Wille
Prof. Dr. Felix Manuel Nuss
veröffentlicht am 29.11.2021
„Wille“ bezeichnet die essenzielle menschliche Fähigkeit, Ziele durchdacht zu setzen und diese entschlossen zu verfolgen. Der Mensch erlebt seinen Willen in Abhängigkeit zum Ich und damit grenzt sich dieser als bewusste Entscheidung für eine bestimmte Handlung vom Trieb ab.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Begriffsherkunft
- 3 Wille – ein Begriff der Sozialen Arbeit?
- 4 Quellenangaben
- 5 Literaturhinweise
1 Zusammenfassung
Der menschliche Wille wird im Allgemeinen als persönliche Kraft, als Ausdruck von etwas Eigenem und Besonderem beschrieben. Er gilt als fundamentale Voraussetzung für die Möglichkeit auf ein selbstbestimmtes Leben (Nuss 2017).
„Wille ist die aus dem Ich kommende und entwickelbare Grundkraft (Energie), die das alle Handlungen bestimmende Streben des Menschen bezeichnet, sich mithilfe der Vernunft, also dem Ausprägen von bewussten Motiven, und mit fester Absicht für ein Verhalten zu entscheiden und ein (bestimmtes) Ziel anzustreben“ (Nuss 2022).
Trotz der allgemeinen Übereinstimmung, dass der Wille eine „Ich-Stärke“ beinhaltet und ihm eine positive Determination obliegt, ist stark umstritten, was den Willen darüber hinaus genau definiert. Je nach Professionsperspektive werden unterschiedliche Antworten darauf gegeben, wie und wann der Wille sichtbar wird, ob er messbar ist und ob jedem Menschen a priori, also ohne weitere Beweise und allein aufgrund des Menschseins, ein Wille zugeschrieben werden kann.
2 Begriffsherkunft
Der Begriff „Wille“ (lateinisch: velle, voluntas; englisch: will, volition) findet sich in allen vom Menschen entwickelten Sprachen. Er stammt aus der Gebrauchssprache und ist eine Substantivierung des Verbs „wollen“ (althochdeutsch: wellen, wellan).
Das Wort ist im deutschsprachigen Raum seit dem 8. Jahrhundert belegt und seine etymologische Herkunft lässt sich ins mittelhochdeutsche „wille“, ins althochdeutsche „willio“ und ins germanische „weljōn“, „Wille“ zurückverfolgen (Kluge 2015, S. 793).
3 Wille – ein Begriff der Sozialen Arbeit?
Es heißt Wille sei ein „philosophischer Terminus“ (Mittelstraß 1996, S. 702) und damit wird deutlich: Die akademische Philosophie beansprucht alle Diskussionen um ihn herum gerne für sich. Im Kern werden in der philosophischen Debatte Fragen nach der Freiheit des Willens in den Fokus gerückt. Ist der Mensch in der Lage, einen eigenen Willen auszubilden oder nicht (siehe Willensfreiheit)? Aber auch außerhalb der akademischen Philosophie gibt es Professionen, die den menschlichen Willen seit jeher zum Gegenstand machen. In der Psychologie geht es überwiegend um experimentelle Ansätze, in denen autonome Motivationen als Ursache einer Willenshandlung zu interpretieren versucht werden. In den Rechtswissenschaften wird der Wille auf das Prinzip der Privatautonomie zurückgeführt und in der Theologie geht es um den menschlichen Willen in Bezug auf die Omniszienz (Allwissenheit) Gottes und daraus folgend die Freiheits(un-)möglichkeiten des Menschen.
Auch in der Sozialen Arbeit gibt es einen Diskurs um die Bedeutung und Definition des Willens. Als konzeptioneller Begriff befindet sich dieser allerdings noch in einer ersten Orientierungsphase.
Dies begründet sich primär damit, dass die Soziale Arbeit aufgrund ihrer historischen Auftragslage ein ambivalentes Verhältnis zum Willen ihrer Adressatinnen und Adressaten pflegt. Die Entwicklung des sozialarbeiterischen Willensverständnisses kann mit „Von der Willensbrechung über die Willenssteuerung hin zur Willensorientierung“ (Nuss 2022) überschrieben werden:
- In den noch nicht professionalisierten Anfängen im Spätmittelalter ging es erzieherisch-helfenden Institutionen vornehmlich um Willensbrechung. Ein eigener Wille wurde negativ konnotiert – exemplarisch hierzu August Hermann Francke (1663–1727): „Der natürliche Wille muß gebrochen werden und das Kind muß lernen, dem Gebot Gottes ohne Zwang zu folgen“ (Scherpner 1966, S. 74).
- Impulse der Aufklärung und die Entwicklung eines auf Individualität bezogenen Erziehungsverständnisses prägten den weiteren Verlauf mit. Individualpädagogische Vorstellungen wurden mit dem Ideal der Gemeinschaft synthetisiert und das Verständnis vom Willen wurde so in einen beeinflussenden Blick überführt. Von nun an ging es nicht mehr erstrangig um Willensbrechung, sondern vermehrt um eine Willenssteuerung mit moralisch intendierten Prinzipien der Paternalisierung des Subjekts und seines Willens – exemplarisch dazu: Paul Natorps (1854–1924) „Grundlinien einer Theorie der Willensbildung“ (Natorp 1896).
- Der Beginn des 20. Jahrhunderts gilt als „konstitutive Phase“ (Thole 2012, S. 34) für die fürsorgewissenschaftliche Theorieentwicklung, in der emanzipatorische Ideen offensiver vertreten wurden und das Willensverständnis weiterentwickelt worden ist. Vereinzelte Ansätze, in denen von einer Orientierung am Willen des Gegenübers die Rede ist (siehe Willensorientierung), wurden konzeptionell platziert – exemplarisch Alice Salomon (1872–1948): „Die Kunst zu helfen“ besteht darin, die Hilfe an der Bereitschaft der Menschen auszurichten, sie zu ermutigen, ihre „Willenskraft“ anzuregen und zu befreien (Salomon 1926, S. 56 ff.).
- Die Vorstellungen von Salomon aufnehmend und mit Ideen von Reformbewegungen der 1960er- und 1970er-Jahre sowie Ansätzen verbindend, die aus der sogenannten „Alltagswende“ (Thiersch 1986) hervorgingen (siehe Gemeinwesenarbeit, Lebensweltorientierung), hat sich in konzeptionellen Grundlegungen der Sozialen Arbeit schrittweise ein positives Verständnis vom Willen der Adressatinnen und Adressaten etabliert. Gegenwärtig wird der Willensdiskurs innerhalb der Sozialen Arbeit vornehmlich durch die breite Etablierung des Fachkonzepts Sozialraumorientierung und durch die Übernahme von Ansätzen des Empowerments vorangebracht. In beiden Ansätzen findet der Wille und eine personale Eigenwilligkeit als unterstützenswerte Eigenschaft positiven Anklang. In weiteren Konzepten der Sozialen Arbeit wird teils bewusst, teils unbewusst auf eine explizite Nutzung des Begriffs „Wille“ verzichtet.
4 Quellenangaben
Kluge, Friedrich, 2015. Stichwort Wille. In: Friedrich Kluge, Hrsg. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 22. Auflage. Neu überarbeiteter Reprint von 1989. Berlin: Walter de Gruyter, S. 793. ISBN 978-3-11-006800-9
Mittelstraß, Jürgen, 1996. Wille. In: Jürgen Mittelstraß, Hrsg. Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Band 4. Stuttgart: J.B. Metzler, S. 702. ISBN 978-3-476-02108-3
Natorp, Paul, 1896. Grundlinien einer Theorie der Willensbildung [online]. Göttingen: Das Deutsche Digitale Zeitschriftenarchiv [Zugriff am: 04.11.2021]. Verfügbar unter: http://www.digizeitschriften.de/dms/resolveppn/?PID=PPN827940653_0002|LOG_0038
Nuss, Felix Manuel, 2017. Wie viel Wille ist gewollt? Beitrag zum philosophischen Verständnis von Willensfreiheit und Selbstbestimmung im Kontext Sozialer Arbeit. Marburg: Tectum. ISBN 978-3-8288-3896-3 [Rezension bei socialnet]
Nuss, Felix Manuel, 2022 [im Erscheinen]. Willensorientierte Soziale Arbeit: Der Wille als Ausgangspunkt sozialräumlichen Handelns. Weinheim: Beltz Juventa. ISBN 978-3-7799-6680-7
Salomon, Alice, 1926. Soziale Diagnose. Berlin: Heymann
Scherpner, Hans, 1966. Geschichte der Jugendfürsorge. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Thiersch, Hans, 1986. Die Erfahrung der Wirklichkeit: Perspektiven einer alltagsorientierten Sozialpädagogik. Weinheim: Beltz Juventa. ISBN 978-3-7799-0579-0
Thole, Werner, 2012. Die Soziale Arbeit: Praxis, Theorie, Forschung und Ausbildung. In: Werner Thole, Hrsg. Grundriss Soziale Arbeit. Wiesbaden: Springer, S. 19–70. ISBN 978-3-531-18616-0
5 Literaturhinweise
Horn, Christoph, 2008. Wille. In: Otfried Höffe, Hrsg. Lexikon der Ethik. München: C.H. Beck, S. 346–348. ISBN 978-3-406-56810-7
Nuss, Felix Manuel, 2022 [im Erscheinen]. Willensorientierte Soziale Arbeit: Der Wille als Ausgangspunkt sozialräumlichen Handelns. Weinheim: Beltz Juventa. ISBN 978-3-7799-6680-7
Schmalt, Heinz-Dieter, 2017. Wille. In: Markus Antonius Wirtz, Hrsg. Dorsch: Psychologisches Wörterbuch. Bern: Hogrefe, S. 1832. ISBN 978-3-456-85643-8 [Rezension bei socialnet]
Seebaß, Gottfried, 2004. Wille/​Willensfreiheit. In: Gerhard Kraus und Gerhard Müller, Hrsg. Theologische Realenzyklopädie. Band 36. Berlin: Walter de Gruyter, S. 55–73. ISBN 978-3-11-017842-5
Verfasst von
Prof. Dr. Felix Manuel Nuss
Professor für „Fachwissenschaft Soziale Arbeit“ an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Münster
Freiberuflicher Dozent für Soziale Arbeit und Pädagogik
Website
Mailformular
Es gibt 2 Lexikonartikel von Felix Manuel Nuss.
Zitiervorschlag
Nuss, Felix Manuel,
2021.
Wille [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 29.11.2021 [Zugriff am: 27.03.2023].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/8377
Link zur jeweils aktuellsten Version: https://www.socialnet.de/lexikon/Wille
Urheberrecht
Dieser Lexikonartikel ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion des Lexikons für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.