Vorläufige Inobhutnahme
Lennart Scholz, Johanna Karpenstein
veröffentlicht am 07.11.2024
Unter der vorläufigen Inobhutnahme versteht man die der Inobhutnahme vorgeschaltete Schutz- und Unterbringungsmaßnahme durch das Jugendamt für Kinder und Jugendliche, die aus dem Ausland unbegleitet, d.h. nicht in Begleitung eines Personensorgeberechtigten oder Erziehungsberechtigten, in Deutschland einreisen.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Hintergrund
- 3 Behördliche Alterseinschätzung
- 4 Prüfung der örtlichen Zuständigkeit und Verteilverfahren
- 5 Notvertretung (Klage/​Rechtsschutz)
- 6 Beginn und Ende der vorläufigen Inobhutnahme
- 7 Quellenangaben
1 Zusammenfassung
Meldet sich ein:e unbegleitete:r Minderjährige:r nach der Einreise selbst oder wird aufgegriffen, muss er/sie vor Ort durch das Jugendamt vorläufig in Obhut genommen werden (§ 88a Abs. 1 SGB VIII i.V.m. § 42a Abs. 1 SGB VIII). Als unbegleitete:r Minderjährige:r gilt gemäß Kapitel 1, Artikel 2e der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates
„der [sic!] ohne Begleitung eines für ihn nach dem Recht oder nach den Gepflogenheiten des betreffenden Mitgliedstaats verantwortlichen Erwachsenen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einreist, solange er sich nicht tatsächlich in der Obhut eines solchen Erwachsenen befindet; dies schließt einen Minderjährigen ein, der nach Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats dort ohne Begleitung zurückgelassen wird; (…)“ (Europäische Union 2013)
Die unbegleitete Einreise ist mithin gekennzeichnet durch die Abwesenheit von Personensorge- und Erziehungsberechtigten. Im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme ist nun jeglicher Zweifel über die Minderjährigkeit auszuräumen (§ 42f SGB VIII). Kann also nicht ausgeschlossen werden, dass jemand unbegleitet und minderjährig ist, muss das örtliche Jugendamt diese Person vorläufig in Obhut nehmen. Es erfolgt im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme das „behördliche Verfahren zur Altersfeststellung“ nach § 42f SGB VIII, wonach bei begründeten Zweifeln an der Selbstauskunft und bei Nichtvorliegen aussagekräftiger Ausweispapiere, das Alter nach einem vorgegebenen Verfahren geschätzt wird (§ 42f SGB VIII).
Während der vorläufigen Inobhutnahme muss das Jugendamt für das Wohl der Minderjährigen sorgen, diese geeignet unterbringen, den notwendigen Unterhalt und die Krankenhilfe sicherstellen sowie ggf. nach Angehörigen suchen. Die Unterbringung durch das Jugendamt muss in einer Einrichtung, bei einer geeigneten Person oder in einer sonstigen Wohnform erfolgen. Mit einer „sonstigen Wohnform“ ist nach Wiesner (2022, Rn 23b) eine sonstige betreute Wohnform im Sinne des SGB VIII gemeint. Eine Aufnahmeeinrichtung oder eine Gemeinschaftsunterkunft sind keine Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und können es auch nicht werden, da gesetzlich festgelegt ist, dass die im § 45 SGB VIII geregelte und erforderliche Erlaubnis zum Betrieb einer Kinder-und Jugendhilfeeinrichtung gemäß § 44 Abs. 3 AsylG nicht für diesen Einrichtungstyp gilt (allg. zur Frage nach der Rechtmäßigkeit pauschaler Standardabsenkung bei Inobhutnahme und Hilfegewährung für geflüchtete unbegleitete Minderjährige González Méndez de Vigo und Endres de Oliveira 2024). Das Jugendamt ist außerdem berechtigt und verpflichtet, alle Rechtshandlungen vorzunehmen, die zum Wohl der Minderjährigen notwendig sind (Notvertretung gem. § 42a Abs. 3 SGB VIII). Ferner erfolgt im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit für die sich anschließende Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII. Dies erfolgt über die Prüfung, ob die Minderjährigen zum bundesweiten Verteilverfahren angemeldet werden oder nicht (§ 42a Abs. 2 S. 2 SGB VIII).
Mit Einführung der vorläufigen Inobhutnahme wurde der staatliche Schutzauftrag gegenüber unbegleiteten Minderjährigen explizit gemacht und somit der Vorrang der Jugendhilfe und ihre vollumfängliche Zuständigkeit für die jungen geflüchteten Menschen geregelt. Dies wie auch die dezidierte Kindeswohlprüfung im Verteilverfahren und etwa die Berücksichtigung von Fluchtverbünden und Verwandtenbeziehungen ermöglichen eine individuelle Bedarfsprüfung im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme für die jungen Menschen. Diese wird jedoch durch die äußerst kurzen Fristen, wie in § 42 a SGB VIII geregelt, in der Praxis erschwert. Zugleich sind die jungen Menschen im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme direkt nach Ankunft in Deutschland konfrontiert mit den jeweils komplexen und für ihre Zukunft maßgeblichen Verfahren der Alterseinschätzung. Eine unabhängige rechtliche Vertretung ist durch die Notvertretungsregelung nicht gegeben.
2 Hintergrund
Hintergrund der Einführung der vorläufigen Inobhutnahme war die Einführung eines bundesweiten Verteilverfahrens unbegleiteter Minderjähriger. Das „Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher“ wurde im Kontext stark angestiegener Einreisezahlen (Statistisches Bundesamt 2023) in einem beschleunigten Gesetzgebungsverfahren beschlossen und trat vorzeitig zum 1. November 2015 in Kraft.
Ziel dieses sogenannten Umverteilungsgesetzes war in erster Linie eine Entlastung von grenznahen Jugendämtern oder solchen an Hauptreiserouten, deren Aufnahmekapazitäten angesichts gestiegener Einreisezahlen von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (umF) an ihre Grenzen gekommen waren (Deutscher Bundestag 2018, S. 7). Ziel war es, einen Lastenausgleich zwischen den Bundesländern über „ein landesinternes und bundesweites Verteilungsverfahren, das sich an den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen orientiert“ (ebd.) zu schaffen. Zugleich wurde durch die Einführung der vorläufigen Inobhutnahme in das SGB VIII das sogenannte Primat der Kinder- und Jugendhilfe gestärkt. In Bezug auf unbegleitete Minderjährige wurde bereits 2005 mit dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe (KICK), festgelegt, dass gemäß § 42 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII bei diesen regelmäßig von einer Kindeswohlgefährdung auszugehen ist, wenn sie nicht durch eine erziehungs- oder sorgeberechtigte Person begleitet werden und sich im Bundesgebiet auch keine solche Person aufhält (KICK, BGBl. I Nr. 57, S. 2732). Daraus folgte zwar eine Primärzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe für die Identifizierung, d.h. Alterseinschätzung, Unterbringung und Erstversorgung, explizit rechtlich verankert wurde dies allerdings erst mit der Einführung der vorläufigen Inobhutnahme.
3 Behördliche Alterseinschätzung
Zweifel an der Minderjährigkeit müssen im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme durch das Jugendamt im „behördlichen Verfahren zur Altersfeststellung“ nach § 42f SGB VIII ausgeräumt werden. Da das European Asylum Support Office 2018 in einem Praxisleitfaden zum Thema hervorhebt, dass es
„bisher […] keine Methode zur Altersbestimmung [gibt], die genaue Ergebnisse bezüglich des chronologischen Alters einer Person erbringen kann“ und „daher […] die Ausdrücke ‚Altersbestimmung‘ oder ‚Altersschätzung‘ dem Begriff ‚Altersfeststellung‘ vorzuziehen“ (European Asylum Support Office 2018, S. 38)
sind, wird im Folgenden der Begriff Alterseinschätzung zur Beschreibung des Verfahrens gewählt.
§ 42f SGB VIII sieht für die konkrete Einschätzung des Alters eine bestimmte Rangfolge vor:
Zunächst ist die Minderjährigkeit durch Einsichtnahme in die Ausweispapiere festzustellen (§ 42 f. Abs. 1 S. 1 Alt. 1 SGB VIII). Im Kontext Flucht liegen Identitätspapiere oft nicht in der Form hiesiger Standards vor, daher betrifft die Norm nicht nur Ausweispapiere im herkömmlichen Sinne (Kirchhoff 2018, Rn. 20). Die eingereichten Unterlagen müssen allerdings eine hinreichende Gewissheit für die sachliche Richtigkeit der enthaltenen Angaben, insbesondere bzgl. des Geburtsdatums, aufweisen (VG München, vom 02.05.2016, Az. M 18 E 16.1267). Der fehlende Beweiswert existierender Ausweispapiere darf weder zum Nachteil für die betroffene Person werden noch zur Bedingung der vorläufigen Aufnahme führen (Trenczek 2022, Rn. 5). Vielmehr erlangt die Selbstauskunft in dem Kontext eine zentrale Bedeutung (Primat der Selbstauskunft); sie darf nur in begründeten Ausnahmefällen angezweifelt werden (Loos 2015, Rn. 6). Ein widersprüchlicher Vortrag allein reicht per se nicht aus, um Zweifel an der Aussage bzw. der Minderjährigkeit zu begründen. Dem jungen Menschen muss zudem die Möglichkeit geschaffen werden, eine Person seines Vertrauens zu benachrichtigen und hinzuzuziehen. Die Anwesenheit der Person des Vertrauens im Verfahren ist zu gestatten (§ 42f Abs. 1 S. 2 SGB VIII i.V.m. § 42 Abs. 2 S. 2 SGB VIII)
Wenn auch die Selbstauskunft bestehende Zweifel nicht ausräumt, die Norm hilfsweise die Durchführung der qualifizierten Inaugenscheinnahme vor. Maßgeblich für die qualifizierte Inaugenscheinnahme ist die Würdigung des Gesamteindrucks (Deutscher Bundestag 2015, S. 20). Berücksichtigung findet neben dem äußeren Erscheinungsbild auch die im Gespräch gewonnenen Informationen zum Entwicklungsstand sowie weitere Auskünfte und relevante Informationen. In den Handlungsempfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter, auf die in der Gesetzesbegründung Bezug genommen wird (Deutscher Bundestag 2015, S. 92), sind für dieses an biografischen Ereignissen orientierten Inaugenscheinnahmegespräch grundlegende Verfahrensstandards festgehalten; hierzu zählt etwa die Einhaltung des 4-Augen-Prinzips und geeignete Dolmetschung. Widersprüche rechtfertigen noch nicht die Schlussfolgerung einer falschen Altersangabe (Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter 2020).
Die Fachkräfte entscheiden in diesem Kontext über die Frage der Minderjährigkeit oder offensichtlichen Volljährigkeit, mithin also nicht über ein konkretes Alter/​Geburtsdatum. Das in diesem Rahmen gefundene Ergebnis sowie die vorgenommene Gesamtwürdigung müssen in nachvollziehbarer und überprüfbarer Weise dokumentiert und in ihren einzelnen Begründungsschritten transparent sein.
Der junge Mensch ist in das Verfahren einzubeziehen. Er ist vom Jugendamt über die Vornahme der Alterseinschätzung, die Methode der Alterseinschätzung sowie über die möglichen Folgen der Alterseinschätzung und die Folgen einer Verweigerung der Mitwirkung bei der Sachverhaltsermittlung umfassend zu informieren und über seine Rechte aufzuklären. Es ist zudem sicherzustellen, dass diese Informationen der ausländischen Person in einer ihr verständlichen Sprache mitgeteilt werden. Zudem ist der ausländischen Person die Möglichkeit zu geben, eine Person ihres Vertrauens zu benachrichtigen (Deutscher Bundestag 2015).
Besteht nach der qualifizierten Inaugenscheinnahme eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen der Minderjährigkeit, ändern auch Restzweifel an der Selbstauskunft nichts daran, dass dann von Minderjährigkeit ausgegangen werden kann. Können bestehende Zweifel hingegen weder in die eine Richtung noch in die andere ausgeräumt werden, so hat das Jugendamt eine ärztliche Untersuchung zum Zweck der Alterseinschätzung zu veranlassen. Voraussetzung einer ordnungsgemäß eingeleiteten medizinischen Untersuchung zum Zweck der Alterseinschätzung ist eine umfassende Aufklärung des jungen Menschen und seiner gesetzlichen Vertretung über die konkreten Untersuchungsmethoden sowie Folgen der Alterseinschätzung (§ 42f Abs. 2 SGB VIII), um eine wirksame Einwilligung zu ermöglichen (§ 42f Abs. 2 S. 2 SGB VIII).
Wird eine ärztliche Untersuchung veranlasst, so ist sie „[…] mit den schonendsten und soweit möglich zuverlässigsten Methoden von qualifizierten medizinischen Fachkräften durchzuführen. Dies schließt beispielsweise Genitaluntersuchungen aus“ (Deutscher Bundestag 2015, S. 19).
Auch im Rahmen der medizinischen Alterseinschätzung handelt es sich nur um eine Schätzung, da das Alter einer Person aktuell nicht eindeutig und verlässlich ermittelt werden kann (Huesmann 2021).
„Festgestellt“ werden kann bei Fehlen von Identitätspapieren daher immer nur ein Altersbereich, innerhalb dessen die Festsetzung eines fiktiven Alters erfolgt. Im bekannten Geburtsjahr ist sodann immer vom spätesten Geburtstag, also dem 31.12. auszugehen (§ 12 VwVfG [Verwaltungsverfahrensgesetz]). Fiktive Geburtsdaten datiert auf den 1.1. widersprechen dem Minderjährigenschutz und sind daher zu korrigieren (BVerwG, vom 31.07.1984, Az. 9 C 156.83).
4 Prüfung der örtlichen Zuständigkeit und Verteilverfahren
Kern der vorläufigen Inobhutnahme ist die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit für die sich anschließende Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII. Dies erfolgt über die Prüfung, ob die Minderjährigen zum bundesweiten Verteilverfahren angemeldet werden oder nicht (§ 42a Abs. 2 S. 2 SGB VIII). Erfolgt eine Anmeldung, wird die örtliche Zuständigkeit anhand eines zweistufigen Verfahrens ermittelt. In einer ersten Stufe wird das aufnahmeverpflichtete Bundesland anhand einer Quote durch das Bundesverwaltungsamt bestimmt. In einem zweiten Schritt weist die dort zuständige Landesstelle die örtliche Zuständigkeit einem konkreten Jugendamt zu (§ 42b SGB VIII). Werden die Minderjährigen nicht zum Verteilverfahren angemeldet, verbleibt die örtliche Zuständigkeit beim vorläufig in Obhut nehmenden Jugendamt (§ 88a Abs. 2 S. 2 SGB VIII).
Die Entscheidung, ob Minderjährige zum bundesweiten Verteilverfahren angemeldet werden, ergibt sich aus der gesetzlich vorgegebenen Prüfung des Kindeswohls gemäß der Kriterien nach § 42a Abs. 2 SGB VIII. Zu beantworten sind hier folgende Fragen:
- Würde das Wohl des/der Minderjährigen mit der Durchführung des Verteilverfahrens gefährdet?
- Halten sich verwandte Personen im Inland oder einem anderen EU-Mitgliedstaat auf, und ist eine kurzfristige Zusammenführung mit diesen möglich?
- Schließt der Gesundheitszustand des/der Minderjährigen die Durchführung des Verteilverfahrens innerhalb von 14 Werktagen nach Beginn der vorläufigen Inobhutnahme aus?
- Liegt der Beginn der vorläufigen Inobhutnahme mehr als einen Monat zurück?
Wird eines dieser Kriterien bejaht, ist die Anmeldung zum Verteilverfahren ausgeschlossen (§ 42b Abs. 4 SGB VIII). Halten sich Geschwister oder andere unbegleitete geflüchtete Kinder oder Jugendliche zusammen mit den Minderjährigen auf, und macht das Wohl der Minderjährigen eine gemeinsame anschließende Inobhutnahme erforderlich, so ist auch dies im Rahmen der Zuständigkeitsbestimmung zu beachten (§ 42a Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII).
Die Minderjährigen sind bei der Prüfung angemessen zu beteiligen sowie der mutmaßliche Wille der Personen- oder der Erziehungsberechtigten zu berücksichtigen (§ 42a Abs. 3 S. 2 SGB VIII). Sprechen keine Gründe gegen die Anmeldung zur Verteilung, hat das Jugendamt den/die Minderjährige/n innerhalb von sieben Werktagen bei der zuständigen Landesstelle anzumelden (§ 42a Abs. 4 SGB VIII). Da das gesamte Verteilverfahren letztlich dem Wohl und der besseren Unterbringung und Versorgung der Minderjährigen dienen soll, ist von der Verteilung abzusehen, wenn sich die Minderjährigen nachhaltig dagegen verweigern. Die Anwendung von Zwang ist unzulässig (Trenczek und Behlert 2020).
Ein nicht zuständiges Jugendamt kann aus Gründen des Kindeswohls jederzeit die örtliche Zuständigkeit übernehmen (§ 88a Abs. 2 S. 3 SGB VIII). Dies ist für solche Fälle wichtig, in denen durch das vorgegebene Verfahren Kindeswohlaspekte, wie bspw. eine Familienzusammenführung oder die gemeinsame Inobhutnahme von Geschwistern unberücksichtigt bleiben (§ 88a Abs. 2 S. 3 SGB VIII).
5 Notvertretung (Klage/​Rechtsschutz)
Während der vorläufigen Inobhutnahme ist „das Jugendamt […] berechtigt und verpflichtet, alle Rechtshandlungen vorzunehmen, die zum Wohl des Kindes oder des Jugendlichen notwendig sind. Dabei ist das Kind oder der Jugendliche zu beteiligen und der mutmaßliche Wille der Personen- oder der Erziehungsberechtigten angemessen zu berücksichtigen“ (§ 42a Abs. 3 S. 1 u. 2 SGB VIII). Diese Notvertretung durch das Jugendamt, welches zugleich über Alter und Verteilung entscheidet, konstituiert eine dem Minderjährigenschutz zuwiderlaufende Interessenkollision (Klaus et al. 2020, S. 16 f.; auch Wiesinger 2024). Die im April 2024 ergangene Entscheidung des VGH Mannheim, nach der während der vorläufigen Inobhutnahme eine unabhängige Interessenvertretung bestellt werden muss, weil die Alterseinschätzung eine „Schlüsselfunktion“ hat, da gerade durch sie entschieden wird, ob die UN-Kinderrechtskonvention angewandt wird, hat in der Praxis noch keine Wirkung entfalten können. Eine Umsetzung erscheint aber dringend geboten (VGH Baden-Württemberg, vom 19.04.2024, Az. 12 S 77/24).
Möglichkeiten der Beschwerde und die Durchführung eines Rechtsmittelverfahrens gegen die Verteilung und Zuweisung bleibt für die jungen Menschen mangels einer unabhängigen rechtlichen Vertretung faktisch und rechtlich ausgeschlossen (Sundermeyer und Karpenstein 2024, S. 33). In der Praxis erweisen sich die gesetzlich festgeschrieben engen Fristen bis zur Verteilentscheidung zudem als schwer umsetzbar (ebd.).
Im Rahmen der Notvertretung kann das Jugendamt unter Umständen auch die unverzügliche Stellung eines Asylantrags veranlassen, wenn Tatsachen vorliegen, die die Annahme rechtfertigen, dass der junge Mensch internationalen Schutz benötigt, die persönliche Situation der:des Minderjährigen die Stellung des Asylantrages zu diesem Zeitpunkt zulässt und eine asylrechtliche Einzelfallprüfung unter Beteiligung des jungen Menschen erfolgt. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, besteht nach § 42 Abs. 2 Satz 5 SGB VIII keine Pflicht des Jugendamtes zur unverzüglichen Asylantragstellung (González Méndez de Vigo 2017).
Kommt es unter Verletzung der Rechte der Minderjährigen zur Verteilungsanmeldung, kann dagegen mit einer Klage zzgl. eines Antrag im einstweiligen Rechtschutzverfahren vorgegangen werden (§ 42b Abs. 7 SGB VIII, § 36 SGB I). Klagebefugt sind dabei das jeweilige Bundesland, die betroffene Gebietskörperschaft sowie die Minderjährigen selbst. In der Praxis wurden hier unter Beteiligung der Landesverteilstellen und der betroffenen Jugendämter auch einvernehmliche Lösungen gefunden.
6 Beginn und Ende der vorläufigen Inobhutnahme
Mit unbegleiteter minderjähriger Einreise ist der junge Mensch vorläufig in Obhut zu nehmen. Was den Zeitpunkt des Beginns der vorläufigen Inobhutnahme betrifft, handhaben die Jugendämter es nach einem Bundesverwaltungsgerichtsurteil (BVerwG 5 C. 11.17, Urteil vom 26. April 2018) grundsätzlich so, dass die Monatsfrist des § 42b Abs. 4 Nr. 4 SGB VIII erst mit der Feststellung der Minderjährigkeit zu laufen beginnt. Das Jugendamt, welches die vorläufige Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII durchgeführt hat, muss die Meldung an die Landesverteilstelle zwar innerhalb der gesetzlichen Fristen vornehmen, sollte jedoch ggf. darauf hinweisen, dass das Alterseinschätzungsverfahren zum Zeitpunkt der Meldung noch nicht abgeschlossen ist und das Ergebnis sobald vorliegend melden. Sofern die Minderjährigkeit danach nicht ausgeschlossen wird, erfolgt ggf. eine Verteilung nach § 42b Abs. 3 SGB VIII. Hieraus resultiert in der Praxis, dass Jugendliche, insbesondere wenn eine medizinische Untersuchung durch das Jugendamt veranlasst wird, häufig deutlich länger als einen Monat vorläufig in Obhut genommen werden können bevor sie verteilt werden.
Die vorläufige Inobhutnahme endet laut § 42 a (6) SGB VIII mit der Übergabe des Kindes oder des Jugendlichen an die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten oder an das aufgrund der Zuweisungsentscheidung zuständige Jugendamt oder mit der Anzeige über den Ausschluss des Verteilungsverfahrens.
7 Quellenangaben
Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter, 2020. Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten Minderjährigen. Verteilungsverfahren, Maßnahmen der Jugendhilfe und Clearingverfahren [online]. Hildesheim: Niedersächsisches Landesamt für Soziales, Jugend und Familie [Zugriff am: 15.08.2024]. Verfügbar unter: https://soziales.niedersachsen.de/download/​201861/​Handlungs-_empfehlungen_zum_Umgang_mt_unbegleiteten_minderjaehrigen_Fluechtlingen.pdf
Deutscher Bundestag, 2015. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (13. Ausschuss). Drucksache 18/6392 [online]. Berlin: Deutscher Bundestag [Zugriff am: 15.08.2024]. Verfügbar unter: https://dserver.bundestag.de/btd/18/063/1806392.pdf
Deutscher Bundestag, 2018. Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht über die Situation unbegleiteter ausländischer Minderjähriger in Deutschland. Drucksache 19/4517 [online]. Berlin: Deutscher Bundestag [Zugriff am: 15.08.2024]. Verfügbar unter: https://www.bmfsfj.de/resource/blob/130272/​e9956dd8980b11dc5bedf0e81d2112c4/​uma-bericht-data.pdf
Europäische Union, 2013. Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlements und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen. RICHTLINIE 2013/33/EU. In: Amtsblatt der Europäischen Union [online]. [Zugriff am: 16.08.2024]. Verfügbar unter: https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/​LexUriServ.do?uri=OJ:L:2013:180:0096:0116:DE:PDF
European Asylum Support Office, 2018. EASO-Praxisleitfaden für die Altersbestimmung [online]. Hg. v. Europäische Union. Luxemburg [Zugriff am: 15.08.2024]. PDF e-Book. ISBN 978-92-9476-091-3. Verfügbar unter: https://euaa.europa.eu/sites/​default/​files/​EASO-Practical-Guide-on-Age-Assessment-2018_DE.pdf
González Méndez de Vigo, Nerea, 2017. Hinweise zur Umsetzung von § 42 Abs. 2 Satz 5 SGB VIII – Verpflichtung der Jugendämter zur Asylantragstellung [online]. Berlin: Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge e.V. [Zugriff am: 15.08.2024]. Verfügbar unter: https://b-umf.de/src/wp-content/​uploads/2019/07/2017_hinweise-zur-verpflichtung-der-jugendaemter-zur-asylantragstellung.pdf
González Méndez de Vigo, Nerea und Pauline Endres de Oliveira, 2024. Kinder- und Jugendhilfe in der Krise. Zur Frage der Rechtmäßigkeit pauschaler Standardabsenkung bei (vorläufiger) Inobhutnahme und Hilfegewährung für geflüchtete unbegleitete Minderjährige. In: Forum Erziehungshilfen. 30(2), S. 84–88. ISSN 0947-8957
Huesmann, Marius Leander, 2021. Ethische Aspekte der medizinischen Altersschätzung bei unbegleiteten minderjährigen Migrantinnen und Migranten [Dissertation]. Göttingen: Georg-August-Universität. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. ISBN 978-3-658-37765-6
Kirchhoff, Guido, 2018. § 42 f. In: Ernst-Wilhelm Luthe, Gabriele Nellissen, Rainer Schlegel und Thomas Voelzke, Hrsg. juris PraxisKommentar SGB [online]. 2. Auflage, Stand der Online-Freigabe: 15.07.2018. Saarbrücken: Juris
Klaus, Tobias, Nerea González Méndez de Vigo und Johanna Karpenstein, 2020. Das Verteilverfahren bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Bericht anlässlich der Evaluation des Gesetzes zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher [online]. Berlin: Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge e.V. [Zugriff am: 15.08.2024]. Verfügbar unter: https://b-umf.de/src/wp-content/​uploads/2021/08/das-verteilverfahren-bei-unbegleiteten-minderjahrigen-fluchtlingen.pdf
Loos, Claus, 2015. § 42 f. In: Reinhard Wiesner, Hrsg. SGB VIII Kinder-und Jugendhilfe Kommentar. 5. Auflage. München: C.H. Beck. ISBN 978-3-406-66634-6 [Rezension bei socialnet]
Statistisches Bundesamt, 2023. Vorläufige Schutzmaßnahmen für Kinder und Jugendliche: Deutschland, Jahre, Anlass der Maßnahme, Geschlecht [online]. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt [Zugriff am: 15.08.2024]. Verfügbar unter: https://www-genesis.destatis.de/genesis/​online?sequenz=tabelleErgebnis&selectionname=22523-0001#abreadcrumb
Sundermeyer, Helen und Johanna Karpenstein, 2024. Die Situation geflüchteter junger Menschen in Deutschland [online]. Berlin: Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge e.V. [Zugriff am: 15.08.2024]. Verfügbar unter: https://b-umf.de/src/wp-content/​uploads/2024/06/online-umfrage-2023-2.pdf
Trenczek, Thomas, 2022. § 42 f. In: Johannes Münder und Thomas Meysen, Hrsg. Frankfurter Kommentar SGB VIII: Kinder-und Jugendhilfe. 9. vollständig überarbeitete Auflage. Baden-Baden: Nomos. ISBN 978-3-8487-7192-9 [Rezension bei socialnet]
Trenczek, Thomas und Wolfgang Behlert, 2020. Stellungnahme zur Verwaltungsanweisung des Amts für Soziale Dienste Bremen zur Anwendung von unmittelbarem Zwang im Verfahren zur Verteilung unbegleiteter minderjähriger Ausländer*innen [online]. Berlin: Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge e.V. [Zugriff am: 16.08.2024]. Verfügbar unter: https://b-umf.de/src/wp-content/​uploads/2020/03/unzulaessigkeit-der-anwendung-von-zwangsmitteln-bei-der-verteilung-nach-c2a7-42b-sgb-viii_stellungnahme-trenczek-behlert.pdf
Wiesinger, Irmela, 2024. Die qualifizierte Inaugenscheinnahme (§ 42f SGB VIII). Willkürakt oder fachlich fundierte Entscheidung? In: Das Jugendamt. 97(2), S. 59–66. ISSN 1867-6723
Wiesner, Reinhard, 2022. § 42. In: Johannes Münder und Thomas Meysen, Hrsg. Frankfurter Kommentar SGB VIII: Kinder- und Jugendhilfe. 9. vollständig überarbeitete Auflage. Baden-Baden: Nomos. ISBN 978-3-8487-7192-9 [Rezension bei socialnet]
Verfasst von
Lennart Scholz
Mailformular
Johanna Karpenstein
Mailformular
Es gibt 1 Lexikonartikel von Lennart Scholz.
Es gibt 1 Lexikonartikel von Johanna Karpenstein.
Zitiervorschlag
Scholz, Lennart und Johanna Karpenstein,
2024.
Vorläufige Inobhutnahme [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 07.11.2024 [Zugriff am: 16.03.2025].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/28024
Link zur jeweils aktuellsten Version: https://www.socialnet.de/lexikon/Vorlaeufige-Inobhutnahme
Urheberrecht
Dieser Lexikonartikel ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion des Lexikons für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.