Vorurteilsbewusste Pädagogik
Dr. Oliver Trisch
veröffentlicht am 07.08.2019
Vorurteilsbewusste Pädagogik kann als ein Sammelbegriff für pädagogische Ansätze und Konzepte verstanden werden, die darauf zielen, Vorurteile als Mittel der Reflexion zu nutzen und davon ausgehen, dass Vorurteile nicht in ihrer Gänze abgebaut werden können. Eine allgemein gültige Definition und das „eine“ Konzept existieren nicht.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Vorurteile im Kontext von Machtverhältnissen und Diskriminierung
- 3 Kritischer Umgang mit Vorurteilen in der Praxis
- 4 Quellenangaben
1 Zusammenfassung
Bei Vorurteilen handelt es sich um Bilder über andere Personen als Angehörige von bestimmten Gruppen. Diese sind mit einer (meist negativen) Bewertung verbunden und können ein bestimmtes Verhalten nahelegen. Vorurteile sind immer im Kontext von strukturellen Bedingungen und gesellschaftlichen Prozessen zu betrachten. Vorurteile erfüllen verschiedene Funktionen wie beispielsweise „Orientierung bieten“, „Komplexitätsreduzierung“ oder „Machterhalt“. Vor diesem Hintergrund sind in der Pädagogik meist die Entwicklung einer vorurteilsbewussten Haltung und daran anschließend ein diskriminierungsfreies Handeln die angestrebten Ziele. Eine grundsätzliche Vorurteilsfreiheit ist aus dieser Perspektive – auch trotz der zur Verfügung stehenden Informationen gegenüber (einzelnen) Vorurteilen – nicht möglich.
Die verschiedenen Ansätze und Konzepte richten sich an alle Alters- und Berufsgruppen, haben jedoch einen Schwerpunkt in der Frühpädagogik (Kleinkindpädagogik), der außerschulischen Bildungsarbeit sowie der Erwachsenenbildung.
2 Vorurteile im Kontext von Machtverhältnissen und Diskriminierung
2.1 Begriffliche Irreführungen
Der Begriff Vorurteil kann bisweilen in die Irre führen. Er legt nahe, dass es sich um vor(läufige) Urteile handele, die sich durch einen Zuwachs an Kenntnissen oder die Begegnung mit den Vorurteilsobjekten berichtigen oder relativieren ließen. Problematisch sind daran zwei Aspekte. Erstens suggeriert der Begriff – als scheinbar falsches oder fehlerhaftes (Vor-)Urteil – die Existenz eines „richtigen“ Urteils. Zweitens legt er nahe „Vorurteilsobjekte“ (wie etwa die Deutschen, die Türken oder die Frauen) als unhinterfragt gegebene Tatsache anzusehen, und blendet damit deren begriffliche Konstruktion, die Hervorbringung in Diskursen sowie die spezifischen Situationen vollständig aus (Kalpaka 2003, S. 59). Nicht nur die Gruppeneinteilung, sondern genauso die Vorurteile werden im Kontext der gesellschaftlichen Realität häufig gar nicht als Vorurteile wahrgenommen, sondern vielmehr als „normale“ einleuchtende Erklärungen der Wirklichkeit oder Erkenntnisse über andere Gruppen, die nicht der machtvollen Mehrheitsgruppe angehören.
2.2 Individualpsychologische Betrachtungen
Mittlerweile kann auf eine reiche Forschung zum Thema zurückgriffen werden. Insbesondere aus der individualpsychologischen Forschung und Theoriebildung heraus wurden bisher viele aussagekräftige Erkenntnisse über die Zusammenhänge von kognitiven und emotionalen Aspekten bei der Vorurteilsbildung und ihre vielfältigen Funktionen für das Individuum erarbeitet und belegt (etwa Sir Peter Ustinov Institut 2007).
Daneben haben zahlreiche Forschungen auf der Basis eines konflikttheoretischen Ansatzes auf die Bedeutung von Konkurrenzsituationen zwischen einzelnen Gruppen für die Entstehung von Bedrohungsgefühlen und Vorurteilen hingewiesen (etwa Sherif 1967). Diese Annahme wurde zudem erweitert durch Forschungsergebnisse, welche identitätsbildende Gruppenprozesse an sich als Erklärung für die Abwertung von Fremdgruppen betonen (etwa Tajfel 1982). Weitere Erklärungen liefern lerntheoretische Ansätze, auf die weiter unten ausführlicher eingegangen wird.
Insgesamt stehen sich im wissenschaftlichen Diskurs heute verschiedene Erklärungsansätze gegenüber, die zum Teil durchaus widersprüchlich zueinander stehen und keine einheitliche Theorie darstellen. Jede Disziplin hat wertvolle Erkenntnisse zu einem Gesamtverständnis beizutragen, die es bei der Annäherung mit einzubeziehen gilt.
2.3 Individualisierung eines komplexen Phänomens
Häufig lässt sich in Forschung und Bildungsarbeit jedoch ein grundlegender Fokus auf innerpsychische Mechanismen und Intergruppenprozesse feststellen, womit die Gefahr einer Individualisierung des überaus komplexen Phänomens einhergeht. Insbesondere wenn es um die Entwicklung einer wirksamen Herangehensweise an die Problematik geht, führt eine Ausblendung des kontextuellen Rahmens und des institutionellen und politischen Kontextes, innerhalb dessen Vorurteile entstehen und verstärkt werden, zu einer unzureichenden Wahrnehmung des Problems. Individualisierende Ansätze stellen die „Arbeit am Individuum, dessen Haltungen und Einstellungen verändert werden müssen“ in den Mittelpunkt (Leiprecht 2003, S. 30). Der oder die Einzelne wird im weitesten Sinne allein verantwortlich gemacht für ihre bzw. seine „Bilder“ und Einstellungen. Diese sind vom Standpunkt der Personen aus von den strukturellen Verhältnissen, unter denen sie leben, allerdings nicht zu trennen (siehe auch Osterkamp 1996, S. 95). Um eine Individualisierung zu vermeiden, wird vielerorts auf die Notwendigkeit verwiesen, die politisch-rechtlichen Rahmenbedingungen nicht aus den Augen zu verlieren, die den gesellschaftlichen Kontext mitbestimmen, innerhalb dessen Vorurteile erlernt und geäußert sowie Handlungen erklärt oder gerechtfertigt werden (u.a. Markefka 1995, S. 137).
2.4 Erlernen von Vorurteilen
Vorurteile basieren eher zu einem geringen Anteil auf individuellen Erfahrungen. Im Gegenteil: Ein intensiver Kontakt zu den Vorurteilsobjekten muss nicht vorhanden sein, um stabile Vorurteile auszubilden. Stattdessen wird zunehmend der Prozess des Erlernens von Vorurteilen innerhalb des Sozialisationsprozesses in den Blick genommen.
Es muss davon ausgegangen werden, dass Kinder schon in sehr frühem Alter Vorurteile erlernen. Seit den 1920er Jahren wird darüber geforscht, wie Kinder Unterschiede wahrnehmen und wie sie ihrem Alter entsprechend Einstellungen und Haltungen gegenüber diesen entwickeln (York 2003; Van Ausdale und Feagin 2002). Es wird angenommen, dass Kinder wahrgenommene Unterschiede und Bewertungen in ihr Spiel mit einbeziehen. „Sie übernehmen dabei nicht 1:1, was Erwachsene sagen, aber sie experimentieren mit einem Argumentationsmuster, das Vorurteile kennzeichnet: Ein Merkmal wird bewertet, für die ganze Person genommen und ‚begründet‘ ihre Sonderbehandlung oder ihren Ausschluss. Zeigen Kinder solche Vor-Vorurteile, so sind Erwachsene aufgefordert, vorurteilsbewusst einzugreifen“ (Wagner 2007, S. 3). Leider ist die Vorurteilsentwicklung bei kleinen Kindern nach wie vor ein Randthema, das noch nicht grundlegend in den Curricula – zum Beispiel der Erzieher*innen- und Lehrer*innenausbildung – implementiert ist. Vorurteile werden in einem kontinuierlichen Prozess auch im weiteren Verlauf des Lebens weiter erlernt und stabilisiert. Sie begegnen uns durch Eltern, Erzieher*innen und Lehrer*innen oder im Freundeskreis, durch die Medien und wissenschaftliche Diskurse und können durch ihre Allgegenwärtigkeit, Selbstverständlichkeit und Funktionalität sehr einfach übernommen und in das eigene Weltbild integriert werden. Die Wahrnehmung von Rollen- oder Statusunterschieden zwischen Gruppen spielt dabei eine bedeutende Rolle.
2.5 Funktionen von Vorurteilen
Bei der Auseinandersetzung mit Vorurteilen ist es zudem bedeutsam, die vielfältigen Funktionen, die sie erfüllen, im Blick zu haben. Die folgende Abbildung gibt einen Überblick über einige der zentralen Funktionen. Diese tragen nicht zuletzt auch zu der Hartnäckigkeit bei, mit der Vorurteile in dieser Welt bestehen bleiben. Vor diesem Hintergrund wird in der Antidiskriminierungsarbeit – wie zum Beispiel im Anti-Bias-Ansatz – auch von vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung gesprochen (Wagner 2017; Trisch 2013, S. 46).

2.6 Verbindung zwischen Vorurteilen, Diskriminierungsstrukturen und Praktiken
Aus der Perspektive der Antidiskriminierungsarbeit geht es darum, die Verbindung zwischen individuellen Vorurteilen und den vorherrschenden Strukturen und Praktiken von Diskriminierung innerhalb der Gesellschaft herzustellen. Dabei ist es zunächst einmal wichtig, den Blick auf das bestehende Machtverhältnis innerhalb einer Gesellschaft zu richten. Wenn wir über Vorurteile sprechen, ist es also wichtig, die Frage zu stellen, wer innerhalb der Gesellschaft über die Macht verfügt, die eigene Sichtweise tatsächlich durchzusetzen. Mit dieser Herangehensweise wird schnell deutlich, welche unterschiedlichen Auswirkungen Vorurteile – beispielsweise gegenüber Geflüchteten im Vergleich zu solchen gegenüber Bankangestellten – innerhalb einer Gesellschaft und für die Betroffenen selbst haben.
Vorurteile werden seitens der Mehrheitsgesellschaft oft als Rechtfertigungen bzw. Legitimationen dafür benutzt, dass bestimmte Gruppen als nicht gleichberechtigt von gesellschaftlichen Prozessen ausgeschlossen werden. In diesem Sinne tragen Vorurteile und darauf basierende Diskriminierungen auf der zwischenmenschlichen oder institutionellen Ebene dazu bei, machtvolle Positionen der herrschenden Gruppe/n zu erhalten. Vorurteile stellen auf diese Weise auch eine Basis für diskriminierende Verfahren und Gesetze auf der institutionellen und gesellschaftlichen Ebene dar. Die Selbstverständlichkeit, mit der Vorurteile innerhalb bestimmter Diskurse formuliert und benutzt werden, erklärt sich zudem durch die Institutionalisierung von Vorurteilen und Diskriminierung in der Gesellschaft. Viele Beispiele aus der Praxis institutioneller Diskriminierung (keine kirchliche Heirat von Schwulen und Lesben, unzureichender Zugang zu Kneipen und Diskos für Menschen im Rollstuhl, Einbürgerungstests für Muslime) untermauern die eigenen Vorurteile, dienen ihrer Rechtfertigung oder bringen sie mit hervor. Gesetze, Zeitungsmeldungen, Vorabendserien, das Schulsystem, Kindersendungen, Literatur und die Wissenschaften etwa tragen zudem dazu bei, dass die immer gleichen Bilder in unserem Alltag ihren nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Die Diskurse werden zudem in Gesprächen mit Freund*innen und Familie weitergeführt und unser vermeintliches „Wissen“ über die Anderen erhält eine permanente Bestätigung.
Hier zeichnet sich ein Kreislauf ab: Zum einen werden bestimmte Bilder und Bewertungen über andere Gruppen durch gesellschaftlich vorherrschende und institutionalisierte Sichtweisen hergestellt, bestärkt und institutionell verankert, zum anderen tragen die Haltungen und diskriminierenden Handlungen Einzelner wiederum zu deren Stabilisierung und Implementierung im Alltag und auf gesellschaftlicher Ebene bei.
Wichtig ist es, bei der Auseinandersetzung mit gesellschaftlich transportierten Vorurteilen im Kopf zu behalten, dass es sich dabei um mögliche Denkangebote und Interpretationsfolien handelt, die von Einzelnen übernommen werden können. Letztlich liegt es jedoch an den Einzelnen, inwiefern sie diese für sich nutzbar machen, sie kritisch reflektiert zurückweisen oder aufgrund eigener Erfahrungen oder Auseinandersetzungen über ganz andere Sichtweisen verfügen, die wiederum ihre Perspektive auf die Dinge beeinflussen (Leiprecht und Kerber 2005). Diese Grundeinsicht aus der Perspektive der kritischen Psychologie eröffnet verschiedene Ansatzpunkte für die Bildungsarbeit, die sich in bewusstseinsfördernder und gesellschaftsverändernder Absicht dem Thema Vorurteile nähert (Holzkamp 1983).
3 Kritischer Umgang mit Vorurteilen in der Praxis
Im Folgenden wird bespielhaft erläutert, wie angesichts der oben skizzierten Zusammenhänge eine vorurteilsbewusste Bildungsarbeit bzw. Pädagogik aussehen könnte.
3.1 Eigene Vorurteile reflektieren
Eine entscheidende Basis für eine vorurteilsbewusste Bildungsarbeit stellt die Auseinandersetzung mit eigenen Bildern und Vorurteilen und damit verknüpften Mechanismen dar. Erst ausgehend von dem Verständnis, welche Bilder die eigene Wahrnehmung beeinflussen und wie sie sich auf das eigenen Verhalten in bestimmten Situationen auswirken, kann die eigene Perspektive und das selbstverständliche Handeln konstruktiv und schrittweise verändert werden.
Hilfreich für die Auseinandersetzung ist die kritische Reflexion des eigenen beruflichen und privaten Alltags. Folgende Fragen können dabei hilfreich sein:
- Welche Vorurteile begegnen mir selbst?
- Welche Bilder und Vorurteile habe ich gegenüber anderen Gruppen?
- Inwiefern sind meine eigenen Vorurteile für mich funktional?
- Welche alltäglichen und spezifischen Verhaltensweisen könnten mit meinen Vorurteilen in Verbindung stehen?
Schritte der Veränderung gehen sich leichter mit der Unterstützung anderer. Daher ist es hilfreich, den Prozess der Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex im Rahmen eines Sensibilisierungsseminars anzugehen, welches einen Austausch untereinander und die gemeinsame Entwicklung von verändernden Handlungsweisen ermöglicht.
3.2 Machtverhältnisse im Blick behalten
(Pädagogische) Fachkräfte im Bereich der Bildungsarbeit stehen immer vor der Herausforderung, die eigene Arbeit im Spannungsfeld der vorherrschenden gesellschaftlichen Machtverhältnisse zu verstehen, die sich in allen Institutionen und Gruppen widerspiegeln und bis in die Mechanismen ihres Funktionierens wirken. Bezogen auf das Thema Vorurteile kann es hilfreich sein, diese aufzugreifen und auf ihre Verknüpfungen mit gesellschaftlich vorherrschenden Sichtweisen zu befragen. Fragen in diese Richtung können unter anderem sein:
- Welche politischen oder rechtlichen Fakten sind einem konkreten Vorurteil zuträglich?
- Wie wird dieses Thema in den Medien transportiert?
- Wie wird darüber im Alltag gesprochen?
- Wer lacht über Witze zum Thema?
3.3 Komplexe Situationen vielseitig betrachten
Gerade im (hektischen) Alltag, wo nicht selten schnelle Reaktionen verlangt werden, stellt es eine große Herausforderung dar, Situationen nicht vorschnell zu beurteilen. Dennoch ist es für einen angemessenen Umgang mit Vorurteilen wichtig, genau zu analysieren, welche Faktoren die Situation mit beeinflusst haben. Nur so kann ein differenziertes Bild von einzelnen Situationen und darin erkennbaren Mechanismen entwickelt sowie entsprechende Ansatzpunkte für verändernde Verhaltensweisen erarbeitet werden.
Für eine erste Annäherung und Einordnung einer konkreten Situation in der Diskriminierung stattgefunden hat, können folgende Fragen leitend sein:
- Welche Vorurteile oder Bilder über andere spielen in der Situation eine Rolle?
- Welche Funktionen erfüllen diese für die jeweiligen Personen?
- In welchen Machtverhältnissen stehen die Personen zueinander? Welche Machtverhältnisse sind in Bezug auf den Kontext bedeutsam?
- Wo findet konkret Diskriminierung statt? Worin äußert sich diese? Welche Folgen könnte dies haben?
- Auf welcher Ebene ist das Beispiel angesiedelt? Handelt es sich um ein Beispiel aus dem zwischenmenschlichen, institutionellen oder kulturell-gesellschaftlichen Kontext?
3.4 Angemessene Lernatmosphäre schaffen
In der Arbeit rund um das Thema Vorurteile ist es wichtig, auf Moralisierungen zu verzichten, da diese Herangehensweise eine vertiefte Auseinandersetzung eher erschwert, indem eher oberflächliche Veränderungen erzielt werden.
Um über eigene Vorurteile und ihre Begründungen sprechen zu können und einen kritischen Blick auf sich selbst zuzulassen, ist es daher zunächst bedeutsam, einen beschuldigungsfreien Raum herzustellen, in dem alle Gefühle und Perspektiven zunächst einmal ihren Platz haben. Dabei ist es sehr wichtig ein Gespür dafür zu entwickeln, wo andere Anwesende verletzt werden können und an welcher Stelle dieser Raum ausgenutzt wird, um diskriminierende Aussagen zu propagieren. Hier gilt es seitens der Leitung, klar und deutlich Position zu beziehen.
3.5 Analyse der Materialien
Einen kritischen und analytischen Blick auf Vorurteile in der Lernumgebung zu werfen, bedeutet auch, die Materialien der eigenen Einrichtung oder des Umfelds zu betrachten. Häufig finden sich in Kinderbüchern und Jugendliteratur, in Postern und Bildern an den Wänden, in Schulbüchern, in Liedtexten, Spielen, Zeitschriften und Romanen solche Vorstellungen und Bilder von Menschen, die einseitig und klischeehaft sind und mit Zuschreibungen und Abwertungen einhergehen. Die Analyse kann durchaus gemeinsam mit Kindern oder Jugendlichen, mit Lehrer*innen oder einer anderen Zielgruppe angegangen werden.
- Lassen sich stereotype oder diskriminierende Abbildungen, Äußerungen finden, welche Einzelne verletzen und bestehende Vorurteile verstärken können?
- Spiegelt sich die Vielfalt der Lebensrealitäten und Identitäten der Zielgruppe in der Lernumgebung wider?
- Lassen sich auch andere Figuren oder Bilder finden, die neue Denkmuster eröffnen?
3.6 Methoden kritisch betrachten und weiterentwickeln
In der Arbeit mit Methoden und Übungen, wie sie uns in zahlreichen Methodenkoffern, Ordnern und Büchern angepriesen werden, ist große Aufmerksamkeit gefragt. Sollen eine konstruktive Auseinandersetzung mit Vorurteilen und Veränderungen in Bezug auf Haltungen und Handlungen angeregt werden, gilt es, die ausgesuchten Übungen und Herangehensweisen kritisch daraufhin zu befragen, inwiefern sie stereotype Bilder nicht eher verstärken als in Frage zu stellen.
- Ermöglicht die Methode Anknüpfungs- und Übertragungsmöglichkeiten für die eigene Lebenswelt der Zielgruppe?
- Welche Bilder über andere Menschen transportiert die Übung?
- Inwiefern sind davon Anwesende direkt betroffen? Wie lässt sich dies vermeiden?
- Inwiefern bietet die Methode Raum, stereotype Bilder zu hinterfragen und neue Denkmöglichkeiten zu eröffnen?
- Ist überhaupt ausreichend Zeit für eine Auswertung vorgesehen?
- Ist die Herangehensweise der Übung und insbesondere die Auswertung für die Zielgruppe angemessen?
3.7 Aktiv werden
Nicht nur in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ist es wichtig, aktive und kreative Methoden zum Thema Vorurteile zu wählen und das Thema real erfahrbar zu machen für die Teilnehmenden. Eine Fotosession mit Verkleidungskiste und dem Fokus auf die Wirkung von unterschiedlicher Kleidung, ein Fotoroman zum Thema, Interviews mit Passant*innen auf der Straße oder eine Plakatkampagne; anknüpfend an aktuelle Themen in der Einrichtung, im Kiez oder einzelnen Gruppen kann gemeinsam überlegt werden, was spannende Schritte und Fragen wären.
- Welches Thema eignet sich öffentlich anzugehen?
- Gibt es ausreichend Zeit für die Vorbereitung und Nachbereitung?
- Wie ist sichergestellt, dass die Aktion in eine ausführliche Bearbeitung des Themas vor Ort eingebunden ist?
- Mit welchen Einrichtungen, Personen außerhalb des eigenen Umfelds kann sinnvoll zusammengearbeitet werden?
- Wie können die Ergebnisse sichtbar gemacht werden und vielleicht auch der Weiterarbeit zur Verfügung stehen?
- Werden die Interessen der Teilnehmenden ausreichend berücksichtigt?
3.8 Mut haben
In der Arbeit zum Thema Vorurteile ist seitens der Multiplikator*innen einiges an Mut gefragt. Es gilt, sich über die herkömmliche Art der Herangehensweise und Gestaltung von Übungen, Räumen und Aktionen hinauszuwagen, gesellschaftliche Zusammenhänge in die Arbeit mit einzubeziehen, eigene Ideen umzusetzen und ganz bewusst andere Wege zu wählen.
4 Quellenangaben
Holzkamp, Klaus,1983. Grundlegung der Psychologie. Frankfurt A. M.: Campus Verlag. ISBN 978-3-593-33572-8
Kalpaka, Anita, 2003. Stolpersteine und Edelsteine in der interkulturellen und antirassistischen Bildungsarbeit. In: Wolfram Stender, Georg Rohde und Thomas Weber, Hrsg. Interkulturelle und antirassistische Bildungsarbeit: Projekterfahrungen und theoretische Beiträge. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel, S. 56–79. ISBN 978-3-86099-317-0 [Rezension bei socialnet]
Leiprecht, Rudolf, 2003. Antirassistische Ansätze in sozialpädagogischen Arbeitsfeldern: Fallstricke, Möglichkeiten und Herausforderungen In: Wolfram Stender, Georg Rohde, Thomas Weber, Hrsg. Interkulturelle und antirassistische Bildungsarbeit: Projekterfahrungen und theoretische Beiträge. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel, S. 21–41. ISBN 978-3-86099-317-0 [Rezension bei socialnet]
Leiprecht, Rudolf und Anne Kerber, Anne 2005. Schule in der Einwanderungsgesellschaft. Schwalbach im Taunus: Wochenschau-Verlag. ISBN 978-3-87920-274-4 [Rezension bei socialnet]
Markefka, Manfred, 1995. Vorurteile Minderheiten Diskriminierung. 7. völlig veränderte und ergänzte Auflage. Neuwied U.A.: Hermann Luchterhand Verlag. ISBN 978-3-472-01935-0
Osterkamp, Ute, 1996. Rassismus als Selbstentmächtigung. Berlin; Hamburg: Argument Verlag +ariadne. ISBN 978-3-88619-244-1
Sir Peter Ustinov Institut, Hrsg., 2007. Kind und Vorurteil: Erforschung von Ursachen und Strategien. Wien: New academic press. ISBN 978-3-7003-1617-6
Sherif, Muzafer, 1967 [2015]. Group conflict and co-operation. London: Psychology Press. ISBN 978-1-138-85973-9
Tajfel, Henri, 1982. Gruppenkonflikt und Vorurteil: Entstehung und Funktion sozialer Stereotypen. Bern: Huber-Verlag. ISBN 978-3-456-81219-9
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Wagner, Petra, 2017. Handbuch Inklusion – Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung. 4. Auflage, Neuausgabe. Freiburg im Breisgau: Verlag Herder. ISBN 978-3-451-32705-6 [Rezension bei socialnet]
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Verfasst von
Dr. Oliver Trisch
Leitung im Zentrum für Bewegung und Kommunikation
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Es gibt 1 Lexikonartikel von Oliver Trisch.
Zitiervorschlag
Trisch, Oliver,
2019.
Vorurteilsbewusste Pädagogik [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 07.08.2019 [Zugriff am: 15.02.2025].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/28224
Link zur jeweils aktuellsten Version: https://www.socialnet.de/lexikon/Vorurteilsbewusste-Paedagogik
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