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Verhaltensprävention

Prof. Dr. Alfons Hollederer

veröffentlicht am 23.01.2025

Englisch: behavioural prevention

Verhaltensprävention zielt darauf ab, das Gesundheitsverhalten und die Risikoverhaltensweisen von Einzelpersonen oder Gruppen zu verbessern.

Überblick

  1. 1 Begriffsbestimmung
  2. 2 Vermeidbare Mortalität als Präventionsindikator
  3. 3 Präventionsstrategien
  4. 4 Theoretische Grundlagen
  5. 5 Präventionsansätze
  6. 6 Verhaltensbezogene Prävention in Deutschland als Aufgabe der GKV
  7. 7 Gesundheitsförderung als Ergänzung
  8. 8 Qualität und Evidenzbasierung
  9. 9 Quellenangaben

1 Begriffsbestimmung

Die Verhaltensprävention ist ein individuumsorientierter Handlungsansatz der Krankheitsprävention (Papenkort 2019) und zielt darauf, das Gesundheitsverhalten positiv zu beeinflussen. Im Gegensatz zur Verhältnisprävention (Hollederer 2025) richtet sich die Intervention auf Einzelpersonen oder Personengruppen und die Veränderung von Verhaltensweisen, respektive Bewegungs-, Ernährungs-, Sucht-, Sexual-, Stress- oder Entspannungsverhalten. Der Hintergrund ist, dass beispielsweise schädlicher Alkoholkonsum, Tabakkonsum, Übergewicht und Bewegungsmangel als Risikofaktoren für die Entstehung von vielen nichtübertragbaren Erkrankungen identifiziert wurden (WHO 2013).

2 Vermeidbare Mortalität als Präventionsindikator

Nach dem OECD-Gesundheitsbericht für Deutschland betrug die vorzeitige Sterblichkeit, die überwiegend durch Maßnahmen der Primärprävention hätte vermieden werden können, 157 Todesfälle pro 100.000 Einwohner im Jahr 2021 (OECD und European Observatory on Health Systems and Policies 2023, S. 11). Über die Hälfte dieser vermeidbaren Todesfälle wurden durch die vier Todesursachen Lungenkrebs, alkoholbedingte Krankheiten, ischämische Herzerkrankungen und chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD) verursacht.

3 Präventionsstrategien

Die am weitesten verbreitete Präventionsstrategie ist die Informationsvermittlung und gesundheitliche Aufklärung. Ihr liegt die Annahme zugrunde, dass ein verbessertes Wissen über das Gesundheitsverhalten und dessen Konsequenzen zu Einstellungs- und Verhaltensänderungen führt. Mitunter beinhaltet diese Präventionsstrategie auch Komponenten der Abschreckung oder Furchtappelle.

Viele Aufklärungskonzepte basierten in der Vergangenheit auf dem Health Belief Model (Modell der Gesundheitsüberzeugungen) von Becker (1974), das die wahrgenommene Bedrohung durch Krankheiten fokussierte. Das Modell geht davon aus, dass das menschliche Handeln rational bestimmt ist und sich aus dem subjektiven Ausmaß der Bedrohung aufgrund der wahrgenommenen Krankheitsanfälligkeit und des Schweregrads sowie der Ergebniserwartung in der Kosten-Nutzen-Bilanz ableitet. Die Empirie zeigt jedoch, dass Information und Abschreckung selten ausreichen, um signifikante Verhaltensänderungen zu bewirken (z.B. Thomas et al. 2015). Das Health Belief Model kam in die Kritik und es wurde eine Reihe von weiteren elaborierten theoretischen Modellen für die Prognose von Gesundheitshandeln entwickelt.

4 Theoretische Grundlagen

Finne et al. (2021) geben einen Überblick über die wichtigsten Erklärungs- und Veränderungsmodelle, die als grundlegende Progammtheorien in der Verhaltensprävention dienen können (Gohres et al. 2021). Dazu zählen unter anderem die Theorie des geplanten Verhaltens (Ajzen 1991), die Sozial-kognitive Theorie (Bandura 1991) und das Transtheoretische Modell der Verhaltensänderung (Prochaska und DiClemente 1983). Konstrukte wie die Selbstwirksamkeitserwartungen, Selbstregulation und Motivationsprozesse rückten in den Fokus der Aufmerksamkeit (Schwarzer 2004).

5 Präventionsansätze

Maßnahmen der Verhaltensprävention setzen in der Praxis an Wissen, Einstellungen und Verhaltensweisen an. Sie können krankheitsspezifisch oder universell konzipiert werden. Sie sind häufig als komplexe Intervention und in Kombination mit der Verhältnisprävention (Hollederer 2025) angelegt. Sie orientieren sich zumeist an lebenslaufbezogenen Konzepten oder adressieren vulnerable Zielgruppen (Hurrelmann et al. 2024). Die Modifikation von riskanten Verhaltensweisen ist prinzipiell nicht nur in der Primärprävention, sondern auch in der Sekundär- und Tertiärprävention indiziert (Franzkowiak 2022). Als ein Beispiel für Sekundärprävention sei hier die Tabakentwöhnung genannt (Hartmann-Boyce et al. 2021).

6 Verhaltensbezogene Prävention in Deutschland als Aufgabe der GKV

In Deutschland sieht § 20 Abs. 4 SGB V (Sozialgesetzbuch Fünftes Buch) explizit „Leistungen zur verhaltensbezogenen Prävention“ als Aufgabe der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) vor. Die individuelle verhaltensbezogene Primärprävention wird in der Regel in Form von Präventionskursen in Gruppen umgesetzt. Nach dem Präventionsbericht des GKV-Spitzenverbands (2024) wurden insgesamt 1.294.193 Kursteilnahmen im Berichtsjahr 2022 finanziert. Die Handlungsfelder und Prinzipien dieser individuellen verhaltensbezogenen Primärprävention sind im Leitfaden Prävention des GKV-Spitzenverbands (2024, S. 52) wie folgt zusammengefasst:

  1. Bewegungsgewohnheiten:
    1. Reduzierung von Bewegungsmangel durch gesundheitssportliche Aktivität
    2. Vorbeugung und Reduzierung spezieller gesundheitlicher Risiken durch geeignete verhaltens- und gesundheitsorientierte Bewegungsprogramme
  2. Ernährung:
    1. Vermeidung von Mangel- und Fehlernährung
    2. Vermeidung und Reduktion von Übergewicht
  3. Stress und Ressourcenmanagement:
    1. Multimodales Stress- und Ressourcenmanagement
    2. Förderung von Entspannung und Erholung
  4. Suchtmittelkonsum:
    1. Förderung des Nichtrauchens
    2. Risikoarmer Umgang mit Alkohol/​Reduzierung des Alkoholkonsums

7 Gesundheitsförderung als Ergänzung

Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung können sich in der Umsetzung gut ergänzen. Nach der Ottawa Charta der Gesundheitsförderung (WHO 1986) zielt Gesundheitsförderung „auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen“. Eines der Handlungsfelder der Gesundheitsförderung ist, die persönlichen Kompetenzen zu entwickeln (WHO 1986). Als Handlungsprinzipien sind Empowerment und Partizipation wesentlich. Die Gesundheitsförderung richtet sich auf die Schutzfaktoren und ist ressourcen- und alltagsorientiert (Simon 2020). In der salutogenetischen Perspektive zählen zu subjektbezogenen Konzepten die Verbesserung der Stressbewältigung und die Steigerung des Kohärenzgefühls (Faltermaier 2023). Eine geeignete Umsetzungsstrategie ist auch die Gesundheitsförderung durch Gesundheitsberatung (Faltermaier 2023).

8 Qualität und Evidenzbasierung

Zwei zentrale Kritikpunkte im wissenschaftlichen Diskurs betreffen die Qualität der Präventionspraxis (Kolip 2022) und ihre Evidenzbasierung (De Bock und Rehfuess 2021). Zur Sicherung der Planungs-, Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität ist im Allgemeinen empfohlen, sich konzeptionell am Public Health Action Cycle (Hartung und Rosenbrock 2022; Kolip 2022) zu orientieren. Wie die stark zugenommene Zahl an Reviews und Metaanalysen zu Präventionsthemen in der Cochrane Database of Systematic Reviews (www.cochranelibrary.com/) belegt, hat sich die Evidenzbasierung in der Prävention inzwischen international gesteigert. Die Effektgrößen der verhaltenspräventiven Interventionsansätze sind jedoch in der Regel eher gering bis moderat. Die Translation von der Wissenschaft in die Praxis ist weiterhin verbesserungsbedürftig. In Deutschland stellt die „Grüne Liste Prävention – die Empfehlungsliste evaluierter Präventionsprogramme“ eine ausgezeichnete Datenbank mit evidenzbasierten Präventionsprogrammen im Kinder- und Jugendbereich dar, die auch gezielt nach Risiko- und Schutzfaktoren recherchiert werden können (https://www.gruene-liste-praevention.de). Nahezu alle Programme dieser Grüne Liste Prävention sind dem Bereich der Verhaltensprävention zuzuordnen.

9 Quellenangaben

Ajzen, Icek, 1991. The theory of planned behavior. In: Organizational Behavior and Human Decision Processes [online]. 50(2), S. 179–211 [Zugriff am: 20.01.2025]. ISSN 1095-9920. doi:10.1016/0749-5978(91)90020-T

Bandura, Albert, 1991. Social cognitive theory of self-regulation. In: Organizational Behavior and Human Decision Processes [online]. Volume 50(2), S. 248–287 [Zugriff am: 20.01.2025]. ISSN 1095-9920. doi:10.1016/0749-5978(91)90022-L

Becker, Marshall H., 1974. The Health Belief Model and Sick Role Behavior. In: Health Education Monographs [online]. 2(4), S. 409–419 [Zugriff am: 20.01.2025]. ISSN 1552-6127. doi:10.1177/109019817400200407

De Bock, Freia und Eva Rehfuess, 2021. Mehr Evidenzbasierung in Prävention und Gesundheitsförderung: Kriterien für evidenzbasierte Maßnahmen und notwendige organisationale Rahmenbedingungen und Kapazitäten. In: Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz [online]. 64, S. 524–533 [Zugriff am: 20.01.2025]. ISSN 1437-1588. doi:10.1007/s00103-021-03320-1

Faltermaier, Toni, 2023. Gesundheitspsychologie [online]. 3., aktualisierte Auflage. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer. ISBN 978-3-17-041182-1 [Rezension bei socialnet]

Finne, Emily, Hannah Gohres und Annette C. Seibt, 2021. Erklärungs- und Veränderungsmodelle 1: Einstellungs- und Verhaltensänderung. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), Hrsg. Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden [online]. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 12.10.2021 [Zugriff am: 14.10.2024]. doi:10.17623/BZGA:Q4-i012-2.0

Franzkowiak, Peter, 2022. Prävention und Krankheitsprävention. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), Hrsg. Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden [online]. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 14.03.2022 [Zugriff am: 14.10.2024]. doi:10.17623/BZGA:Q4-i091-3.0

GKV-Spitzenverband, Hrsg., 2024. Leitfaden Prävention. Handlungsfelder und Kriterien nach § 20 Abs. 2 SGB V zur Umsetzung der §§ 20, 20a und 20b SGB V vom 21. Juni 2000 in der Fassung vom 19. Dezember 2024 [online]. Berlin: GKV-Spitzenverband [Zugriff am: 21.01.2025]. Verfügbar unter: https://www.gkv-spitzenverband.de/media/​dokumente/​krankenversicherung_1/​praevention__selbsthilfe__beratung/​praevention/​praevention_leitfaden/​2024-12-19_GKV-Leitfaden_Praevention_barrierefrei.pdf

Gohres, Hannah, Emily Finne und Annette C. Seibt, 2021. Erklärungs- und Veränderungsmodelle 2: Theoriebasierte Interventionsplanung. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), Hrsg. Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden [online]. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 14.10.2021 [Zugriff am: 14.10.2024]. doi:10.17623/BZGA:Q4-i013-2.0

Hartmann-Boyce, Jamie, Jonathan Livingstone-Banks, José M. Ordóñez-Mena, Thomas R. Fanshawe, Nicola Lindson, Suzanne C. Freeman, Alex J. Sutton, Annika Theodoulou und Paul Aveyard, 2021. Behavioural interventions for smoking cessation: an overview and network meta-analysis. In: Cochrane Database Syst Rev. [online]. 4(1), CD013229 [Zugriff am: 20.01.2025]. doi:10.1002/14651858.CD013229.pub2

Hartung, Susanne und Rolf Rosenbrock, 2022. Public Health Action Cycle/​Gesundheitspolitischer Aktionszyklus. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), Hrsg. Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden [online]. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 06.01.2022 [Zugriff am: 14.10.2024]. doi:10.17623/BZGA:Q4-i099-2.0

Hollederer, Alfons, 2025. Verhältnisprävention [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 23.01.2025 [Zugriff am: 23.01.2025]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/​21905

Hurrelmann, Klaus, Matthias Richter und Stephanie Stock, 2024. Referenzwerk Prävention und Gesundheitsförderung: Grundlagen, Konzepte und Umsetzungsstrategien. 6., überarb. u. erw. Auflage. Bern: Hogrefe. ISBN 978-3-456-86350-4

Kolip, Petra, 2022. Qualitätssicherung, Qualitätsentwicklung, Qualitätsmanagement. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), Hrsg. Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden [online]. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 04.04.2022 [Zugriff am: 14.10.2024]. doi:10.17623/BZGA:Q4-i100-2.0

OECD und European Observatory on Health Systems and Policies, 2023. Deutschland: Länderprofil Gesundheit 2023 [online]. PAris: OECD Publishing [Zugriff am: 20.01.2025]. doi:10.1787/7fd88e75-de

Papenkort, Ulrich, 2019. Prävention [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 19.06.2019 [Zugriff am: 10.10.2024]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/843

Prochaska, James O. und Carlo DiClemente, 1983. Stages and processes of self-change of smoking: toward an integrative model of change. In: Journal of Consulting and Clinical Psychology [online]. 51(3), S. 390–395 [Zugriff am: 20.01.2025]. doi:10.1037//0022-006x.51.3.390

Schwarzer, Ralf, 2004. Psychologie des Gesundheitsverhaltens: Einführung in die Gesundheitspsychologie. 3., überarb. Auflage. Göttingen: Hogrefe. ISBN 978-3-8017-1816-9 [Rezension bei socialnet]

Simon, Toni, 2020. Gesundheitsförderung [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 02.04.2020 [Zugriff am: 10.10.2024]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/508

Thomas, Roger E., Julie McLellan und Rafael Perera, 2015. Effectiveness of school-based smoking prevention curricula: systematic review and meta-analysis. In: BMJ Open [online]. 5(3), e006976 [Zugriff am: 20.01.2025]. ISSN 2044-6055. doi:10.1136/bmjopen-2014-006976

World Health Organization (WHO), 1986. The Ottawa Charter for Health Promotion [online]. Geneva: WHO [Zugriff am: 06.10.2024]. Verfügbar unter: https://www.who.int/teams/​health-promotion/​enhanced-wellbeing/​first-global-conference

World Health Organization (WHO), 2013. Global action plan for the prevention and control of noncommunicable diseases 2013–2020 [online]. Copenhagen: WHO [Zugriff am: 06.10.2024]. PDF e-Book. ISBN 978-9-24-150623-6. Verfügbar unter: https://iris.who.int/handle/​10665/​94384

Verfasst von
Prof. Dr. Alfons Hollederer
Universität Kassel
Fachbereich 01 Humanwissenschaften
Institut für Sozialwesen
Professur Theorie und Empirie des Gesundheitswesens
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Es gibt 3 Lexikonartikel von Alfons Hollederer.

Zitiervorschlag
Hollederer, Alfons, 2025. Verhaltensprävention [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 23.01.2025 [Zugriff am: 23.01.2025]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/21893

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