Arbeit genutzt werden) und Haushaltsforschung bis hin zu verschiedenen Typologien in der Jugend- und Wohnungslosenhilfe und der Armutsforschung ließe sich eine Vielzahl von Beispielen nennen.
3 Typologien als Brückenkonzepte zur Sozialpolitik
Die vorstehenden Ausführungen haben deutlich gemacht, dass Typologien politisch relevant sind und dass hierbei die Chancen einer rationalen Sozialpolitik den Gefahren unzulässig zuschreibender Klischees von Bevölkerungsgruppen gegenüberstehen. Typologien in der Sozialpolitik sind daher immer vorsichtig, pragmatisch und als Ausdruck einer humanistischen Haltung einzusetzen.
Besonders betont sei, dass das Ordnen der sozialen Welt und ihrer sozialen Probleme in Falltypen als eine „Theorie mittlerer Reichweite“ zwischen der Sozialen Arbeit und der Sozialpolitik vermitteln kann. Diese Theorien sind ein Konzept, um „konzeptionell den Graben zwischen Grundlagen und angewandter Forschung zu überbrücken“ (Neun 2017, S. 94). Damit bewegt sich der Forschungsprozess insgesamt „between the stratosphere of global abstraction and the underground of thick description“ (Tilly 2010, S. 55).
Theorien mittlerer Reichweite sollten daher von den Sozialwissenschaften bevorzugt angestrebt werden (Merton 1995, S. 3–8; Priester 2011, S. 187). Diese Theorien entstehen aus der Empirie heraus. Sie beginnen mit einer einfachen Idee und ordnen den empirischen Befund zu einem Ordnungsschema.
Eben dieser geordnete theoretische Befund ist das Brückenkonzept zwischen der Sozialen Arbeit und der Sozialpolitik und dies im Guten wie im Schlechten: Im Guten liegt die Stärke der Typologien darin, dass sie von der Wissenschaft und Praxis der Sozialen Arbeit als fundiert und anschaulich akzeptiert und genutzt werden. Gleichzeitig werden sie auch von den Akteur:innen der Sozialpolitik aufgrund ihrer Anschaulichkeit und Fundierung hoch geschätzt. Angesichts der Renaissance des Erzählens von Geschichten unterschiedlicher Art (story telling), welches insbesondere die Nutzer:innen- und Adressat:innenperspektive und ihren inneren Sinnzusammenhang rekonstruiert, sind Typologien ein zunehmend akzeptiertes und verbreitetes Ordnungsschema. Der Wert solcher Brückenkonzepte ist für beide Seiten als hoch zu veranschlagen. Groß sind allerdings auch die Risiken, wenn Typologien zugespitzt und diskriminierend eingesetzt werden und wenn sie als „frozen organizational and policy discourse“ (Bowker und Star 2000, S. 135, vgl. 135–148 und S. 293–317) darüber hinaus zu Klischees erstarrt sind.
Neuere Diskurse in der Sozialpolitik und der Sozialen Arbeit – man denke nur an die Intersektionalität, partizipative Forschung und generell den wachsenden Widerstand gegen Fremdzuschreibungen – befassen sich in immer neuen Facetten mit dem Dilemma zwischen Chancen und Gefahren der Typologisierung sozialer Problemlagen. Die Typologie ist einerseits notwendig zur Ordnung der sozialen Welt, sie ist andererseits gefährlich, da sie als Herrschaftsinstrument missbraucht werden kann.
Für die praktische Nutzung der Typologien bedeutet dies, dass sie immer nur vorübergehend und mit Revisionsmöglichkeit und generell nur kritisch, d.h. mit wachem Blick auf explizite und implizite Bewertungen, den Partizipationsgrad in der Forschungsmethode und auch ihr Potenzial in konflikthaften Diskursen genutzt werden sollten (Schönig 2019, S. 205–213).
4 Quellenangaben
Bowker, Geoffrey C. und Susan Leigh Star, 2000. Sorting Things Out: Classification and its Consequences. Cambridge: MIT Press. ISBN 978-0-262-52295-3
Hempel, Carl G. und Paul Oppenheim, 1936. Der Typusbegriff im Lichte der neuen Logik: Wissenschaftstheoretische Untersuchungen zur Konstitutionsforschung und Psychologie. Leiden: A. W. Sijthoff’s Uitgeversmaatschappij
Herzog, Walter, 2003. Zwischen Gesetz und Fall. Mutmaßungen über Typologien als pädagogische Wissensform. In: Zeitschrift für Pädagogik. 49(3), S. 383–399. ISSN 0044-3247
Kluge, Susann, 1999. Empirisch begründete Typenbildung: Zur Konstruktion von Typen und Typologien in der qualitativen Sozialforschung. Opladen: Leske und Budrich. ISBN 978-3-8100-2264-6
Kluge, Susann, 2000. Empirisch begründete Typenbildung in der qualitativen Sozialforschung. In: Forum Qualitative Sozialforschung [online]. 1(1), Art. 14 [Zugriff am: 21.01.2025]. ISSN 1438-5627. doi:10.17169/​fqs-1.1.1124
Lehmann, Christian, 2025. Typologie versus Klassifikation [online]. Erfurt: Christian Lehmann [Zugriff am: 07.02.2025]. Verfügbar unter: https://www.christianlehmann.eu/ling/typ/typ_vs_klasse.php
Merton, Robert K., 1995. Soziologische Theorie und soziale Struktur. Berlin: De Gruyter. ISBN 978-3-11-013022-5
Neun, Oliver, 2017. Die ‚Dualität‘ der Wissenschaft: Robert K. Merton und die Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens. In: Soziale Welt. 68(1), S. 87–101. ISSN 0038-6073
Pfeiffer, Wolfgang, 1995. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. München: Deutscher Taschenbuchverlag. ISBN 978-3-423-03358-9
Priester, Karin, 2011. Definitionen und Typologien des Populismus. In: Soziale Welt. 62(2), S. 185–198. ISSN 0038-6073
Schönig, Werner, 2019. Typologie und Klassifikation in Sozialer Arbeit und Sozialpolitik: Ambivalenz und kritische Nutzung von Ordnungsschemata sozialer Probleme. Baden-Baden: Nomos. ISBN 978-3-8487-6052-7 [Rezension bei socialnet]
Tilly, Charles, 2010. Mechanisms of the Middle Range. In: Craig Calhoun, Hrsg. Robert K. Merton. Sociology of Science and Sociology as Science. New York: Columbia University Press, S. 54–62. ISBN 978-0-231-15112-2
Weber, Max, 1972 [1921] Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriß der verstehenden Soziologie. 5. Auflage. Tübingen: Mohr
Verfasst von
Prof. Dr. Werner Schönig
Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen, Köln
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