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Waldorfschule

Larissa Beckel

veröffentlicht am 14.11.2023

Waldorfschulen sind Schulen in freier Trägerschaft, die entweder auf Eltern- oder Lehrkräfteinitiativen gegründet werden. Sie beziehen sich auf Rudolf Steiner, den Begründer der Anthroposophie, und seine pädagogischen Konzepte.

Überblick

  1. 1 Zusammenfassung
  2. 2 Erziehungs- und Bildungskonzeptionen der Waldorfschule
    1. 2.1 Rudolf Steiner und die Anthroposophie
    2. 2.2 Waldorfpädagogik
  3. 3 Schulorganisation
  4. 4 Methodik und Didaktik in Waldorfschulen
    1. 4.1 Lernprozesse
    2. 4.2 Lehrplan
    3. 4.3 Lehrer:innen
    4. 4.4 Unterrichtsformen und Methoden
    5. 4.5 Projekte, Exkursionen und Praktika
    6. 4.6 Unterrichtsmittel
    7. 4.7 Leistungsbeurteilung und Abschlüsse
    8. 4.8 Lehrer:innenausbildung
  5. 5 Geschichte
    1. 5.1 Gründung der ersten Waldorfschule
    2. 5.2 Zeit der Ausbreitung der Waldorfpädagogik (1925-1933)
    3. 5.3 Situation der Schulen während der NS-Zeit (1933-1945)
    4. 5.4 Neugründungen in der Nachkriegszeit ab 1945
    5. 5.5 Ab 1990
  6. 6 Rezeption und Kritik
    1. 6.1 Rezeption der Waldorfpädagogik in Wissenschaft und Öffentlichkeit
    2. 6.2 Kulturauffassung und „Rassismusvorwurf“
    3. 6.3 Kritik am Prinzip der Klassenlehrkraft
  7. 7 Quellenangaben
  8. 8 Literaturempfehlungen

1 Zusammenfassung

Waldorfschulen beziehen sich auf Rudolf Steiner, den Begründer der Anthroposophie, und seine pädagogischen Konzepte. Schüler:innen können die Waldorfschule von der ersten bis zur zwölften bzw. dreizehnten Klasse besuchen. Der Besuch führt, je nach Qualifizierungsziel, zu verschiedenen staatlich anerkannten Schulabschlüssen. Dabei bleiben die Schüler:innen bis zum Ende der achten Klasse in einem gemeinsamen Klassenverband mit einer festen Lehrkraft, der Klassenlehrkraft. Mit Beginn der Oberstufe, welche an den Waldorfschulen ab Klasse neun beginnt, geht das gemeinsame Lernen im Klassenverband mehr und mehr in verschiedene Fachunterrichte über, der von Fachlehrer:innen übernommen wird. Von Klasse 1 bis 8 wird weitestgehend auf Notenzeugnisse verzichtet. Der Fächerkanon der Waldorfschule umfasst unterschiedliche Fächer, die kognitive, musisch-künstlerische und handwerklich-praktische Inhalte umfassen. Eurythmie (Bewegungskunst), Gartenbau und Formenzeichnen sind Beispiele für Fächer, die in dieser Form nur an der Waldorfschule unterrichtet werden. Der Unterricht findet in rhythmisiert in so genannten Epochen statt, in denen ein Schwerpunktthema über mehrere Wochen intensiv behandelt wird, bevor es von einem anderen abgelöst wird. Waldorfschulen sind Schulen in freier Trägerschaft, die entweder auf Eltern- oder Lehrkräfteinitiativen gegründet werden. Die Waldorfschulbewegung ist eine der größten und weitverbreitetsten Schulbewegungen in freier Trägerschaft in Deutschland.

2 Erziehungs- und Bildungskonzeptionen der Waldorfschule

2.1 Rudolf Steiner und die Anthroposophie

Die Waldorfpädagogik geht auf Rudolf Steiner (1861-1925) zurück. Der Theosoph und Lebensreformer begründete die Anthroposophie. Diese bildete nicht nur die Grundlage für neue pädagogische Konzepte. Ihr Einfluss mündete auch in neuen Ansätzen u.a. in der Landwirtschaft, Medizin, Kunst, Religion und Wirtschaft. Heute beziehen sich Waldorfpädagog:innen insbesondere auf die Texte der „Allgemeinen Menschenkunde“, einem aufgezeichneten Vortragszyklus, den Steiner vor dem Kollegium der ersten Stuttgarter Waldorfschule hielt. Die Texte sind stenotypisiert, d.h. nicht von Steiner selbst verschriftlicht (Richter 2016, 30 ff.). Die Gründung der ersten Waldorfschule in Stuttgart 1919 gilt ebenso als Gründungsjahr der Waldorfpädagogik. Diese entwickelte sich im Kontext der reformpädagogischen Bewegungen. Obwohl die Waldorfschule immer wieder zu den reformpädagogischen Schulen gezählt wird, entwickelte sie jedoch ein eigenes pädagogisches Konzept (Grunder 2015, S. 223).

2.2 Waldorfpädagogik

Die Bildungs- und Erziehungsvorstellungen Steiners entstanden in ihren Grundzügen bereits vor 1919. Als Philosophiestudent interessierte er sich vor allem für den objektiven Idealismus von Immanuel Kant und G.W.F. Hegel, aus denen er seine Freiheitsphilosophie entwarf. Insbesondere in der Zeit, in der er in Berlin lebte, spielte auch die soziale Frage eine große Rolle. Aus all diesen Einflüssen formulierte Steiner eine Kritik am (Hoch-)Schulsystem seiner Zeit. Er erfragte die Rolle des Individualismus und entwarf auf Grundlage dieser Einflüsse eine neue Erziehung des Kindes (Buechele 2014, S. 313).

Innerhalb der Waldorfpädagogik dient Bildung als Werkzeug zur Persönlichkeitswerdung, die zwei Funktionen erfüllt:

  1. Sie soll die Emanzipation von der Gesellschaft ermöglichen.
  2. Sie dient der Enkulturation.

Dieses Ideal findet seinen Ausdruck im Konzept einer sozial-integrativen Gesamtschule, welche allen Kindern offenstehen soll. Im Laufe der Schulzeit sollen die Kinder eine differenzierte Wertekritik erfahren, welche sich im transreligiösen Lernen widerspiegelt. Daneben spielt die Schulung der Wahrnehmung und die Förderung des ästhetischen Empfindens eine zentrale Rolle. Die Lehrkräfte haben in der Konzeption ihres Unterrichtes große autonome Gestaltungsspielräume. Daher hängt die Ausgestaltung des konkreten Unterrichts stark von den jeweiligen Schwerpunktsetzungen der Lehrer:innen ab (Buechele 2014, S. 281).

Ziel der Waldorfpädagogik ist es, Kinder und Jugendliche in ihrer Individualität zu fördern. Durch die pädagogischen Interventionen sollen sie darin bestärkt werden, ihre Persönlichkeit entfalten zu können (Buechele 2014, S. 314; Richter 2016, S. 30–32). Der Mensch solle sich laut Steiner aus der (gesellschaftlichen) Fremdbestimmung befreien (Steiner 1982, S. 37).

Im anthroposophischen Kontext dient die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit der Höherbildung der Menschheit mit dem Ziel, Gesellschaft neu zu gestalten. Dabei ist die Anthroposophie stark vom Ideal der christlichen Humanität geprägt. Daraus entsteht ein Widerspruch, denn einerseits will die Anthroposophie universell und somit auch unabhängig von religiösen Einflüssen sein, andererseits besteht eben jene christliche Prägung. Seit einigen Jahren wird dieser Widerspruch jedoch, besonders vor dem Hintergrund des Umgangs mit Diversität, kritisch hinterfragt und es werden neue Konzepte entwickelt.

3 Schulorganisation

Die Waldorfschulen sind in freier Trägerschaft organisiert, was eine bildungsphilosophisch differenzierte Verortung ermöglicht. Denn anders als staatliche Regelschulen sind Waldorfschulen unabhängiger von den jeweiligen bildungspolitischen Kontexten. So besteht eine größere Entscheidungsfreiheit bei der Gestaltung und Umsetzung der Curricula sowie der Zusammensetzung von Kollegium und Klassen. Die Waldorfschulen sind über den Bund der Freien Waldorfschulen organisiert.

Ein wichtiges Element der Organisation der Waldorfschulen besteht in der Selbstverwaltung. Oft gibt es keine Schulleitung. Entscheidungen werden in verschiedenen Arbeitsformen in der kollegialen Zusammenarbeit getroffen. Darin wird das Kollegium von einer Geschäftsführung unterstützt. Die Organisationstrukturen der Schulen sind dabei unterschiedlich und werden von den Schulen selbst gestaltet.

Die Waldorfschulbewegung ist heute eine der größten und weitverbreitetsten Schulbewegungen in freier Trägerschaft in Deutschland. In Deutschland gibt es derzeit (Stand 2023) 253 Waldorfschulen mit ca. 90.000 Schüler:innen. In Europa (ohne Deutschland) sind es 559, außerhalb Europas 379. Weltweit gibt es 1187 Waldorfschulen und über 1900 Waldorfkindergärten (Bund der Freien Waldorfschulen).

4 Methodik und Didaktik in Waldorfschulen

4.1 Lernprozesse

Die Waldorfpädagogik betrachtet Lernen als einen rhythmischen Prozess, der dem Ablauf des Schuljahres, des Jahresverlaufes sowie der Schulwoche und dem jeweiligen Schultag folgt. Auf die unterschiedlichen Gegebenheiten, die die einzelnen Abschnitte mit sich bringen, werden Stunden- und Lehrplan sowie einzelne Unterrichtsthemen abgestimmt (Richter 2016, S. 45). Dabei wechseln Phasen von Ruhe und Aufnahmebereitschaft mit Zeiträumen ab, in denen die Schüler:innen ihrem Bewegungsdrang nachkommen können. Dementsprechend werden theoretische, künstlerische und handwerkliche Fächer im Stundenplan sowie in den Unterrichtsaktivitäten selbst platziert und geplant.

In der Waldorfpädagogik wird der Wechsel zwischen aktiven Phasen und Pausen zur Verarbeitung des Lernstoffes angestrebt. Dabei sollen Lehr- und Lernmethodik im Bezug zur Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen stehen. Der Lernprozess wird in der Waldorfpädagogik als Ablauf drei aufeinanderfolgender Phasen verstanden (Richter 2016, S. 46):

  1. Der erste Schritt umfasst das Aufnehmen, Erleben, Beobachten und Experimentieren.
  2. Im zweiten Schritt stehen das Erinnern, Beschreiben, Charakterisieren und Aufzeichnen im Fokus.
  3. Der dritte Schritt schließt das Verarbeiten, Abstrahieren, Analysieren, Generalisieren und Vertiefen ein. In diesem Schritt werden Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten erfasst sowie Begriffe gebildet.

Der erste und zweite Lernschritt wird meist in kurzem zeitlichen Abstand voneinander vollzogen, der dritte Schritt folgt nach einer etwas längeren Unterbrechung. Diese kann einen Tag bis hin zu mehreren Wochen, Monaten oder gar (Schul-)Jahren andauern. Der dritte Lernschritt ist nicht im Sinne einer Sicherung von Lernergebnissen zu verstehen, sondern als Abschluss der vorangegangenen beiden Schritte. Dieser bildet somit einen weiteren Verarbeitungsprozess des Lerninhaltes ab. Durch die Polaritäten von Wachen und Schlafen, Aufnehmen und Vergessen, Spannung und Entspannung sollen ein tieferer Erkenntnisgewinn bei den Schüler:innen ermöglicht und verschiedene vorangegangene Unterrichtsinhalte miteinander verknüpft werden (Wiehl 2015).

Generell werden die Lerninhalte durch künstlerisch-praktische Betätigung erarbeitet und vertieft, insbesondere in der Unter- und Mittelstufe. Dadurch sollen im Lernprozess alle Sinne einbezogen werden. Somit können Lernvorgänge auf Grundlage eigener Erfahrungen und Sinneseindrücke der Schüler:innen angestoßen und Lernprozesse stärker individualisiert werden. Diese Lernprozesse bilden dann die Grundlage für die oben beschriebene Begriffsbildung in den drei Phasen. In der Vorstellung von Waldorfpädagog:innen ist somit der Lernvorgang selbst ebenso wichtig wie das Resultat dieses Prozesses, vorgefertigte Lerninhalte sollen vermieden werden (Richter 2016, S. 46 f.).

Der oben beschriebene dreigliedrige Prozess der Didaktik ist auch auf das selbstständige Lernen übertragbar. Einerseits sammeln die Schüler:innen aktiv innere und äußere Erfahrungen während des Lernens und werden sich ihrer bewusst, andererseits nehmen sie unbewusst durch das Schlafen und „Vergessen“ wieder Abstand zu den Lerninhalten. Diese Latenzzeit ermöglicht einen neuen Erkenntnisgewinn und die Individualisierung des Gelernten (Richter 2016, S. 48).

Durch diesen Prozess der waldorfpädagogischen Didaktik soll ein „lebendiger Unterricht“ entstehen. Anhand der obigen Ausführungen zu Methodik und Didaktik der Waldorfpädagogik wird deutlich, das Lernen in der Waldorfpädagogik als ein umfassender Prozess angesehen wird, der Motivation und Selbstständigkeit der Schüler:innen fördern soll. Dabei stellt jede Aufbereitung der Lerninhalte durch die Lehrkräfte bereits eine Transformation der Inhalte dar, da diese jeweils an die Voraussetzungen der Schüler:innen angepasst werden (Richter 2016, S. 50). Damit dies gelingt, vergleicht Steiner den Prozess der Unterrichtsgestaltung mit einem künstlerischen Prozess (Steiner 1979, S. 119). Er spricht deshalb in diesem Kontext auch von „Erziehungskunst“, den er nicht auf ein bestimmtes Unterrichtsfach bezieht, sondern als einen aktiven Prozess des Erkenntnisgewinns.

4.2 Lehrplan

Die meisten Waldorfschulen umfassen drei Schulstufen:

  • Unterstufe: Klassen 1–4
  • Mittelstufe: Klassen 5–8
  • Oberstufe: Klassen 9–12 bzw. 13, wenn als Qualifikationsziel das Abitur angestrebt wird.

Die Klassenlehrkraft übernimmt den sogenannten Hauptunterricht in den ersten Unterrichtstunden und lehrt einen Teil des Fächerkanons der Unter- und Mittelstufe. Die Klassenlehrkraft unterrichtet die Fächer Deutsch, Mathematik, Formenzeichnen bzw. Geometrie, Malerei, Zeichnen, Plastizieren sowie Sprecherziehung.

Ab Klasse 3 kommen zusätzlich Heimat- und Sachkunde bzw. Geografie hinzu, ab Klasse 4 Naturkunde bzw. Biologie, ab Klasse 6 Physik, Chemie und Gartenbau. In der Oberstufe werden die Fachunterrichte dann von den jeweiligen Fachkolleg:innen übernommen.

Schon in der Klassenstufe 1 werden jedoch auch weitere Fächer von den jeweiligen Fachkolleg:innen übernommen. Diese umfassen die Fremdsprachen, die Bewegungslehre Eurythmie, Sport, Musik, Handarbeit, Werken, Theater bzw. Puppen- und Figurenspiel sowie Musikerziehung (Chor und Instrumentalspiel).

In der Oberstufe umfasst der Fächerkanon dann Deutsch, Mathematik, Fremdsprachen, Geschichte, Sozialkunde, Kunstbetrachtung, Religion/​Ethik, Geografie (mit Wirtschaftskunde), Biologie, Physik, Chemie, Sport und Turnen, Textiles Gestalten, Technologie, Informatik, Theater/​Puppen- und Figurenspiel, Musikerziehung (Chor und Instrumentalspiel). Je nach Bundesland werden daraus ab Jahrgangsstufe 10 Leistungs- und Profilkurse, wenn das Abitur als Qualifikationsziel angestrebt wird. Daneben gibt es Projekte, Theater- und musikalische Aufführungen sowie verschiedene Schulfeste.

Die Curricula der Waldorfschulen orientieren sich an denen der staatlichen Schulen, jedoch haben sie größeren Gestaltungspielraum in der Umsetzung. Eine Angleichung der Curricula findet im Rahmen der Vorbereitungen auf die staatlichen Abschlussprüfungen statt. Insbesondere in der Oberstufe, wenn die Schüler:innen auf das Abitur vorbereitet werden, überschneiden sich die Curricula der staatlichen- und der Waldorfschulen zum größten Teil (Rohde 2022).

4.3 Lehrer:innen

Im waldorfpädagogischen Kontext wird zwischen der Klassen- und Fachlehrkraft unterschieden. Die Klassenlehrkraft hat keine Entsprechung in anderen pädagogischen Systemen, sondern ist der Waldorfpädagogik eigen. Im waldorfpädagogischen Verständnis kann der oben beschriebene dreiteilige Lernprozess nur dann stattfinden, wenn eine kontinuierliche und verlässliche Bindung zur Lehrperson aufgebaut werden kann. Dies wird als Voraussetzung für die Motivation und den Lernerfolg der Schüler:innen angesehen (Richter 2016, S. 50).

Die Klassenlehrkraft hat daher eine zentrale Bedeutung innerhalb der Waldorfpädagogik. Dies spiegelt sich auch darin wider, dass der Klassenverband während der Unter- und Mittelstufe (Klasse 1–8) erhalten bleibt. Die jeweilige Klassenlehrkraft begleitet die Schüler:innen kontinuierlich über diesen Zeitraum. Es gibt kein „Sitzenbleiben“, also die Wiederholung einer Klassenstufe.

Zwar sind Schüler:innen selbst aktiv für ihren Lernprozess verantwortlich, doch die Waldorfpädagogik geht davon aus, dass Offenheit und Interesse, sich auf Neues einzulassen, sowie der Wille zum Üben und Lernen auch auf der Seite der Lehrkraft unverzichtbar sind. Diese Qualitäten sind im waldorfpädagogischen Sinne von zentraler Bedeutung, um der Funktion einer Klassenlehrkraft gerecht zu werden. In diesem Kontext wird auch von „Selbsterziehung“ gesprochen (Richter 2016, S. 51). Damit ist gemeint, dass die eigenen pädagogischen Fähigkeiten stets weiterentwickelt werden sollen. Diese Selbsterziehung wird in der Waldorfpädagogik als wichtiger Faktor für das Lernklima in der Klasse angesehen, damit ein authentisches Vorleben gelingt, um Kinder fürs Lernen zu begeistern (Richter 2016, S. 52).

Da die ersten Schuljahre stark von der jeweiligen Klassenlehrkraft geprägt werden, hängt die Werteerziehung unmittelbar mit dieser Person zusammen. Gerade in den ersten Schuljahren kommt es zu einer normativen Wertebindung, die einerseits entlastend in einer wertepluralistischen Gesellschaft wirkt und Entscheidungsnot und Orientierungslosigkeit mindern kann. Andererseits hängt das Gelingen der Entwicklung einer eigenständigen Urteilsfähigkeit maßgeblich von den pädagogischen Fähigkeiten bzw. der Professionalisierung der Lehrkräfte ab (Büchele 2014, S. 314). Somit haben die Klassenlehrkräfte die anspruchsvolle Aufgabe, während der Klassenlehrer:innenzeit eine Vorbildfunktion zu erfüllen.

Mit der Oberstufe wandelt sich das Rollenverständnis. Nun ist es nicht mehr eine Klassenlehrkraft, sondern ein:e Stufenbetreuer:in, welche:r als Ansprechperson fungiert. Mit der Ausdifferenzierung der Qualifikationsziele wird der Fachunterricht nun vollständig durch die jeweiligen Kolleg:innen übernommen. Seit Beginn der 2000er-Jahre gibt es an manchen Waldorfschulen auch neue Mittelstufenkonzepte, bei denen die Fachunterrichte von den Kolleg:innen aus der Oberstufe übernommen werden. Zunehmend werden die Klassen auch in Lehrer:innen-Teams unterrichtet, um eine zu starke normative Prägung durch eine Person zu vermeiden.

Ebenso wie bei der Klassenlehrkraft steht auch bei Fachlehrer:innen die Vermittlung von Fachinhalten und der Aufbau einer personellen Beziehung im Vordergrund. Diese passen sich, je nach Alter und Klassenstufe der Schüler:innen, an die jeweiligen Anforderungen und Bedürfnisse an. Im Gegensatz zum fächerübergreifenden Wissen der Klassenlehrkraft steht bei den Fachlehrer:innen jedoch die spezialisierte Fachrepräsentanz im Vordergrund (Richter 2016, S. 52). Idealerweise wird eine Zusammenarbeit zwischen Klassen- und Fachlehrer:innen durch gegenseitige Hospitationen, die Abstimmung von Inhalten und regelmäßige Besprechungen angestrebt. Dieser kollegiale Austausch bietet zahlreiche Möglichkeiten kooperativen pädagogischen Arbeitens, bspw. im fachübergreifenden Unterricht.

4.4 Unterrichtsformen und Methoden

Der überwiegende Teil des Lehrplans ist für alle Schüler:innen verbindlich. In der Waldorfpädagogik wird hauptsächlich zwischen zwei Unterrichtformaten unterschieden, dem Epochen- und dem Fachunterricht (Richter 2016, S. 53).

Der Epochenunterricht ist ein Spezifikum der Waldorfschulen. In dieser Unterrichtsform, deren Einheit etwa 110 Minuten umfasst, werden die Fächer des Lehrplans der Klassenlehrkraft unterrichtet. In dieser Zeit wird insbesondere auf die „Rhythmisierung“ geachtet. Damit ist das „produktive Vergessen“ am Ende der Epoche bzw. zwischen Lernschritten oder auch Unterrichtabschnitten gemeint. Dies soll das Erinnern des Gelernten nach einer Pause ermöglichen. Verschiedene Methodenwechsel sorgen für Struktur und Abwechslung, um eine Ermüdung zu vermeiden (Richter 2016, S. 55).

Auch in den Fachunterrichten kann, je nach Unterrichtsthema, ggf. in Epochen unterrichtet werden, insbesondere in der Mittel- und Oberstufe. Fachunterrichte, die eines kontinuierlichen Übens bedürfen, wie bspw. Fremdsprachen oder Mathematik, werden dagegen in regelmäßigen Fachstunden unterrichtet.

Zu den gebräuchlichsten Unterrichtsformen und -methoden gehören:

  • integrierter Frontalunterricht,
  • Gruppenarbeitsphasen,
  • das bewegte Klassenzimmer („Bochumer Modell“, ergänzend, insbesondere in der Unterstufe). Hier wird der Raum bzw. das meist aus Bänken und Sitzkissen bestehende Mobiliar je nach Methode und Unterrichtsform schnell den unterrichtlichen Gegebenheiten angepasst. (Richter 2016, S. 60).

Ergänzt werden diese Unterrichtsformen durch Wahl- bzw. Wahlpflichtangebote sowie verschiedene Lern- und Dokumentationsformen.

4.5 Projekte, Exkursionen und Praktika

Die direkte Verbindung der Schüler:innen zum Lernstoff ist ein zentrales Anliegen der Waldorfpädagogik, weshalb Projekte, Exkursionen und Praktika ein wichtiger Bestandteil des Lehrplans sind. Epochen können beispielsweise als fach- und jahrgangsübergreifende Projekte gestaltet werden. Auch Themenwochen werden an vielen Schulen umgesetzt. Ebenso haben die Portfolioarbeit und die „Jahresarbeit“ (s.u.) den Charakter eines Projektunterrichts.

Exkursionen dienen insbesondere in der Mittel- und Oberstufe dazu, vielfältige Einblicke in die nicht-schulische Welt zu geben. Sie sind somit eine wichtige Ergänzung zu schulisch bzw. theoretisch gelerntem Wissen.

Praktika beginnen in der oberen Mittelstufe und haben bis zur Oberstufe meist zwei bis drei Wochen Länge. Dabei variieren Zeitpunkt und Länge je nach Entwicklungsstufe der Schüler:innen, werden aber auch von Schule zu Schule unterschiedlich gestaltet. Praktika haben das Ziel, einen Miteinbezug in die Arbeitsprozesse anzuregen, bspw. in den Bereichen Natur oder Nahrungserzeugung. Des Weiteren gibt es Forst-, Landwirtschafts- und Ökologiepraktika, Handwerks-, Betriebs- und Industriepraktika sowie Sozialpraktika. Die Erfahrungen werden in Form von Tagebüchern, Berichtsheften und Portfolios dokumentiert. Die Praktika werden im Klassenverband, als Einzel- oder Kleingruppenpraktika durchgeführt (Richter 2016, S. 56 f.).

4.6 Unterrichtsmittel

Im Unterricht an Waldorfschulen werden unterschiedliche Lernmittel verwendet, wobei hauptsächlich zwischen „aktiven“ und „passiven“ Unterrichtsmitteln unterschieden wird (Richter 2016, S. 61).

„Aktive Lernmittel“ umfassen

  • Lesebücher,
  • Primärliteratur,
  • Textsammlungen,
  • Originaldokumente,
  • eigene Arbeitspapiere,
  • Statistiken und
  • Nachschlagewerke.

Ziel der Arbeit mit den aktiven Lernmitteln ist es, den Umgang mit diesen Materialien sowie eine selbstständige Sicherung von Unterrichtsergebnissen zu erlernen. Dadurch kann eine Individualisierung der Materialien erreicht werden, da die Schüler:innen ihre Materialien im Rahmen des Unterrichts selbst erstellen. Die Schüler:innen üben sich in der Beschreibung, Protokollierung und Systematisierung des so erlangten Wissens. Dies bildet die Grundlage für den Unterricht und das weitere selbstständige Lernen an Waldorfschulen.

In der Unterstufe geschieht dies zunächst unter der Anleitung der Klassenlehrkraft. Im Wesentlichen geschieht dies in Form des sogenannten Epochenheftes. Neben der unterrichtsinhaltlichen Auseinandersetzung spielen auch künstlerisch-ästhetische Aspekte eine wesentliche Rolle, bei der sich die Schüler:innen individuell mit den Inhalten beschäftigen (Richter 2016, S. 62). In der Oberstufe liegt die Gestaltung der Epochenhefte dann in der Freiheit der Schüler:innen und wird schließlich durch das Portfolio ersetzt. Das Epochenheft wird zu einer „Mappe“ erweitert. Alles, was die Schüler:innen zu einem bestimmten Thema finden, ob textliches oder bildliches Material, Gesprächsnotizen, Gedankenskizzen etc. wird gesammelt, gesichtet, geordnet und reflektiert und am Ende des Schuljahres ggf. präsentiert. Das Ziel der Portfolioarbeit ist es, individuelle Lernwege zu ermöglichen und den Schüler:innen die Verantwortung für den eigenen Lernprozess zu geben (Richter 2016, S. 63).

Als „passive Lernmittel“ gelten bspw.

  • Lehrbücher,
  • Sekundärquellen und
  • audiovisuelle Quellen.

Diese werden im Rahmen der Waldorfpädagogik nach Möglichkeit in geringerem Umfang genutzt, als in anderen Schulformen, da hierdurch im Sinne der oben ausgeführten Didaktik den Schüler:innen eine vorgefertigte Weltsicht präsentiert werde. Passive Lernmittel werden insbesondere in der Oberstufe oder in Phasen des selbstständigen Lernens eingesetzt.

4.7 Leistungsbeurteilung und Abschlüsse

Für die Leistungsdifferenzierung und -beurteilung gibt es verschiedene Formate, welche Text- und Notenzeugnisse sowie Portfolios umfassen. In den ersten Klassenstufen werden Textzeugnisse verwendet, die sich zunächst an die Eltern richten und Einblicke in die Lernfortschritte und -prozesse ihrer Kinder geben. Mit den höheren Klassenstufen richten sich die Zeugnisse zunehmend an die Schüler:innen selbst. Mit dem Übergang in die Mittel-, spätestens jedoch in der Oberstufe, werden die Textzeugnisse durch Notenzeugnisse abgelöst (Richter 2016, S. 76).

Die (Text-)Zeugnisse geben dabei eine Rückschau über das gesamte Schuljahr und werden von den Klassen- und Fachlehrkräften geschrieben. Die Formulierung ist dabei eine besondere Herausforderung, da die Zeugnisse zwar charakterisierend, jedoch nicht beurteilend gewählt werden sollen. Sie haben den Anspruch, verständlich, sachlich und wertschätzend zu sein, nicht aber vergleichend. Fortschritte sollen gemäß der individuellen Lernentwicklung gemessen werden.

In den Klassen 8 und 12 setzen Lehrer:innen auch Portfolios als Grundlage für die Leistungsbewertung ein (s.o.). Diese sind zugleich auch Unterrichtsmittel, insbesondere in Form einer Abschlussarbeit zu einem von den Schüler:innen selbstgewählten Thema. Somit ergibt sich eine Dokumentation dessen, was die Schüler:innen während des Schuljahres gelernt und geleistet haben (Richter 2016, S. 62–63).

Die Waldorfschulen bieten Schulabschlüsse bis zum Abitur an, je nach Schule und Schulkonzept können diese aber auch nur bis zum Abschluss der Sekundarstufe I führen oder auch zusätzlich berufsbildende Abschlüsse in einem dualen System umfassen.

4.8 Lehrer:innenausbildung

Die Waldorfschulbewegung ist die einzige freie Schulform, die neben der staatlichen Ausbildung der Lehrkräfte für die Regelschulen eine grundständige Ausbildung im Bachelor- und Mastersystem für den Unterricht an Waldorfschulen anbietet. Diese findet an zwei Hochschulen in Alfter/​Mannheim und Stuttgart statt. Daneben werden die Lehrkräfte in Form einer i.d.R. zweijährigen seminaristischen Ausbildung auf ihren Beruf vorbereitet. An den insgesamt neun Lehrer:innenseminaren in Deutschland werden die Lehrkräfte als Klassen- und Fachlehrkraft für verschiedene Klassenstufen ausgebildet.

5 Geschichte

5.1 Gründung der ersten Waldorfschule

Nach dem Ende des ersten Weltkrieges wurde der Stuttgarter Unternehmer Emil Molt auf Steiner aufmerksam. Molt leitete die Waldorf-Astoria Zigarrenfabrik, woraus sich der spätere Name „Waldorfschule“ bzw. „Waldorfpädagogik“ ableitete. Zunächst beauftragte Emil Molt Steiner damit, Fortbildungskurse für seine Arbeiter:innen zu konzipieren. Bald darauf wünschten sich diese, dass Steiner für ihre Kinder ähnliche Kurse anbiete. Molt beauftragte Steiner daraufhin mit der Gründung einer Schule und der Entwicklung eines Lehrplans. Im Kontext dieser Schulgründung entstand die Waldorfpädagogik in ihren Grundzügen, welche vom ersten Kollegium, welches Steiner berief, weiterentwickelt wurde (Frielingsdorf 2019, S. 28).

Die erste Freie Waldorfschule wurde am 7. September 1919 als „einheitliche Volks- und höhere Schule“ in Stuttgart Uhlandshöhe eröffnet. Das Konzept der Schule beinhaltete, dass die Schule Kindern aus allen sozialen Schichten und unabhängig von Konfession oder Weltanschauung der Eltern zugänglich sein sollte. Dieses Konzept beinhaltete auch, dass die Schüler:innen nicht nach Leistung selektiert wurden, ähnlich dem heutigen Konzept der integrativen Gesamtschule.

5.2 Zeit der Ausbreitung der Waldorfpädagogik (1925-1933)

In den folgenden fünf Jahren hielt Steiner Vorträge, machte Unterrichtsbesuche und organisierte rund 70 Konferenzen. Im Zuge dessen wurde gemeinsam mit dem Kollegium die kollegiale Selbstverwaltung der Schulen entwickelt und das pädagogische Konzept weiter verfeinert (Richter 2016, S. 28). Ausgehend von der Schulgründung in Stuttgart gab es nach dem Tod Steiners 1925 zahlreiche Neugründungen, zunächst in Deutschland, dann auch in Österreich und der Schweiz. Mit den Neugründungen entwickelte sich das pädagogische Konzept weiter. In der Schweiz entstand zeitgleich eine eigenständige anthroposophische Pädagogik, was sich bis heute in einem eigenen Selbstverständnis der Schweizer Waldorfschulen niederschlägt (Frielingsdorf 2019, S. 111–116).

5.3 Situation der Schulen während der NS-Zeit (1933-1945)

Die Situation der Waldorfschulen in Deutschland während des Nationalsozialismus war uneinheitlich. Da die Schulen aufgrund der kollegialen Selbstverwaltung jeweils unabhängig voneinander agierten, wählten die Kollegien unterschiedliche Handlungsoptionen in der Phase der allgemeinen Gleichschaltung.

Die Schulen in Stuttgart, Hamburg-Wandsbek und Dresden reagierten mit Schulschließungen, andere versuchten sich dem Regime anzubiedern (Frielingsdorf 2019, S. 156–169). Einige Schulen kooperierten mit dem NS-Regime durch die Gründung und Einführung des „Reichsverbandes der Waldorfschulen“. Einen Sonderfall stellte die „Hilfsschulklasse“ dar, einer Klasse für Kinder mit gesondertem Förderbedarf von Karl Schubert (1888-1948). Der jüdische Lehrer unterrichtete die Kinder im Untergrund bis zum Ende des Krieges und konnte vor seiner Deportation flüchten (Hanke 2004).

5.4 Neugründungen in der Nachkriegszeit ab 1945

In den Nachkriegsjahren kam es zu einem regelrechten Gründungsboom, der in zwei Phasen geteilt werden kann. In der ersten Phase wurden einige Schulen wiedereröffnet, andere neu gegründet. Dies führte zeitweilig sogar zu einem Gründungsstopp ab 1951. Der Oberstufenunterricht wurde ausdifferenziert, sodass es nun die Möglichkeit gab, an einigen Waldorfschulen erstmals das Abitur und weitere Schulabschlüsse zu erreichen.

Auch Praktika und Jahresarbeiten wurden nun eingeführt. Zum Teil erweiterten die Schulen dieses Konzept und integrierten eine Berufsausbildung in die Oberstufe. Daneben entstanden Tagesschulen und heilpädagogische Einrichtungen im Rahmen der Waldorfschulbewegung, wie bspw. die Camphill-Gemeinschaften. Des Weiteren wurden die Waldorfkindergärten entwickelt und weitere Ausbildungsseminare für Lehrkräfte etabliert sowie der Bund der Freien Waldorfschulen als institutionelle Vertretung der Schulen gegründet (Frielingsdorf 2019, S. 203–235).

Die zweite Phase der Neugründungen und Expansion begann in den 1970er-Jahren. Über Deutschland, Österreich und der Schweiz hinaus wurden nun auch Schulen in weiteren europäischen Ländern und schließlich weltweit gegründet. In dieser Zeit wurden durch den Bund der Freien Waldorfschulen neue Kriterien für Schulgründungen erarbeitet und die neugegründeten Oberstufen der 1950er-Jahre angepasst und reformiert (Frielingsdorf 2019, S. 253–258).

Parallel zum Gründungsboom in den 1970-Jahren wurden zahlreiche neue Ausbildungsseminare eingerichtet (v.a. Witten-Annen, Mannheim, Kassel, Heidenheim, Berlin, Hamburg, Kiel). In dieser Zeit entstanden auch zahlreiche Fachtagungen und Weiterbildungskurse. Seit der Gründung der Hochschulen ab 1999 wird der wissenschaftliche Austausch zunehmend forciert und die Ausbildung stärker an erziehungswissenschaftliche Inhalte angebunden.

In der ehemaligen DDR konnte zunächst die Dresdener Schule wiedereröffnet werden, musste jedoch bereits 1949 durch ein Verbot der SED wieder schließen. Nach der Wiedervereinigung gibt es seit 1990 zahlreiche Neugründungen in den neuen Bundesländern (Frielingsdorf 2019, S. 350–356).

5.5 Ab 1990

Seit den 1990er-Jahren differenziert sich die Waldorfschulbewegung weiter aus. Die (Stand 2023) 253 Schulen in Deutschland haben verschiedene pädagogische Schwerpunkte und entwickelten unterschiedliche Ansätze und Konzepte für Schule und Unterricht. Insbesondere neue Mittelstufenmodelle, die die Fahlehrkräfte stärker mit einbeziehen und so und eine neue Betrachtung der Rolle der Klassenlehrkraft ermöglichen, sowie eine stärkere Orientierung für inklusives Unterrichten spielen hier eine Rolle (Bläser 2020, Frielingsdorf 2019, 349 ff.).

6 Rezeption und Kritik

6.1 Rezeption der Waldorfpädagogik in Wissenschaft und Öffentlichkeit

Die allgemeine Wahrnehmung der Waldorfpädagogik hat sich in den vergangenen Jahren immer wieder gewandelt, sowohl im wissenschaftlichen als auch im öffentlichen Diskurs. So wurde häufig Kritik an der Waldorfpädagogik geäußert mit dem Vorwurf der „Weltanschauungsschule“ (Zander 2007, 2019), insbesondere von den beiden großen christlichen Kirchen (Götte 2006).

In den 1970er- und 1980er-Jahren pendelte die Rezeption immer wieder zwischen wohlwollendem Interesse und harscher Kritik (Prange 1985, Ullrich 1986), auch im erziehungswissenschaftlichen Diskurs. Seit den 1990er-Jahren weichen die Positionen jedoch zugunsten einer differenzierten Sichtweise auf, zu der die zunehmende Erforschung der Waldorfpädagogik maßgeblich beiträgt. So besteht seit Beginn der 1990er-Jahre ein konstruktiver Diskurs zwischen Erziehungswissenschaft und den Ausbildungsstätten der Waldorflehrkräfteausbildung, wie an gemeinsamen Publikationen und Konferenzen zu erkennen ist (Schieren 2016).

Seit Ausbruch der Coronapandemie 2020 gerieten die Waldorfschulen jedoch wieder in die Schlagzeilen, da sich vereinzelt Schulen im Milieu von Verschwörungsideolog:innen, Impfgegner:innen und rechten Ideologien verorteten. Zahlreiche Schulen positionierten sich jedoch dagegen, was innerhalb der Waldorfbewegung zu mehr oder weniger offen ausgetragenen Konflikten führte (Bund der Freien Waldorfschulen 2022, Ley 2021).

6.2 Kulturauffassung und „Rassismusvorwurf“

Der Begriff „Rassismusvorwurf“ beschreibt die immer wieder aufflammende Kritik an der Anthroposophie seit den 1980er Jahren (Martins 2012). Da der Kulturbegriff Steiners stark normativ geprägt ist, ist dieser aus heutiger Perspektive höchst problematisch. Steiners Kulturauffassung geht auf einen angenommenen Kulturuniversalismus zurück. Das bedeutet, dass bestimmte Normen und Prinzipien universell für alle Kulturen gälten. Steiner vertritt einen Kulturessentialismus innerhalb seines anthroposophischen Weltbildes. Kulturessentialismus meint, dass Menschen aus gleichen Kulturräumen – zumeist als Territorien verstanden – homogen sind. Demnach gibt es einen gemeinsamen kulturellen Kern, den alle Mitglieder einer Kultur „essentiell“ teilen. Ihr Verhalten ist durch ihre kulturelle Zugehörigkeit bestimmt (Holliday 2011, 4 ff.). Diese Perspektive ist sehr kritisch zu bewerten, da sie, wie auch im Fall Rudolph Steiners, rassisistischen und anitsemitischen Positionen Vorschub leistet. Gleichzeitig vertritt Steiner ein humanistisches bzw. idealistisches Verständnis von Bildung. Steiner übernimmt Ideen von Hegel, Herder und Wilhelm von Humboldt. Diese regen einen Perspektivwechsel an. Durch die Konfrontation mit dem Unbekannten entstünde ein Gefühl der Entfremdung, welches die Ausbildung der eigenen Identität erst möglich mache (vgl. Hegels „Finden des Eigenen im Fremden“, zitiert nach Auernheimer 2008, 65 ff.).

Steiner geht, ähnlich wie Herder und von Humboldt, von einheitlichen, in sich abgeschlossenen „Volkskulturen“ aus, die es laut Steiner jedoch zu überwinden gilt (Steiner 2005, S. 37). Diese normativen Kulturbeschreibungen und das damit verbundene „Othering“ sind aus heutiger Perspektive sehr kritisch zu beurteilen. Rudolf Steiner vertritt stark widersprüchliche Aussagen, von denen insbesondere die Wurzelrassentheorie höchst problematisch ist, da sie rassistische und antisemitische Aussagen enthält (Schmelzer 2015, S. 179).

Obwohl Steiners Kulturalismus mit dem damaligen Kulturverständnis zusammenhängt, ist dies damit aus heutiger Sicht jedoch nicht zu entschuldigen. Seit einiger Zeit versuchen verschiedene Akteur:innen, diese Passagen aufzuarbeiten und zu kontextualisieren. Weite Teile der Waldorfbewegung distanzieren sich ausdrücklich von diesen Textstellen, da sie in starkem Widerspruch zu den Erziehungsidealen stehen, die mit der „Stuttgarter Erklärung – Waldorfschulen gegen Rassismus und Diskriminierung“ verbindlich für alle Waldorfschulen festgelegt wurde. (Bund der Freien Waldorfschulen 2020). In Bezug auf die erwähnten problematischen Textpassagen Steiners heißt es hier:

„Die Anthroposophie als Grundlage der Waldorfpädagogik richtet sich gegen jede Form von Rassismus und Nationalismus. Die Freien Waldorfschulen sind sich bewusst, dass das Gesamtwerk Rudolf Steiners vereinzelt Formulierungen enthält, die von einer rassistisch diskriminierenden Haltung der damaligen Zeit mitgeprägt sind. Die Waldorfschulen distanzieren sich von diesen Äußerungen ausdrücklich. Sie stehen im vollständigen Widerspruch zur Grundausrichtung der Waldorfpädagogik und zum modernen Bewusstseinswandel.“ (Bund der Freien Waldorfschulen 2020)

Für einen weiteren Einstieg in diese Debatte hat sich insbesondere Ansgar Martins mit den rassistischen und antisemitischen Positionen Steiners auseinandergesetzt und Steiners Kulturbegriff problematisiert. Aber auch weitere Autor:innen haben zum Themenkomplex Rassismus und Antisemitismus bei Steiner gearbeitet (Bohnsack 1994; Buechele 2014, S. 146–148; Geuenich 2009; Martins 2012; Ullrich 1991; Zander 2007, 2019).

6.3 Kritik am Prinzip der Klassenlehrkraft

Insbesondere das Prinzip der Klassenlehrkraft erfährt immer wieder Kritik. Ein mehrfach geäußerter Kritikpunkt lautet, dass es sich hierbei um ein autokratisches pädagogisches Verständnis handle (Sadigh 2019). Damit geht eine Infragestellung an der fachlichen Eignung und Professionalität der Lehrkräfte einher, da die Anforderungen durch den großen Fächerkanon, die vielschichtigen Unterrichtsinhalte sowie die komplexer werdende Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen mit ihren Herausforderungen stetig steigen.

7 Quellenangaben

Auernheimer, Georg, 2008. Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität. 2. Auflage. Wiesbaden: Springer VS. ISBN 978-3-531-19930-6

Bund der Freien Waldorfschulen, 2020. Waldorfschulen gegen Rassismus und Diskriminierung: Stuttgarter Erklärung. [online] [Zugriff am: 13.11.2023]. Verfügbar unter: https://www.waldorfschule.de/ueber-uns/​printmedien/​broschueren/​erklaerungen/​stuttgarter-erklaerung/

Bund der Freien Waldorfschulen, 2022. Waldorfschulen vertreten eine klare Haltung: „Kein Platz für Ideologen!“: Pressemitteilung. [online] [Zugriff am: 13.11.2023]. Verfügbar unter: https://www.waldorfschule.de/artikel/​waldorfschulen-vertreten-eine-klare-haltung-kein-platz-fuer-ideologen

Bund der Freien Waldorfschulen. Schulverzeichnis. [online] [Zugriff am: 13.11.2023]. Verfügbar unter: https://www.waldorfschule.de/schulen/​schulsuche/​schulverzeichnisse

Bläser, Bärbel, 2020. Schule – menschlich: Das inklusive Potenzial der Waldorfpädagogik. Stuttgart: Pädagogische Forschungsstelle Stuttgart. ISBN 978-3-939374-90-9

Bohnsack, Fritz, Hrsg., 1994. Erziehungswissenschaft und Waldorfpädagogik: Der Beginn eines notwendigen Dialogs. 2. Auflage. Weinheim, Basel: Beltz. ISBN 978-3-407-34050-4

Buechele, Mandana, 2014. Kultur und Erziehung in der Waldorfpaedagogik: Analyse und Kritik eines anthroposophischen Konzepts interkultureller Bildung. Frankfurt: Peter Lang. ISBN 978-3-631-64716-5

Frielingsdorf, Volker, 2019. Geschichte der Waldorfpädagogik: Von ihrem Ursprung bis zur Gegenwart. Weinheim, Basel: Belty. ISBN 978-3-407-25802-1

Geuenich, Stephan, 2009. Die Waldorfpädagogik im 21. Jahrhundert. Eine kritische Diskussion. Berlin, Münster: Lit. ISBN 978-3-643-10347-5

Götte, Wenzel, 2006. Erfahrungen mit Schulautonomie: Das Beispiel der Freien Waldorfschule: Das Beispiel der Freien Waldorfschulen. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben. ISBN 978-3-7725-1852-2

Grunder, Hans-Ulrich, 2015. Schulreform und Reformschule. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. ISBN 978-3-8252-4181-0

Hanke, Hans Jürgen, 2004. Karl Schubert: Lebensbilder und Aufzeichnungen. Verlag am Goetheanum: Dornach. ISBN 978-3-7235-1214-2

Hentig, Hartmut von, 2003. Die Schule neu denken: Eine Übung in pädagogischer Vernunft. Beltz: Weinheim. ISBN 978-3-407-22119-3

Holliday, Adrian, 2011. Intercultural Communication and Ideology. SAGE: London. ISBN 978-1-8478-7387-3

Ley, Julia, 2021. Wie die Waldorfbewegung mit Corona-Verharmlosern kämpft. [online] [Zugriff am: 13.11.2023]. Verfügbar unter: https://www.br.de/nachrichten/​bayern/​wie-die-waldorf-bewegung-mit-corona-verharmlosern-kaempft,SVyJA5P

Martins, Ansgar, 2012. Rassismus und Geschichtsmetaphysik: Esoterischer Darwinismus und Freiheitsphilosophie bei Rudolf Steiner. Frankfurt am Main: Info3 Verlag. ISBN 978-3-9243-9163-8

Prange, Klaus, 1985. Erziehung zur Anthroposophie. Klinkhardt, Bad Heilbrunn. ISBN 978-3-7815-0579-7

Richter, Tobias, 2016. Pädagogischer Auftrag und Unterrichtsziele – vom Lehrplan der Waldorfschule. 4. Auflage. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben (Menschenkunde und Erziehung Band: 69). ISBN 978-3-7725-4190-2

Rohde, Dirk, 2022. Waldorfschulen und das Landesabitur: Eine vergleichende Studie am Beispiel des Leistungsfaches Biologie in Hessen. Weinheim, Basel: Belz Juventa. ISBN 978-3-7799-7014-9 [Rezension bei socialnet]

Sadigh, Parvin, 2019. Waldorfschulen: „In der Unterstufe herrscht ein autokratisches Regime“: Interview mit Heiner Ullrich. [online]ZEIT ONLINE [Zugriff am: 13.11.2023]. Verfügbar unter: https://www.zeit.de/gesellschaft/​schule/​2019-04/​waldorfschulen-paedagogik-heiner-ullrich-entschleunigung-noten-g8,

Schieren, Jost, 2016. Handbuch Waldorfpädagogik und Erziehungswissenschaft: Standortbestimmung und Entwicklungsperspektiven. Weinheim: Beltz. ISBN 978-3-7799-3129-4 [Rezension bei socialnet]

Schmelzer, Albert, 2015. Interkulturalität und Waldorfpädagogik. Wie kann der Umgang mit kultureller Differenz pädagogisch gestaltet werden? In: RoSE – Research On Steiner Education (6 (Special Edition ENASTE)), S. 175–184. ISSN 1891-6511

Steiner, Rudolf, 1979. Anthroposophische Menschenkunde und Pädagogik. 9 öffentl. Vorträge, gehalten zwischen d. 25. März 1923 u.d. 30. August 1924 in verschiedenen Städten. Dornach/​Schweiz: Rudolf-Steiner-Verlag (Rudolf Steiner Gesamtausgabe, 304a). ISBN 978-3-7274-3046-6

Steiner, Rudolf, 1982. Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus und zurzeitlage. 1915–1921. 2. Auflage. Dornach: Rudolf Steiner Verlag (Rudolf Steiner Gesamtausgabe, 24). ISBN 978-3-7274-0240-1

Steiner, Rudolf, 2005. Die Krisis der Gegenwart und der Weg zu gesundem Denken. Zehn öffentliche Vorträge, gehalten in Stuttgart zwischen 2. März und 10. November 1920. Dornach: Rudolf Steiner Verlag (Rudolf Steiner Gesamtausgabe, 335). ISBN 978-3-7274-3350-4

Steinwachs, Frank, 2022. „Latente Fragen“ – eine Suchbewegung zwischen Ich und Welt. In: Angelika Wiehl und Frank Steinwachs, Hrsg. Studienbuch Waldorf-Jugendpädagogik. Bad Heilbrunn: UTB; Verlag Julius Klinkhardt, S. 43–52. ISBN 978-3-8252-5822-1 [Rezension bei socialnet]

Ullrich, Heiner, 1986. Waldorfpädagogik und okkulte Weltanschauung. Juventa: Weinheim. ISBN 978-3-7799-0664-3

Ullrich, Heiner, 1991. Waldorfpädagogik und okkulte Weltanschauung: Eine bildungsphilosophische und geistesgeschichtliche Auseinandersetzung mit der Anthropologie Rudolf Steiners. 3. Auflage. Weinheim, München: Juventa. ISBN 978-3-7799-0664-3

Wagenschein, Martin, 1999. Verstehen lehren: Genetisch – Sokratisch – Exemplarisch. 5. Auflage. Weinheim, Grünwald: Beltz Verlagsgruppe; Preselect.media (Reformpädagogik, 22). ISBN 978-3-407-22022-6

Wiehl, Angelika, 2015. Propädeutik der Unterrichtsmethoden in der Waldorfpädagogik. Frankfurt: Peter Lang. ISBN 978-3-6316-6832-0

Zander, Helmut, 2007. Anthroposophie in Deutschland: Theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis 1884–1945. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. ISBN 978-3-5253-6753-7

Zander, Helmut, 2019. Die Anthroposophie: Rudolf Steiners Ideen zwischen Esoterik, Weleda, Demeter und Waldorfpädagogik. Paderborn: Ferdinand Schöningh. ISBN 978-3-657-79225-2

8 Literaturempfehlungen

Ullrich, Heiner (2015): Waldorfpädagogik. Eine kritische Einführung. Weinheim: Beltz. ISBN 978-3-407-25721-5 [Rezension bei socialnet]

Rohde, Dirk (2021): Waldorfpädagogik – eine Bestandsaufnahme. Erziehungswissenschaftliche Studien. Weinheim: Beltz. ISBN 978-3-7799-6534-3 [Rezension bei socialnet]

Schieren, Jost (2016): Handbuch Waldorfpädagogik und Erziehungswissenschaft. Standortbestimmung und Entwicklungsperspektiven. Weinheim: Beltz. ISBN 978-3-7799-3129-4 [Rezension bei socialnet]

Richter, Tobias (Hrsg.) (2019): Pädagogischer Auftrag und Unterrichtsziele – vom Lehrplan der Waldorfschule. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben. ISBN 978-3-7725-2669-5

Wiehl, Angelika (Hrsg.) (2019): Studienbuch Waldorf-Schulpädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. ISBN 978-3-8252-5231-1 [Rezension bei socialnet]

Verfasst von
Larissa Beckel
Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Alanus Hochschule im Institut für Waldorfpädagogik, Inklusion und Interkulturalität
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Zitiervorschlag
Beckel, Larissa, 2023. Waldorfschule [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 14.11.2023 [Zugriff am: 15.02.2025]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/28317

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