Werkstättenverordnung
Prof. Dr. Michael Boecker
veröffentlicht am 22.05.2023
Die Werkstättenverordnung (WVO) definiert die Aufgaben und Organisation der Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM).
Überblick
- 1 Regeln und Inhalte
- 2 Geschichte
- 3 Aktuelle Herausforderungen, Ausblick und kritische Reflexion
- 4 Quellenangaben
- 5 Literaturhinweise
- 6 Informationen im Internet
1 Regeln und Inhalte
Die WVO gliedert sich in die zwei Abschnitte:
- Fachliche Anforderung an die Werkstatt für behinderte Menschen und
- Verfahren zur Anerkennung als Werkstatt für behinderte Menschen
1.1 Fachliche Anforderungen an die WfbM
Zu den fachlichen Anforderungen an die WfbM gehören gem. § 1 WVO der Grundsatz der einheitlichen Werkstatt. Die Werkstatt für behinderte Menschen hat zur Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sie die behinderten Menschen im Sinne des § 219 Abs. 2 SGB IX aus ihrem Einzugsgebiet aufnehmen kann. § 1 Abs. 2 WVO führt weiter aus, dass der unterschiedlichen Art der Behinderung und ihren Auswirkungen innerhalb der Werkstatt durch geeignete Maßnahmen, insbesondere durch Bildung besonderer Gruppen im Berufsbildungs- und Arbeitsbereich, Rechnung getragen werden soll.
§ 2 WVO regelt die Einrichtung und Beteiligung eines Fachausschusses, der sich aus Vertreter:innen der Werkstatt, der Bundesagentur für Arbeit und des überörtlichen Trägers der Sozialhilfe oder des nach dem Landesrecht bestimmten örtlichen Trägers der Sozialhilfe zusammensetzt. Der Fachausschuss gibt vor der Aufnahme des behinderten Menschen in die Werkstatt gegenüber dem im Falle einer Aufnahme zuständigen Rehabilitationsträger eine Stellungnahme ab, ob der behinderte Mensch für seine Teilhabe am Arbeitsleben und zu seiner Eingliederung in das Arbeitsleben Leistungen einer Werkstatt für behinderte Menschen benötigt oder ob andere Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Betracht kommen, insbesondere Leistungen der Unterstützten Beschäftigung nach § 55 SGB IX (§ 2 Abs. 2 WVO).
Weitere Regelungen der WVO definieren die Anforderungen an das Eingangsverfahren (§ 3 WVO), den Berufsbildungsbereich (§ 4 WVO) sowie den Arbeitsbereich (§ 5 WVO), siehe dazu Werkstatt für behinderte Menschen.
In § 7 WVO ist darüber hinaus geregelt, dass die Größe der Werkstatt in der Regel mindestens über 120 Plätze verfügen muss. Die Mindestgröße bezieht sich dabei auch auf Werkstattverbünde im Sinne des § 15 WVO. Darüber hinaus finden sich weitere Regelungen zur baulichen Gestaltung, Ausstattung und Standort (§ 9 WVO), zur Wirtschaftsführung (§ 12 WVO) und zu den Formen der Werkstatt (§ 16 WVO.).
Auch die Anforderungen an die Werkstattleitung und das Fachpersonal zur Arbeits- und Berufsförderung (§ 9 WVO) sowie die Teilnahme an Fortbildungen (§ 11 WVO) sind in der WVO verortet.
Eine grundsätzliche Besonderheit stellt das Beschäftigungsverhältnis der Menschen mit Behinderungen in Werkstätten dar. Dieses ist in § 13 WVO (Abschluss von schriftlichen Verträgen) geregelt, indem der § 13 Abs. 1 WVO auf das arbeitnehmerähnliche Rechtsverhältnis zwischen Werkstatt und behinderten Menschen hinweist, was zahlreiche Folgen, unter anderem für das Entlohnungssystem sowie die Rechtsstellung des Menschen mit Behinderung mit sich bringt. Dies zeigt sich unter anderem auch im § 14 WVO, der die Mitbestimmung, Mitwirkung und Frauenbeauftragte regelt. Im Gegensatz zu einer gesetzlich geregelten Mitarbeitervertretung im Sinne eines Betriebsrats o.Ä. hat die Werkstatt lediglich eine angemessene Mitbestimmung und Mitwirkung der Werkstatträte sicherzustellen und den Frauenbeauftragten eine Interessenvertretung zu ermöglichen.
Eine weitere Besonderheit stellen die in § 10 WVO definierten Anforderungen an die Begleitenden Dienste dar, welche die pädagogische, soziale und medizinische Betreuung sicherstellen sollen (§ 10 Abs. 1 WVO) und dafür für je 120 behinderte Menschen in der Regel ein:e Sozialpädagog:in oder ein:e Sozialarbeiter:in vorhalten muss (§ 10 Abs. 2 WVO).
1.2 Verfahren zur Anerkennung als Werkstatt für behinderte Menschen
Das Verfahren zur Anerkennung als Werkstatt für behinderte Menschen regeln die §§ 17 und 18 WVO. Eine Grundvoraussetzung der Anerkennung stellt die Erfüllung der in § 219 SGB IX definierten Aufgaben der Werkstatt für behinderte Menschen dar, insbesondere
„[…] denjenigen behinderten Menschen, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht, noch nicht oder noch nicht wieder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt werden können,
- eine angemessene berufliche Bildung und eine Beschäftigung zu einem ihrer Leistung angemessenen Arbeitsentgelt aus dem Arbeitsergebnis anzubieten und
- zu ermöglichen, ihre Leistungs- oder Erwerbsfähigkeit zu erhalten, zu entwickeln, zu erhöhen oder wiederzugewinnen und dabei ihre Persönlichkeit weiterzuentwickeln. […]“ (§ 219 Abs. 1 SGB IX).
Gem. § 17 Abs. 3 WVO können auch Werkstätten im Aufbau unter Auflagen befristet anerkannt werden, wenn zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag auf Anerkennung wenigstens 60 Plätze vorhanden sind und sofern gewährleistet ist, dass die Werkstatt im Endausbau, spätestens nach 5 Jahren, die Voraussetzungen des § 7 WVO erfüllt.
2 Geschichte
Schon in der Weimarer Republik gab es Nachteilsausgleiche für Schwerbeschädigte, die zunächst das Ziel verfolgten, die große Zahl an Kriegsversehrten des Ersten Weltkriegs in das bürgerliche Leben wieder einzugliedern. Das Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter – Schwerbeschädigtengesetz – vom 6. April 1920 war eine spezialgesetzliche Ausprägung des Rechts auf Arbeit gemäß Art. 163 der Weimarer Reichsverfassung. Es erfasste auch die Opfer von Arbeitsunfällen und Blinde. Damit wurde eine Beschäftigungspflicht der Arbeitgeber zugunsten der Schwerbeschädigten eingeführt, soweit sie mehr als 20 Arbeitnehmer:innen beschäftigten. Ziel war es, zwei Prozent aller Arbeitsplätze für Schwerbeschädigte zur Verfügung zu stellen. Die Einstellungspflicht war flankiert durch eine Aufsichts- und Kontrollbefugnis der zuständigen Behörden. Zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber musste die Hauptfürsorgestelle zustimmen. Das Schwerbeschädigtengesetz in der Fassung vom 12. Januar 1923 wurde in der Bundesrepublik Deutschland durch das Schwerbeschädigtengesetz vom 16. Juni 1953 abgelöst. (Schreiner 2017)
1961 wurde mit dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) das Recht auf ein menschenwürdiges Leben verankert – unabhängig von der Erwerbsfähigkeit und Erwerbstätigkeit. Mit dem BSHG wurde zugleich eine finanzielle Basis zur Werkstattförderung geschaffen und damit eine staatlich finanzierte Eingliederung nicht erwerbsfähiger Erwachsener akzeptiert (BAG WfbM 2023).
1974 erfolgte die Verabschiedung des Schwerbehindertengesetz (SchwbG), welches die recht allgemeinen Bestimmungen des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) konkretisierte und nach zahlreichen Debatten eine inhaltliche Definition der „Werkstatt für Behinderte“ vornahm. Im Jahr 1974 beschloss der Deutsche Bundestag schließlich für Beschäftigte mit Behinderungen, ohne Aussicht auf eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, eine Werkstattkonzeption (ebd.). 1979 erfolgte schließlich die Bekanntgabe des Gesetzes zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft (Schwerbehindertengesetz – SchwbG) Mit dem neuen Recht vollzog der Gesetzgeber eine Kehrtwende, indem er sich von einem entschädigenden kausalen System der sozialen Sicherung, das bestimmte Ursachen der Behinderung voraussetzt, abwendet und das Vorliegen bestimmter gesundheitliche Nachteile zum Anlass nimmt, dem betroffenen Menschen spezifische Rechte zu gewähren, die unabhängig vom Grund seiner Benachteiligung geltend gemacht werden können (u.a. Sackarendt und Scheibner 2021; Schreiner 2017).
Auf Grundlage des § 55 Abs. 3 des SchwbG von 1979, wurde 1980 die Werkstättenverordnung (WVO) im Bundestag verabschiedet. Diese bundesweit geltende Verordnung definiert vor allem den Personenkreis und dessen Förderung in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM). Sie setzt die Werkstattkonzeption des Bundestages konkret um, bestimmt Aufgaben sowie Ausstattung der Werkstätten, die personelle Ausstattung und die Verwendung der finanziellen Mittel (ebd).
Darüber hinaus wurde das Schwerbehindertengesetz durch das Gesetz zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft in der Fassung der Bekanntmachung vom 26. August 1986 neu gefasst. Seine Regelungen werden teils dem Arbeitsrecht, teils dem Sozialrecht zugerechnet (ebd).
m.W.v. (verkündet) | wurden… (Synopse/Diff.) | durch folgende Änderungsgesetze und/oder -verordnungen geändert |
---|---|---|
10.06.2021 | § 2 | Artikel 13 Teilhabestärkungsgesetz vom 02. Juni 2021 (BGBI. I S. 1387) |
01.01.2020 | § 2 | Artikel 10 Gesetz zur Änderung des Neunten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Rechtsvorschriften vom 30. November 2019 (BGBI. I S. 1948) |
01.01.2018 | Synopse gesamt oder einzeln für § 1, § 2, § 3, § 4, § 8, § 12, § 13, § 15, § 17, § 20 | Artikel 19 Bundesteilhabegesetz (BTHG) vom 23. Dezember 2016 (BGBI. I S. 3234) |
05.04.2017 | § 18 | Artikel 167 Gesetz zum Abbau verzichtbarer Anordnungen der Schriftform im Verwaltungsrecht des Bundes vom 29. März 2017 (BGBI. I S. 626) |
30.12.2016 | § 14 | Artikel 18 Bundesteilhabegesetz (BTHG) vom 23. Dezember 2016 (BGBI. I S. 3234) |
30.12.2008 | § 2 | Artikel 8 Gesetz zur Einführung Unterstützter Beschäftigung vom 22. Dezember 2008 (BGBI. I S. 2959) |
3 Aktuelle Herausforderungen, Ausblick und kritische Reflexion
Zu den aktuellen Herausforderungen und dem kritischen Diskurs von Werkstätten für behinderte Menschen siehe Werkstatt für behinderte Menschen.
4 Quellenangaben
Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen (BAG WfbM), Hrsg., 2013. Werkstatt und Geschichte [online]. Frankfurt am Main: Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen (BAG WfbM), 14.05.2013 [Zugriff am: 20.03.2023]. Verfügbar unter: https://www.bagwfbm.de/page/29
Sackarendt, Bernhard und Ulrich Scheibner,2021. Vom Staat gewollt: „Werkstätten für behinderte Menschen“. In: Heinrich Greving und Ulrich Scheibner, Hrsg. Werkstätten für behinderte Menschen: Sonderwelt und Subkultur behindern Inklusion. Stuttgart: Kohlhammer, S. 105–130. ISBN 978-3-17-038496-5 [Rezension bei socialnet]
Schreiner, Mario, 2017. Teilhabe am Arbeitsleben: Die Werkstatt für behinderte Menschen aus Sicht der Beschäftigten. Wiesbaden: Springer VS. ISBN 978-3-658-16918-3 [Rezension bei socialnet]
5 Literaturhinweise
Cramer, Horst H., 2009. Werkstätten für behinderte Menschen: SGB-Werkstättenrecht, Werkstättenverordnung, Werkstätten-Mitwirkungsverordnung mit Leistungsrecht, Sozialversicherungsrecht und sonstigen werkstattrelevanten Vorschriften und Gesetz zur Einführung Unterstützter Beschäftigung. Kommentar. 5., neu bearb. Auflage. München: Verlag C.H. Beck. ISBN 978-3-406-55554-1 [Rezension bei socialnet]
Eikötter, Mirko, 2017. Inklusion und Arbeit: Zwischen Rechts- und Ermessensanspruch: Rechte und Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben von Menschen mit Behinderungen nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland. Weinheim: Beltz Verlag. ISBN 978-3-7799-3702-9 [Rezension bei socialnet]
Kronberg, Antje, 2013. Zwischen Pädagogik und Produktion – Qualitätsmanagementsysteme in Werkstätten für behinderte Menschen. Pretzfeld: Verlag Martin Rossol. ISBN 978-3-944736-41-9 [Rezension bei socialnet]
Lahoda, Karin, 2018. Arbeitsalltag in Werkstätten für behinderte Menschen: Zur Bedeutung von Arbeit, sozialen Interaktionen und rechtlichen Rahmenbedingungen. Regensburger Schriften zur Volkskunde – vergleichenden Kulturwissenschaft, Band 33. Münster: Waxmann. ISBN 978-3-8309-3329-8 [Rezension bei socialnet]
Weber, Michael, 2022. Werkstätten für behinderte Menschen – Inklusionshemmnis oder Weg zur Teilhabe. Eine Auseinandersetzung von Michael Weber. Berlin: Lambertus. ISBN 978-3-7841-3537-3 [Rezension bei socialnet]
6 Informationen im Internet
- Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen e.V. (BAG WfbM)
- REHADAT
- Werkstaetten-im-Netz.de
Verfasst von
Prof. Dr. Michael Boecker
Lehrgebiete: Sozialmanagement und Wirkungsorientierung der Sozialen Arbeit, Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an der Fachhochschule Dortmund am Fachbereich Angewandte Sozialwissenschaften
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Es gibt 2 Lexikonartikel von Michael Boecker.
Zitiervorschlag
Boecker, Michael,
2023.
Werkstättenverordnung [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 22.05.2023 [Zugriff am: 03.12.2023].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/3411
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