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Wahrnehmung

Prof. (i.R.) Dr. Hans-Jürgen Balz

veröffentlicht am 13.05.2024

Synonym: Perzeption

Englisch: perception; observation

Wahrnehmung ist der Prozess der Reizaufnahme und -verarbeitung durch die Sinnesorgane. Sie dient der Orientierung in der Umwelt, der Informationsgewinnung und dem Erkennen der äußeren Welt. Der Mensch erzeugt im Wahrnehmungsprozess ein inneres Abbild der äußeren Umwelt.

Überblick

  1. 1 Zusammenfassung
  2. 2 Gegenstand und Zielsetzung der Wahrnehmung
  3. 3 Wahrnehmung und Erkenntnis
  4. 4 Visuelle Wahrnehmung als Basis der Beobachtung
  5. 5 Gestaltprinzipien der visuellen Wahrnehmung
  6. 6 Transfer für psychosoziale Berufe
  7. 7 Quellenangaben
  8. 8 Literaturhinweise

1 Zusammenfassung

In sozialen und pädagogischen Berufen bildet die Wahrnehmung (von Personen, Situationen, sozialen Prozessen u.a.) eine Basis für die Informationsgewinnung, -bewertung und -interpretation im interpersonellen Kontakt. Die Gestaltung pädagogischer Interventionen wie beispielsweise die Auswahl der Inhalte und des Schwierigkeitsgrades von Lernaufgaben für Kinder und Jugendliche leitet sich daraus ab. Die Methoden und Instrumente der systematischen Verhaltensbeobachtung – Gegenstand der psychosozialen Diagnostik – zielen darauf ab, eine Vergleichbarkeit im professionellen Handeln zu erreichen und Fehlerquellen zu reduzieren (Buttner et al. 2018; Harnach 2021).

Die traditionelle Medizin geht von fünf Sinnen aus: Gesicht (Sehen), Gehör, Geschmack, Geruch und Gefühl. In der aktuellen Wahrnehmungsforschung findet sich eine Erweiterung um spezielle Haut-Sinne (z.B. Schmerz-, Druck- und Kältewahrnehmung) und die viszerale Sinneswahrnehmung (Rezeptoren der inneren Organe) auf insgesamt 12 Sinne. Die visuellen und die akustischen Sinneseindrücke sind für den Menschen von besonderer Bedeutung (z.B. beim alltäglichen Handeln, beim Lernen, bei der Nutzung von Social Media).

Sinneseindrücke werden wesentlich durch die Vorerfahrungen der wahrnehmenden Person, ihre Eigenzustände, Merkmale des wahrzunehmenden Gegenstandes und von Kontextfaktoren beeinflusst. Insofern handelt es sich jeweils um eine Konstruktion der Wirklichkeit und nicht um eine absolute Wahrheit.

Auch können unsere Sinnesorgane Reize erst oberhalb einer absoluten Wahrnehmungsschwelle (Mindestreizintensität) registrieren. So nehmen wir beispielsweise in der fortgeschrittenen abendlichen Dämmerung Grautöne (hell – dunkel) wahr und können Farben kaum noch identifizieren. Auch müssen Menschen aus einem zweidimensionalen Wahrnehmungsbild auf der Netzhaut eine dreidimensionale Konstruktion der sie umgebenden Wirklichkeit ableiten (Hagendorf et al. 2011, S. 97 ff.).

Nicht zuletzt haben emotionale Prozesse einen Einfluss auf die Wahrnehmung und Gedächtnisspeicherung von Informationen. Alltagssprachlich spiegelt sich dies beispielsweise in der Aussage „Liebe macht blind“ wider.

Die visuelle Wahrnehmung gewinnt im Alltagsleben weiter an Bedeutung, da elektronische Medien und Bilder zunehmend die Kommunikation in einer globalisierten Welt beeinflussen und die Sicht auf gesellschaftliche Ereignisse, soziale Gruppen, andere Völker prägen.

Die Gesetzmäßigkeiten der Wahrnehmung (z.B. visuell die Unterscheidung von Figur und Hintergrund) untersucht die Wahrnehmungspsychologie. Ein Forschungsschwerpunkt liegt dabei in der visuellen Wahrnehmung. Die Sozialpsychologie bündelt Erkenntnisse der Wahrnehmung sozialer Prozesse.

Beobachtung bezeichnet die zielgerichtete Wahrnehmung von Objekten und Personen. Sie stellt einen aktiven Prozess der Reizauswahl, Reizaufnahme und -verarbeitung dar und dient der Informationsgewinnung sowie der Sinnesfreude. Beobachtung ermöglicht uns über die visuellen und ergänzend dazu den auditiven Sinneseindrücken den Zugang zu den Objekten und Personen in der Umwelt. Daraus leiten Menschen ihr Wissen über die äußere Welt ab, ohne dabei die Dinge „wie sie wahrhaft sind“ zu erfassen. Wie wenig wir unseren Sinneseindrücken vertrauen können, zeigt sich bei optischen Täuschungen und Zaubertricks (Hergovich 2022, S. 83 ff.).

2 Gegenstand und Zielsetzung der Wahrnehmung

Die Wahrnehmung hat ihren Ausgangspunkt in den Sinnesrezeptoren, die je nach Rezeptorenart spezifische Umgebungsreize in nervöse Impulse umwandeln. Daneben findet die Reizverarbeitung und -weiterleitung in den Sinnesorganen und dem visuellen System statt (Carlson 2004, S. 195 ff.). Dieser Prozess der Reizverarbeitung, beispielsweise der visuellen Sinneseindrücke (sensorischer Input), wird ergänzt durch die vom Gehirn ausgehenden Prozesse der Anwendung von sprachlichem Vorwissen, Schemata von prototypischen Objekten (Tasse, Schere, Brücke usw.) und Kontextinformationen auf die eingehenden Sinnesreize und das zuerkennende Objekt (Wendt 2014, S. 177 ff.). In der Wahrnehmung sind physiologische und psychologische Teilprozesse untrennbar miteinander verbunden.

Das Verhältnis zwischen physikalischen Objekten in unserer Umgebung (distaler Reiz), dem optischen Abbild auf der Netzhaut des Auges (proximaler Reiz) und den subjektiven Sinneseindrücken der Person erforscht die Psychophysik, ein frühes Forschungsfeld der wissenschaftlichen Psychologie ab den 1880er-Jahren (Goldstein 2015, S. 9). Ernst-Heinrich Weber, Gustav Theodor Fechter und Wilhelm Maximilian Wundt sind Pioniere der entstehenden experimentellen Psychologie.

Zielsetzung der Wahrnehmung ist die Informationsgewinnung und das Erkennen der äußeren Welt, evolutionär sichert dies das Überleben. Spezies mit ausgeprägten Fähigkeiten in einzelnen Wahrnehmungsbereichen – bspw. Greifvögel im Bereich der visuellen Wahrnehmung – besitzen dadurch einen evolutionären Vorteil. Wahrnehmung dient darüber hinaus der Sinnesfreude, denkt man z.B. an einen Besuch in einer Gemäldegalerie, an architektonisch innovative Gebäude oder als schön empfundene Wohnlandschaften.

Neben dem Erkenntnisgewinn kann die Wahrnehmung auch zur Überprüfung bzw. Absicherung unserer Eindrücke in einer Interaktionssituation dienen, beispielsweise wenn wir den sprachlichen Äußerungen nicht trauen.

Die unsystematische und wenig geplante Wahrnehmung lässt sich von der gezielten Alltagsbeobachtung (z.B. beim Autofahren) unterscheiden. Das Beobachtungslernen von Kindern (z.B. beim Erwerb neuer Fähigkeiten) belegt die Bedeutung von Beobachtung als Triebkraft der Entwicklung.

Die systematische Verhaltensbeobachtung als professionelle Methode in psychosozialen Berufen stellt eine geplante und zielgerichtete Sammlung von Informationen über das äußerlich sichtbare Verhalten einer Person bzw. Personengruppe in ausgewählten Situationen dar. Sie beinhaltet:

  • eine Fragestellung
  • die Planung des Beobachtungsprozesses (Gegenstand, Beobachter:innenrolle, Situationsmerkmale, Dauer u.a.)
  • die strukturierte Dokumentation der gesammelten Informationen
  • und die Interpretation der Daten
    (Martin und Wawrinowski 2014; Viernickel und Völkl 2022).

Neben der Fremdbeobachtung stellt in Berufen des Sozialwesens die Selbstbeobachtung eine wichtige Quelle zur Reflexion des eigenen beruflichen Handelns dar. In speziellen Settings (z.B. kollegiale Fallberatung, Supervision) wird das berufliche Handeln reflektiert und Fragen der Weiterentwicklung der professionellen Rolle im Unterstützungsprozess behandelt.

3 Wahrnehmung und Erkenntnis

Ansätze und Positionen innerhalb der Wahrnehmungspsychologie:

  • Naiver Realismus
  • Konstruktivismus
  • Strukturalismus
  • Funktionalismus
  • Der Ansatz der Ökologischen Psychologie
  • Die Gestaltpsychologie

Die unreflektierte Alltagsvorstellung von Wahrnehmung geht davon aus, dass sich ein Abbild der äußeren Umgebung abbildgetreu in unserem Gehirn wiederfindet. Entsprechend dem Naiven Realismus (Glasersfeld 2002, S. 18) wäre es nicht bedeutsam, ob die wahrnehmende Person Erwartungen oder Vorwissen zum Beobachtungsgegenstand in den Wahrnehmungsprozess einbringt (Abb.1). Die Metapher der „Tabula Rasa“, d.h. zu sehen wie ein unbeschriebenes Blatt, könnte für dieses Verständnis von Wahrnehmung herangezogen werden. Diese Sichtweise berücksichtigt jedoch weder die Gerichtetheit bzw. Zielorientierung des Handelns, die Struktur des kognitiven Systems (Sprache, Vorerfahrungen mit dem Beobachtungsgegenstand u.a.) noch die aktuelle Aktivität der wahrnehmenden Person. Auch geht dieses Denken davon aus, dass eine völlige Trennung zwischen beobachtender Person (Subjekt) und dem beobachteten Objekt besteht und die beobachtende Person keinerlei Einfluss auf das beobachtete Objekt hat.

Einfluss der Erwartungshaltung: Was sehe ich in der Mitte?
Abbildung 1: Einfluss der Erwartungshaltung: Was sehe ich in der Mitte? Eine Zahl oder einen Buchstaben (orientiert an Wendt 2014, S. 175)

Dass der naive Realismus den Beobachtungsprozess nicht angemessen erfasst, belegen die Stufen der Wahrnehmung:

  • Die erste Stufe der Empfindung besteht aus der Stimulation der Sinnesorgane, der Reizverarbeitung und -weiterleitung zum Nervensystem (Bottom-Up-Prozess).
  • Die zweite Stufe des Organisierens differenziert und strukturiert das Reizmaterial; z.B. Unterscheidung von Figur und Hintergrund.
  • Dem schließt sich die dritte Stufe des Identifizierens und Einordnens an, z.B. Zuordnen zu Gegenstandsklassen und Begriffen.
    (Wendt 2014, S. 177)

Um die Sinneseindrücke zu organisieren (z.B. ein Objekt von seinem Kontext zu unterscheiden) und einen Sinneseindruck zu versprachlichen (ein wahrgenommenes Objekt zu bezeichnen), ist ein Vergleich der Sinneseindrücke mit Gedächtnisinhalten (z.B. Vergleich mit Prototypen von Objekten) notwendig. Dieser Teil des Erkenntnisprozesses setzt Erfahrungswissen und sprachliche Kompetenz voraus und wird als Top-Down-Prozess bezeichnet (Wendt 2014, S. 182).

Heutige Konzepte der Beobachtung sind stark vom konstruktivistischen Denken beeinflusst (Konstruktivismus; Glasersfeld 2002). Aus einer konstruktivistischen Perspektive ließe sich argumentieren, dass die Beschreibung eines Beobachtungsgegenstandes durch eine Person weniger über den Gegenstand, sondern mehr über die Beschaffenheit des kognitiven Systems der Person aussagt (zu selbstreferenziellen Prozessen der Wahrnehmung s. auch Willke 2006). Wahrnehmung ist in diesem Sinne eine subjektive Konstruktion der Wahrnehmungsinhalte bzw. -prozesse einer Person: Kriterium für dessen Beurteilung ist nicht die Wahrheit, sondern die Viabilität (Brauchbarkeit) der Informationen über den Beobachtungsgegenstand.

Der Forschungsansatz des Strukturalismus Ende des 19. Jahrhunderts bestand darin, die Wahrnehmung als in Komponenten zerlegt zu untersuchen. Es ging bspw. Wilhelm Wundt dabei um die Analyse der Grundelemente der Wahrnehmung – analog der Chemie in ihrer Erforschung der Atome – und um die daraus abgeleitete Synthese in der menschlichen Sinneswahrnehmung. (Hagendorf et al. 2011, S. 26 ff.)

Der Funktionalismus, ebenfalls Ende des 19. Jahrhunderts, einflussreich vertreten u.a. von William James, suchte den Anschluss an evolutionstheoretische Positionen, d.h. es ging um den Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung, biologischen Eigenschaften der Person und relevanten Umgebungsbedingungen. Wahrnehmung wird in diesem Ansatz insbesondere in seiner Funktion zur Sicherung des Überlebens des Organismus gesehen, (z.B. Schnelligkeit des Reizwahrnehmung zur Optimierung der Handlungsausführung), (ebd.).

Die in der ökologischen Psychologie vertretene Perspektive auf die Wahrnehmung, Mitte des 20. Jahrhunderts, setzt an dem Menschenbild des aktiven Gestalters seiner Umwelt an. Als bedeutsam hob James Gibson insbesondere die Berücksichtigung der durch die Bewegung des Wahrnehmenden sich ergebenden zusätzlichen Informationen hervor. Sie ermöglicht Erkenntnisse über die Umgebungsbedingungen. Diese Muster des optischen Fließens ergeben sich beispielsweise beim Durchfahren einer Kurve (ebd.).

Die Gestaltpsychologie, gegründet Anfang des 20. Jahrhunderts, geht von einer ganzheitlichen Wahrnehmung durch den Menschen aus, formulierte dazu Organisationsprinzipien der visuellen Wahrnehmung (s. folgenden Abschnitt) und ist geprägt von dem Grundsatz „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“. Vertreter in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind Christian von Ehrenfels, Kurt Koffka, Wolfgang Köhler und Max Wertheimer (ebd.; dazu weiter auch Goldstein 2015, S. 102 ff.).

4 Visuelle Wahrnehmung als Basis der Beobachtung

An der visuellen Wahrnehmung sind das Auge, die darin befindlichen Fotorezeptoren, die Nervenzellen zur Weiterleitung der elektromagnetischen Ströme und der visuelle Cortex mit dem Zentrum des optischen Nervs beteiligt (Carlson 2004, S. 196 ff.). Durch die Forschung unter Verwendung von bildgebenden Verfahren lassen sich insgesamt 25 Bereiche des visuellen Cortex unterscheiden, die für die verschiedenen Aspekte der Wahrnehmung und des Erkennens (Farb-, Entfernungswahrnehmung, Objekt-, Gesichtserkennen u.a.) zuständig sind (Carlson 2004, S. 238 f.).

Die physiologischen Grundlagen der Wahrnehmung bilden die Voraussetzung für die Normalsichtigkeit eines Menschen. So ist an dem Lernprozess der Auge-Hand-Koordination des Kleinkindes zu sehen, dass die gezielte Informationsaufnahme und handlungsorientierte Verwertung erst auf der Basis des Erfahrungslernens im Spiel bei gleichzeitiger biologischer Reifung möglich ist.

Die Wahrnehmungspsychologie gewinnt ihre Erkenntnisse durch experimentelle Studien und die Untersuchung von Patient:innen mit Läsionen bzw. Erkrankungen im Bereich der Wahrnehmungsorgane, des visuellen Cortex bzw. des zentralen Nervensystems.

5 Gestaltprinzipien der visuellen Wahrnehmung

Wichtige Erkenntnisse zu den Gesetzmäßigkeiten der visuellen Wahrnehmung gehen auf die Gestaltpsychologie zurück. Für die Organisation der menschlichen Wahrnehmung hat danach das Ökonomieprinzip im Sinne der Sparsamkeit der Informationen zentrale Bedeutung. Nicht die atomistische Wahrnehmung von Einzelelementen, sondern das Erkennen von Mustern und Formen zur Erzeugung sinnvoller Gesamtgestalten (in Abgrenzung zu ihrer Umgebung) stellen die Grundlage der Wahrnehmung dar. Dieses ganzheitliche Erfassen erhöht die Wahrnehmungsgeschwindigkeit und erleichtert die Mustererkennung.

Gestaltgesetze:

  • Figur-Grund-Unterscheidung
  • Prägnanz-Prinzip
  • Gestaltgesetz der Nähe
  • Gestaltgesetz der Ähnlichkeit
  • Weitere Gestaltgesetze: Prinzip der guten Fortsetzung, des gemeinsamen Schicksals, der Parallelität und Symmetrie und der Geschlossenheit.

Ein fundamentales Prinzip ist hierbei die Figur-Grund-Unterscheidung, sehr gut zu demonstrieren anhand der Rubinschen Vase (Abb. 2). Die Figur bilden meist die Reizbereiche mit geringerer Größe bzw. – bei vergleichbarer Größe –, die Formen, die spiegelsymmetrische oder parallel verlaufende Grenzlinien aufweisen (Wendt 2014, S. 155 ff.).

Figur-Grund-Unterscheidung anhand der Rubinschen Vase
Abbildung 2: Figur-Grund-Unterscheidung anhand der Rubinschen Vase (orientiert an Goldstein 2015, S. 105)

Weitere Gestaltgesetze sind das Prägnanz-Prinzip oder Gesetz der guten Gestalt, d.h. in der Wahrnehmungssituation setzt sich die Reizgliederung durch, die die einfachste, regelmäßigste oder einheitlichste Gesamtgestalt hat (Wendt 2014, S. 167).

Darüber hinaus findet sich das Gestaltgesetz der Nähe. Elemente, die näher zueinander dargestellt sind, werden als zusammenhängend wahrgenommen. Das Gestaltgesetz der Ähnlichkeit besagt, dass unter sonst gleichen Bedingungen die Elemente zusammen gruppiert werden, die ähnlich sind (Abb.4; Wendt 2014, S. 159 f.).

Beispiel: Gestaltgesetz der Nähe
Abbildung 3: Beispiel: Gestaltgesetz der Nähe (eigene Darstellung)
Beispiel: Gestaltgesetz der Ähnlichkeit
Abbildung 4: Beispiel: Gestaltgesetz der Ähnlichkeit (eigene Darstellung)

Wahrnehmung ist immer auch ein In-Beziehung-setzen mit der Umgebung, d.h. in Abhängigkeit von den Umgebungsreizen werden zwei Gegenstände als unterschiedlich groß wahrgenommen, obwohl sie gleichgroß sind (Abb. 5).

Beispiel einer optischen Täuschung: die Ehrenstein-Täuschung
Abbildung 5: Beispiel einer optischen Täuschung: die Ehrenstein-Täuschung (orientiert an Hergovich 2022, S. 91)

Neben den Strukturen des kognitiven und sprachlichen Systems der beobachtenden Person spielen ihre Erwartungen und Eigenzustände eine prägende und aktive Rolle im Erkenntnisprozess. So werden beispielsweise von hungrigen Versuchspersonen in einem diffusen Reizmaterial (unscharfe Bildvorlage) häufiger Lebensmittel in den Reizvorlagen „entdeckt“. Auch zeigte sich in einem Experiment, dass Kinder aus ärmeren Familien die Größe von Münzen in der Tendenz als größer einschätzten, obwohl sie vorher bei der Einschätzung von Pappkreisen im Vergleich zu Kindern aus Mittelschichtsfamilien gleich abschnitten (Wendt 2014, S. 178 f.).

6 Transfer für psychosoziale Berufe

In psychosozialen Berufen bildet die Informationssammlung den Ausgangspunkt des Unterstützungsprozesses. Im Erstgespräch gilt es Klient:innen in ihrer Lebenslage, ihrer sozialen Eingebundenheit und den aktuellen persönlichen und familiären Bedingungen kennenzulernen. Wenn der Erstkontakt mit den Klient:innen beispielsweise in einem Hausbesuch besteht, dann finden neben der systematischen Gesprächsgestaltung (z.B. anhand von Fragebögen, einem Gesprächsleitfaden) zahlreiche Gelegenheitsbeobachtungen (über die Wohnverhältnisse, die Familieninteraktion u.a.) statt. Aufgrund der geringen Planbarkeit dieser Gelegenheitsbeobachtungen gilt es Einflussfaktoren auf die soziale Wahrnehmung zu kennen und zu berücksichtigen, da diese zu Wahrnehmungsfehlern und Verfälschungen führen können (Stemmler und Margraf-Stiksrud 2015, S. 63 ff.).

In der Gesamttendenz schneiden systematisch strukturierte Leitfadeninterviews und standardisierte Beobachtungssettings (z.B. im Spielzimmer einer Beratungsstelle, bei Testaufgaben) insgesamt besser ab als unstrukturierte Gelegenheitsbeobachtungen in der Lebenswelt der Klient:innen (s. unter systematische Verhaltensbeobachtung).

Neben der Fremdbeobachtung (z.B. von Klient:innen) hat die Selbstbeobachtung im professionellen Alltag eine wichtige Funktion (s. Formen der Selbstbeobachtung). So gilt es, die durch die Klient:innenarbeit bei der Fachkraft ausgelösten Emotionen, die eigenen Strategien in der Gesprächsgestaltung und die professionellen Entscheidungen im Hilfeprozess zu reflektieren. Es ist ein kontinuierliches Feld der Überprüfung professioneller Arbeitsgrundsätze und des fachlichen Lernens im kollegialen Kontext (s. Supervision; kollegiale Beratung).

Die berufliche Selbstreflexion hat ihre Bedeutung auch für die Reflexion von Teamprozessen. Die Reflexion im Teamkontext trägt zur emotionalen Entlastung bei herausforderndem Klient:innenverhalten bei, bildet damit einen wichtigen Beitrag zur Selbstfürsorge (Balz und Heisig 2022) und hilft eigene und gemeinschaftliche Arbeitsgrundsätze zu klären (s. Teamarbeit).

7 Quellenangaben

Balz, Hans-Jürgen und Marascha Heisig, 2022. Selbstführung und Selbstfürsorge – Leitbegriffe im Führungskräfte-Coaching? In: Organisationsberatung, Coaching und Supervision [online]. 29(2), S. 193–208 [Zugriff am: 30.04.2024]. ISSN 1862-2577. Verfügbar unter: https://link.springer.com/article/10.1007/s11613-022-00761-8

Buttner, Peter, Silke Brigitta Gahleitner, Ursula Hochuli Freund und Dieter Röh, Hrsg., 2018. Handbuch Soziale Diagnostik. Freiburg: Lambertus. ISBN 978-3-7841-3029-3 [Rezension bei socialnet]

Carlson, Neil R., 2004. Physiologische Psychologie. 8. Auflage. München: Pearson. ISBN 978-3-8273-7087-7

Glasersfeld, Ernst von, 2002. Abschied von der Objektivität. In: Peter Krieg und Paul Watzlawick, Hrsg. Das Auge des Betrachters. Heidelberg: Carl Auer, S. 17–30. ISBN 978-3-89670-238-8 [Rezension bei socialnet]

Goldstein, Bruce E., 2015. Wahrnehmungspsychologie: Der Grundkurs. 9. Auflage. Berlin: Springer. ISBN 978-3-642-55073-7

Gössl, Martin, 2020. Die Methode der Beobachtung in der Sozialen Arbeit. Baden-Baden: Tectum. ISBN 978-3-8288-4483-4

Hagendorf, Herbert, Joseph Krummenacher, Hermann-Josef Müller und Torsten Schubert, 2011. Wahrnehmung und Aufmerksamkeit. Heidelberg: Springer. ISBN 978-3-642-12710-6

Harnach, Viola, 2021. Psychosoziale Diagnostik in der Jugendhilfe. 7. Auflage. Weinheim: Beltz. ISBN 978-3-7799-6424-7 [Rezension bei socialnet]

Hergovich, Andreas, 2022. Allgemeine Psychologie: Wahrnehmung und Emotionen. 3. Auflage. München: UTB. ISBN 978-3-8252-5434-6

Martin, Ernst und Uwe Wawrinowski, 2014. Beobachtungslehre: Theorie und Praxis reflektierter Beobachtung. 6. Auflage. Weinheim: Beltz Juventa. ISBN 978-3-7799-1965-0

Miller, Tilly, 2021. Konstruktivismus und Systemtheorie. Weinheim: BeltzJuventa. ISBN 978-3-7799-3953-5 [Rezension bei socialnet]

Stemmler, Gerhard und Jutta Margraf-Stiksrud, 2015. Verhaltensbeobachtung. In: Gerhard Stemmler und Jutta Margraf-Stiksrud, Hrsg. Psychologische Diagnostik. Bern: Huber, S. 13–76. ISBN 978-3-456-85518-9 [Rezension bei socialnet]

Viernickel, Susanne und Petra Völkl, 2022. Beobachtung und dokumentieren im pädagogischen Alltag. Freiburg: Herder. ISBN 978-3-451-82517-0

Wendt, Mike, 2014. Allgemeine Psychologie: Wahrnehmung. Göttingen: Hogrefe. ISBN 978-3-8017-2288-3

Willke, Helmut, 2006. Systemtheorie I: Eine Einführung in die Grundprobleme der Systemtheorie. 7. Auflage. München: Lucius & Lucius. ISBN 978-3-8282-0351-8

8 Literaturhinweise

Goldstein, Bruce E., 2015. Wahrnehmungspsychologie: Der Grundkurs. 9. Auflage. Berlin: Springer. ISBN 978-3-642-55073-7

Hergovich, Andreas, 2022. Allgemeine Psychologie: Wahrnehmung und Emotionen. 3. Auflage. München: UTB. ISBN 978-3-8252-5434-6

Buttner, Peter, Silke Brigitta Gahleitner, Ursula Hochuli Freund und Dieter Röh, Hrsg., 2018. Handbuch Soziale Diagnostik. Freiburg: Lambertus. ISBN 978-3-7841-3029-3 [Rezension bei socialnet]

Verfasst von
Prof. (i.R.) Dr. Hans-Jürgen Balz
von 2002 bis 2023 Dozent für Psychologie (Schwerpunkte Diagnostik und Beratung) an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum. Supervisor, Coach und Weiterbildner im Institut für Lösungsfokussierte Kommunikation (ILK-Bielefeld).
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Es gibt 9 Lexikonartikel von Hans-Jürgen Balz.

Zitiervorschlag
Balz, Hans-Jürgen, 2024. Wahrnehmung [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 13.05.2024 [Zugriff am: 13.01.2025]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/1091

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