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Wichern, Johann Hinrich

Dr. Sigrid Schambach

veröffentlicht am 28.04.2018

* 21.04.1808 in Hamburg

07.04.1881 in Hamburg

Johann Hinrich Wichern
Abbildung 1: Johann Hinrich Wichern um 1869 (Quelle: gemeinfrei)

Johann Hinrich (Heinrich) Wichern, Dr. h. c., war ein evangelischer Theologe, Pädagoge, Publizist und Sozialreformer. Er gründete das Rauhe Haus in Hamburg sowie das Johannesstift in Berlin und gilt als Begründer der Inneren Mission in Deutschland.

Überblick

  1. 1 Zusammenfassung
  2. 2 Lebenslauf
    1. 2.1 In Hamburg-Horn
    2. 2.2 Über Hamburg hinaus
    3. 2.3 In Berlin
    4. 2.4 Letzte Lebensjahre
  3. 3 Lebenswerk
    1. 3.1 „Rettungsanstalt für verwahrloste Kinder“ – das Rauhe Haus
    2. 3.2 Innere Mission
    3. 3.3 Ansätze zur Reform der preußischen Gefängnisse
  4. 4 Wirkungsgeschichte
  5. 5 Aktuelle Bedeutung und Würdigung/Kritik
  6. 6 Quellenangaben
  7. 7 Literaturhinweise
  8. 8 Informationen im Internet

1 Zusammenfassung

Johann Hinrich Wichern gründete 1833 das noch heute bestehende Rauhe Haus in Hamburg-Horn als eine „Rettungsanstalt für arme und verwahrloste Kinder“. Mit dem Aufbau dieser Einrichtung gehört er im frühen 19. Jahrhundert zu den Wegbereitern einer professionellen sozialpädagogischen Arbeit.

Seine Idee der „inneren Mission“ forderte von der evangelischen Kirche in Deutschland, nicht nur mit der Predigt das Evangelium zu verkündigen, sondern es durch praktische Tat (in der Sprache der Zeit: „christliche Liebestätigkeit“) in der Welt zu beweisen. Damit stand er am Anfang der professionellen diakonischen Arbeit innerhalb der evangelischen Kirche.

Als Vortragender Rat im preußischen Ministerium des Inneren bemühte er sich in den 1850er und 1860er Jahren um eine Reform des preußischen Gefängniswesens.

Wichern erhielt breite Unterstützung für seine Arbeit mit armen, vernachlässigten – heute würde man sagen: benachteiligten – Kindern, für seine Impulse zur Weiterentwicklung der evangelischen Kirche und auch für seine Reformversuche im preußischen Gefängniswesen. Doch kämpfte er zeitlebens gegen scharfe Kritik derer, die sich an seiner Frömmigkeit und seinen konservativen politischen Ansichten stießen. Es gelang ihm nicht, zu den neuen politischen Kräften seiner Zeit, dem Liberalismus und der Arbeiterbewegung, in ein konstruktives Verhältnis zu treten.

2 Lebenslauf

Johann Hinrich Wichern wurde als ältestes von sieben Kindern am 21. April 1808 in Hamburg geboren. (Den folgenden Angaben liegen als Quellen zugrunde: Gerhardt 1927, 1928, 1931; Schambach 2008) Mit fünfzehn Jahren verlor er den Vater und musste fortan zum Unterhalt der Familie beitragen, indem er neben seinem eigenen Schulbesuch Privatunterricht erteilte und als Gehilfe an einer Privatschule arbeitete. Von 1828 bis 1831 studierte er – finanziell unterstützt durch angesehene Männer und Frauen des Hamburger Bürgertums – an der Universität Göttingen und an der Berliner Universität Theologie. Am 6. April 1832 legte er sein theologisches Examen in Hamburg ab.

2.1 In Hamburg-Horn

Anstatt auf eine frei werdende Pfarrstelle in seiner Heimatstadt zu warten, begann Wichern an der Sonntagsschule in St. Georg als Oberlehrer zu arbeiten. Über diese Arbeit und über regelmäßige Besuche bei den Kindern und ihren Eltern zu Hause lernte Wichern tiefe Armut in der Bevölkerung kennen. Aus dieser Erfahrung heraus wollte er eine „Rettungsanstalt für verwahrloste Kinder“ aufbauen.

Diese Rettungsanstalt wurde am 12. September 1833 von einem Verein Hamburger Bürger gegründet. Wichern übernahm die Position des Vorstehers und Hausvaters und zog mit seiner Mutter, seiner Schwester Therese und seinem Bruder Wilhelm am 31. Oktober 1833 nach Hamburg-Horn in ein bescheidenes Haus, das schon damals Rauhes Haus genannt wurde. Am Ende des Jahres 1833 lebten dort mit Wichern und dessen Familie zwölf Jungen, die zwischen fünf und 18 Jahre alt waren. Ende des Jahres 1835 wurden die ersten Mädchen aufgenommen, deren Leitung seine Schwester Therese übernahm.

Am 29. Oktober 1835 heirateten Wichern und Amanda Böhme, die sich an der Sonntagsschule in St. Georg kennengelernt hatten, im Rauhen Haus. Das Paar bekam im Laufen der Jahre neun Kindern, von denen eines im Säuglingsalter starb. Amanda Wichern übernahm neben ihrem Mann die Rolle der Hausmutter und leitete das Rauhe Haus während Wicherns Abwesenheit.

2.2 Über Hamburg hinaus

1842 wurde dem Rauhen Haus eine eigene Druckerei angegliedert, die Wichern nutzte, um seine pädagogischen und theologischen Gedanken einem größeren Publikum bekannt zu machen. Sein wichtigstes Publikationsorgan wurden die „Fliegenden Blätter aus dem Rauhen Haus“.

Johann Hinrich Wichern 1845
Abbildung 2: Johann Hinrich Wichern 1845
(Quelle: Archiv des Rauhen Hauses)

Auf dem Wittenberger Kirchentag im September 1848, einer Versammlung von Amtsträgern und Laien in der evangelischen Kirche, etwa 500 Personen, forderte Wichern in einer berühmten Rede die Verbindung von Amtskirche und innerer Mission. Dies war der Anlass zur Gründung des Central-Ausschusses für die innere Mission der evangelischen Kirche am 5. Januar 1849.

2.3 In Berlin

In den Jahren 1852 und 1853 unternahm Wichern im Auftrag des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. (1795-1861) Inspektionsreisen in verschiedene Landesteile Preußens, um die dortigen Gefängnisse zu begutachten. Im Jahr 1857 wurde er in den preußischen Staatsdienst berufen, um eine Reform des Gefängniswesens in die Wege zu leiten. Wichern besaß das Vertrauen des preußischen Königs. Als dieser 1861 starb, verlor er seinen wichtigsten Verbündeten. Im gleichen Jahr trat er in die oberste Kirchenbehörde Preußens, den Evangelischen Oberkirchenrat, ein. Seine Aufgabe war es hier, die evangelische Gefängnisseelsorge zu leiten.

Mit der Berufung in den preußischen Staatsdienst zog Wichern zusammen mit seiner Frau Amanda und den beiden Töchtern Caroline und Elisabeth im Frühjahr 1857 nach Berlin. Die Leitung des Rauhen Hauses übernahm in der Zwischenzeit sein wichtigster Mitarbeiter Theodor Riehm. In Berlin trieb Wichern sogleich den Aufbau des Johannesstiftes voran: Dort sollten – ähnlich wie im Rauhen Haus in Hamburg – junge Männer für eine diakonische Arbeit ausgebildet werden, vor allem für die Arbeit in den Gefängnissen. Außerdem sollte das Johannesstift sich der Arbeit mit Kindern widmen, für männliche Kranke sorgen und Hilfe für arme Menschen anbieten. Am 21. April 1858 wurde das Johannesstift in Berlin gegründet.

2.4 Letzte Lebensjahre

Im deutsch-dänischen Krieg 1864 baute Wichern die Felddiakonie auf. Mit Mitarbeitern aus dem Rauhen Haus und aus dem Johannesstift in Berlin reiste er im Februar 1864 nach Flensburg: Es ging darum, für die auf dem Schlachtfeld verletzten Soldaten ärztliche Versorgung und Hilfe durch Sanitätspersonal zu organisieren. Wichern orientierte sich hierbei an der Arbeit des Genfers Henry Dunant (1828-1910), der im Oktober 1863 das Rote Kreuz gegründet hatte.

Zwei Jahre später, 1866, erlitt Wichern einen ersten Schlaganfall, dem weitere folgten. Er musste sich aus der Leitung des Rauhen Hauses zurückziehen und übergab diese 1873 an seinen Sohn Johannes. 1874 verließ er den Evangelischen Oberkirchenrat in Berlin. 1875 schied er endgültig aus dem preußischen Staatsdienst aus.

Am 7. April 1881 starb Johann Hinrich Wichern im Rauhen Haus in Hamburg.

3 Lebenswerk

Wicherns Lebenswerk ist ohne Bezugnahme auf seine tiefe Religiosität nicht zu verstehen. Seine Arbeit begründete er mit der christlichen Pflicht, den Armen zu helfen, und mit der Hoffnung, die Gesellschaft durch die Rückbesinnung auf das Evangelium auf einer tieferen, geistigen Ebene zu „heilen“.

3.1 „Rettungsanstalt für verwahrloste Kinder“ – das Rauhe Haus

Die Gründung einer „Rettungsanstalt für arme und verwahrloste Kinder“ war deshalb für Wichern eine konsequente christliche Antwort auf die soziale Not seiner Zeit. Einflussreiche Hamburger Bürger unterstützten ihn dabei. Sie sorgten im Einklang mit ihm dafür, dass die Rettungsanstalt, das Rauhe Haus in Horn, von Beginn an finanziell und organisatorisch unabhängig vom hamburgischen Staat aufgebaut wurde. Ziel der Einrichtung sollte es sein, den Kindern durch individuelle Zuwendung, durch klare Regeln in der Erziehung und durch Einbindung in eine feste Gemeinschaft den Weg zurück in ein bürgerliches Leben zu eröffnen. In seiner pädagogischen Arbeit orientierte sich Wichern seinerseits an Vorbildern, wie z.B. an Johannes Daniel Falk.

Die Kinder lebten in familienähnlichen Gruppen unter der Leitung eines Wichern unterstellten Mitarbeiters – von ihm „Bruder“ genannt – zusammen. Mit dem Wachstum des Rauhen Hauses wuchs auch der Bedarf an pädagogisch und fachlich qualifiziertem Personal. Aus diesem Grund erweiterte Wichern 1839 das Rauhe Haus um das sogenannte „Gehülfen-Institut“ zur pädagogischen Ausbildung seiner Mitarbeiter. In der Regel waren dies junge Männer, die bereits einen Beruf erlernt hatten, den sie in die alltägliche Arbeit am Rauhen Haus einbringen konnten. Grundlegende Voraussetzung war für Wichern aber vor allem, dass sie fest im christlichen Glauben standen.

Das Rauhe Haus 1842
Abbildung 3: Das Rauhe Haus 1842 (Quelle: Archiv des Rauhen Hauses)

3.2 Innere Mission

Seit den 1840er Jahren wurde die innere Mission immer mehr zum beherrschenden Thema in Wicherns Leben. Er begann vermehrt zu reisen, Vorträge zu halten und zu schreiben, um für seine Idee der inneren Mission zu werben und Unterstützer zu gewinnen. Das Gehilfen-Institut am Rauhen Haus betrachtete er als Ausgangspunkt der inneren Mission: von hier aus konnte er Mitarbeiter aussenden, damit sie im Sinne der inneren Mission tätig würden, z.B. durch den Aufbau weiterer „Rettungsanstalten“.

Inhaltlich meinte Wichern mit innerer Mission die Besinnung auf die Werte des Christentums in der Gesellschaft, eine Durchdringung der ganzen Gesellschaft mit dem Geist des Evangeliums. Organisatorisch konnte sich nach seinem Verständnis innere Mission in vielen unterschiedlichen freien Vereinen vor Ort entfalten, um dort der Armut, der mangelnden Bildung und der Entchristlichung entgegenzuwirken. Sie war daher zunächst außerhalb der Amtskirche angesiedelt.

Auf dem Wittenberger Kirchentag 1848 argumentierte Wichern, dass die evangelische Kirche die innere Mission als ihre eigene Angelegenheit begreifen müsse und nicht in Konkurrenz zu ihr stehen solle. Notwendig erschien ihm auch eine neue Organisation, die den Mangel an Information und Zusammenhalt unter den verschiedenen, bereits bestehenden Vereinen der inneren Mission beseitigen und stattdessen für Austausch, Gemeinsamkeit und weitere Verbreitung sorgen sollte. Diese Aufgabe übernahm der am 5. Januar 1849 gegründete Central-Ausschuss für die innere Mission der evangelischen Kirche.

3.3 Ansätze zur Reform der preußischen Gefängnisse

Wichern begründete sein Engagement für eine Reform der preußischen Gefängnisse theologisch mit dem Matthäus-Evangelium: Die Verse Mt 25,40 „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“ interpretierte er als Verpflichtung, die Gefangenen – diejenigen, die in der Gesellschaft ganz unten standen –, nicht im Stich zu lassen.

Viele Gefängnisse waren überfüllt, die hygienischen Verhältnisse galten entsprechend als äußerst ungenügend. Die Gemeinschaftshaft, die damals der Regelfall war, stand im Ruf, die Häftlinge untereinander eher negativ als positiv zu beeinflussen. Und schließlich wurde die Arbeit der Gefangenenbewachung und -versorgung vor allem von ehemaligen Soldaten versehen, nicht von eigens ausgebildetem Personal. Aus Wicherns Sicht drohte aufgrund dieser Zustände die körperliche, geistige und seelische Verwahrlosung der Gefangenen. Mit seinen Einschätzungen stand er nicht allein, schon in den 1820er Jahren hatte z.B. der Arzt Nikolaus Heinrich Julius (1783-1862) auf die Not der Gefangenen aufmerksam gemacht. In Düsseldorf existierte seit 1826 ein Verein für die Betreuung von Strafentlassenen, der von Theodor Fliedner (1800-1864), dem Begründer der Diakonissenanstalt in Kaiserswerth, ins Leben gerufen worden war.

Zu den wichtigsten Reformvorschlägen gehörte für Wichern die Einzelhaft anstelle der Gemeinschaftshaft. Die Gefangenen sollten während ihrer Haft, wenn möglich, von ehrenamtlich Tätigen oder der Familie besucht werden können. Ein Gefängnisseelsorger sollte für sie zur Verfügung stehen und auch regelmäßiger Schulunterricht sollte möglich sein. Besondere Aufmerksamkeit widmete Wichern dem Aufsichtspersonal. Dieses sollte – nach dem Vorbild der Brüder-Ausbildung am Rauhen Haus – am Johannesstift in Berlin ausgebildet werden.

In den Jahren zwischen 1842 und 1849 wurde in Berlin-Moabit ein Zellengefängnis nach englischem Vorbild eingerichtet. Dort versahen von Wichern ausgebildete „Brüder“ als Gefangenenwärter bis in die 1860er Jahre ihren Dienst. Ihre Arbeit wurde von der liberalen Öffentlichkeit sehr kritisch begleitet. Nach einem schweren Zwischenfall, in dessen Folge ein Gefangener starb, sank ihr Ansehen massiv. Eine Gefängnisreform, wie Wichern sie sich vorstellte, hatte auch infolge dieses Ereignisses keine Aussicht mehr auf Realisierung. Seine Vorschläge scheiterten 1862 endgültig am Widerstand des preußischen Abgeordnetenhauses.

4 Wirkungsgeschichte

Die „Rettungsanstalt für verwahrloste Kinder“ genoss von Anfang an Zustimmung und tatkräftige Unterstützung. Diese große Resonanz gründete gleichermaßen auf der Notwendigkeit und dem Willen bürgerlicher Kreise in Hamburg, der sozialen Not der Zeit gegenzusteuern. Wicherns Lebenswerk verweist damit auf die Anfänge professioneller sozialer Arbeit, wobei der besondere Akzent auf seinem christlichen Fundament liegt.

Hervorzuheben ist außerdem, dass Wichern vor allem an der professionellen Ausbildung von Männern gelegen war. Die Anfänge weiblicher Berufsarbeit sind in dieser Zeit mit anderen Namen verbunden, zum Beispiel mit dem von Amalie Sieveking, die nach der Cholera-Epidemie in Hamburg 1832 den Weiblichen Verein für Armen- und Krankenpflege ins Leben rief.

Diakonisches Handeln, d.h. die Sorge für die Armen und Kranken, überhaupt für die Schwachen, hatte seit jeher zu den Aufgaben der Kirche gehört, der evangelischen wie der katholischen. Dieser genuin christliche Auftrag rückte durch die innere Mission im Bereich der evangelischen Kirche wieder stärker in den Mittelpunkt. Mit Gründung des Central-Ausschusses für die innere Mission 1849 setzte eine organisatorische Bündelung und Vernetzung der verschiedenen lokalen Vereine und Initiativen der inneren Mission ein.

Zeit seines Lebens genoss Wichern Unterstützung und Bewunderung, doch er erfuhr auch deutliche und scharfe Kritik. So wandte sich z.B. der Pädagoge Adolph Diesterweg (1790-1866) gegen Wicherns Erziehungsvorstellungen, weil er darin vor allem religiöse Indoktrination vermutete. Er misstraute auch der inneren Mission, die er als Gefahr für die geistige Freiheit und die Entwicklung der Gesellschaft betrachtete. Entschiedene Gegnerschaft erlebte Wichern besonders im Zusammenhang mit der preußischen Gefängnisreform. So wandte sich z.B. der liberale Jurist Franz von Holtzendorff (1829-1889) gegen die Beschäftigung von Wicherns Gehilfen im Strafvollzug, weil er an ihrer Integrität zweifelte. Überhaupt sollte seiner Meinung nach der kirchliche Einfluss aus der staatlichen Strafrechtspflege herausgehalten werden.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelten sich bedeutende neue Zeitströmungen: die Idee der Trennung von Staat und Kirche; die Idee der politischen Teilhabe; der Wille, um materielle Verbesserungen zu kämpfen. Verfechter dieser Strömungen fanden sich im politischen Liberalismus und in der Sozialdemokratie. Wichern stand diesen Strömungen, besonders in seinen späteren Lebensjahren, mit großem Unverständnis, ja Ablehnung gegenüber.

5 Aktuelle Bedeutung und Würdigung/Kritik

Nachfolgende Generationen haben Wicherns Lebenswerk fortgeführt, konzeptionell und organisatorisch erweitert. Dies gilt für die noch heute bestehende Einrichtung des Rauhen Hauses in Hamburg-Horn und dem damit aufs engste verwandten Johannesstift in Berlin. Es gilt ebenso für das Netzwerk an sozialen Institutionen, die – ausgehend von der inneren Mission des 19. Jahrhunderts – heute in der Diakonie Deutschland – Evangelischer Bundesverband (bis 2012 Diakonisches Werk der evangelischen Kirche) zusammengeschlossen sind (Benedict 2008).

Wicherns theologisches Denken prägte seinen Blick auf die Armut. Für ihn war nicht die materielle Armut an sich empörend, sondern die mit ihr oft einhergehende Dumpfheit, Hoffnungslosigkeit und Selbstaufgabe der betroffenen Familien. Soziale und ökonomische Erklärungen für Armut – z.B. durch saisonale Unterbeschäftigung und Arbeitslosigkeit – erschienen ihm vordergründig. Von einer Armutsbekämpfung, die allein auf materielle Linderung der Not in den Familien setzte, versprach sich Wichern daher wenig.

Die Rezeption von Wicherns Arbeit war in der jüngeren sozialpädagogischen und diakoniewissenschaftlichen Diskussion von starker Skepsis geprägt. Kritik richtete sich gegen sein patriarchalisches Gesellschaftsbild und autoritäre Züge in seiner Pädagogik (z.B. Hans-Martin Gutmann 2005), auch gegen eine als überholt geltende Theorie der Armut (Nauert et al. 2008, Einleitung).

Mittlerweile ist eine insgesamt positivere Sichtweise auf Wichern und seine Lebensleistung zu beobachten. Anlass hierfür boten das 150. Jubiläum von Innerer Mission und Diakonie im Jahr 1998 (Röper und Jüllig 1998) sowie der 200. Geburtstag Wicherns 2008 (Herrmann et al. 2007). In dieser Sichtweise geht es zunächst darum, Wichern im Rahmen seiner Zeit zu betrachten und historisch einzuordnen; auch wird anerkannt, wie bedeutsam Wicherns „Versöhnung“ von Amtskirche und Diakonie für das moderne kirchliche Selbstverständnis war; schließlich wird der enorme Innovations- und Professionalisierungsschub hervorgehoben, der für den Bereich der sozialen Arbeit innerhalb und außerhalb kirchlicher Institutionen von ihm ausging (Sturm 2007).

Historisch betrachtet ist Wichern deshalb eine weit über seine Zeit hinaus wirkmächtige Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts, die in ihrem Denken und Handeln gleichermaßen Konservatives, Bewahrendes und Vorwärtsdrängendes, Innovatives verband.

6 Quellenangaben

Benedict, Hans-Jürgen. 2008. Von der rettenden Liebe zum anwaltlichen Wohlfahrtsverband. Wicherns Bedeutung damals und heute. In: Matthias Nauert, Marcus Hußmann und Michael Lindenberg, Hrsg. Schon lange unterwegs! Und jetzt: wohin? Reflexionen zu Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Diakonie anlässlich des Wichernjahres 2008. München: Kleine Verlag S. 77–102. ISBN 978-3-937461-90-8

Gutmann, Hans-Martin, 2005. Der Schatten der Liebe. Johann Hinrich Wichern (1808-1881). In: Johann Anselm Steiger, Hrsg. 500 Jahre Theologie in Hamburg. Berlin, New York: de Gruyter, S. 155–188. ISBN 978-3-11-018529-4

Gerhardt, Martin, 1927. Johann Hinrich Wichern. Ein Lebensbild. Teil: 1., Jugend u. Aufstieg: 1808–1845. Hamburg: Agentur d. Rauhen Hauses.

Gerhardt, Martin, 1928. Johann Hinrich Wichern. Ein Lebensbild. Teil: 2., Höhe d. Schaffens: 1846–1857. Hamburg: Agentur d. Rauhen Hauses.

Gerhardt, Martin, 1931. Johann Hinrich Wichern. Ein Lebensbild. Teil: 3., Ausbau u. Ende: 1857–1881. Hamburg: Agentur d. Rauhen Hauses.

Nauert, Matthias, Marcus Hußmann und Michael Lindenberg, 2008. Und jetzt: wohin? Anmerkungen zur akademischen Ausbildung in Sozialer Arbeit und Diakonie. Eine Einleitung. In: Matthias Nauert, Marcus Hußmann und Michael Lindenberg, Hrsg. Schon lange unterwegs! Und jetzt: wohin? Reflexionen zu Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Diakonie anlässlich des Wichernjahres 2008. München: Kleine Verlag S. 13–24. ISBN 978-3-937461-90-8

Röper, Ursula und Carola Jüllig, Hrsg., 1998. Die Macht der Nächstenliebe. Einhundertfünfzig Jahre Innere Mission und Diakonie 1848-1998. Berlin: Jovis. ISBN 978-3-931321-17-8

Schambach, Sigrid, 2008. Johann Hinrich Wichern. Hamburg: Ellert & Richter Verlag. ISBN 978-3-8319-0298-9

Sturm, Stephan, 2007. Eine neue Perspektive auf Wicherns Programm der inneren Mission. Der Systemtheoretische Blick. In: Volker Herrmann, Jürgen Gohde und Heinz Schmidt, Hrsg. Johann Hinrich Wichern – Erbe und Auftrag. Stand und Perspektiven der Forschung. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, S. 54–75. ISBN 978-3-8253-5370-4

7 Literaturhinweise

Herrmann, Volker und Robert Anhorn, Hrsg., 2010. Johann Hinrich Wichern. Theologe – Sozialpädagoge – Reformer. Heidelberg: Diakoniewissenschaftliches Institut
der Theologischen Fakultät Heidelberg, DWI-Info Sonderausgabe 12. ISSN 1612-0388

Meinhold, Peter und Günter Brakelmann, 1958–1988. Johann Hinrich Wichern. Sämtliche Werke, 10 Bde., Berlin und Hamburg: Lutherisches Verlagshaus.

Noller, Annette, Frieder Grau und Friedrich Löblein, Hrsg., 2010. Christlicher Glaube und soziale Verantwortung. Impulse Johann Hinrich Wicherns für diakonische Theorie und Praxis. Stuttgart: Verlag und Buchhandlung der Evangelischen Gesellschaft. ISBN 978-3-7918-8024-2

Hase, Hans Christoph von, 1973. Reform von Kirche und Gesellschaft 1848–1973. Johann Hinrich Wicherns Forderungen im Revolutionsjahr 1848 als Fragen an die Gegenwart. Studien zum 125. Gründungstag des Centralausschusses für die innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche. Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk.

8 Informationen im Internet

Verfasst von
Dr. Sigrid Schambach
Historikerin + Autorin
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Zitiervorschlag
Schambach, Sigrid, 2018. Wichern, Johann Hinrich [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 28.04.2018 [Zugriff am: 08.09.2024]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/3419

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