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Willensfreiheit

Prof. Dr. Felix Manuel Nuss

veröffentlicht am 11.02.2023

Synonym: Freier Wille

Englisch: free will; freedom of will

Lateinisch: liberum arbitrium

Willensfreiheit ist die Fähigkeit des Menschen, sich trotz Bedingungen und Einflüssen der Außenwelt selbst zum_zur Urheber_in von Entscheidungen zu machen, somit eigene Motive abzuwägen, Handlungsoptionen zu entwickeln und ein bewusst hervorgebrachtes Ziel anzustreben. Durch ein freiheitliches Verständnis des Willens wird die Grundlage geschaffen, dass Menschen in Verantwortung für ihre Handlungen stehen.

Überblick

  1. 1 Zusammenfassung
  2. 2 Die Freiheit des Willens als zentrales Problem der Philosophie
  3. 3 Keine, absolute und bedingte Willensfreiheit
  4. 4 Die kompatibilistische Position als fähigkeitsbasierte Willensfreiheit
  5. 5 Willensfreiheit und Soziale Arbeit
  6. 6 Quellenangaben
  7. 7 Literaturhinweise

1 Zusammenfassung

„Nach eigenem Belieben handeln zu können“ ist bei genauerer Betrachtung gar nicht so selbstverständlich. Auch wenn der Mensch sich in einer Welt „äußerer Freiheiten“ (Nuss 2017, S. 20) vorfindet, in der er ungehindert agieren kann und niemand anderes ihn einschränkt, ist damit nicht geklärt, ob die dem Handeln vorgelagerte Willensentscheidung tatsächlich von Freiheit und etwas Eigenem geprägt ist. In der Debatte um Willensfreiheit, die als „innere Freiheit“ (a.a.O., S. 35) bezeichnet wird, geht es um die Frage, ob das freiheitlich verstandene Eigene nicht durch äußere Rahmenbedingungen bestimmt wird und somit doch etwas Unfreies ist. Ist der Mensch überhaupt in der Lage, einen wirklich freien Willen auszubilden oder nicht?

Harte Determinist_innen argumentieren, dass es Willensfreiheit aufgrund von kausalen Zusammenhängen, also aufgrund von Ursachen und deren notwendigen Folgen (alles was geschieht, muss exakt so geschehen, wie es geschieht), nicht geben kann. Auf der gegenüberliegenden Seite stehen die libertären Vertreter_innen, die die bedingungslose Freiheit des Subjekts proklamieren. Sie halten den Determinismus für inkompatibel mit der Vorstellung der Willensfreiheit und sehen diesen daher für die Diskussion um menschliche Freiheit als irrelevant an (Keil 2017, S. 8).

Eine populäre Position zwischen diesen beiden Polen ist der „Kompatibilismus“: Dabei wird eine bedingte Möglichkeit für menschliche Willensfreiheit trotz oder gerade wegen des Determinismus als folgerichtig angesehen (Nuss 2022, S. 68 ff.). Die Position des Kompatibilismus ist für den Diskurs um Selbstbestimmung und die Vorstellung des Subjektstatus in der zeitgenössischen Sozialen Arbeit als passend zu markieren: Der Mensch als sozial eingebundener Akteur ist beeinflusst von der Außenwelt, kann sich dieser gegenüber aber willentlich und aktiv verhalten, die Welt (mit-)gestalten und ist damit Verantwortungsträger für sein Verhalten.

2 Die Freiheit des Willens als zentrales Problem der Philosophie

Differenzierte Überlegungen zur Willensfreiheit fangen in der Antike bei den Kelten und bei griechischen Gelehrten (u.a. Homer, Platon, Aristoteles) an, ziehen sich durchs Mittelalter (u.a. Thomas von Aquin, Erasmus von Rotterdam, Martin Luther), entfalteten sich im besonderen Maße in der Epoche der Aufklärung (u.a. Jean-Jacques Rousseau, François-Marie Voltaire, Immanuel Kant) und bei Denkern des 18. bis 20. Jahrhunderts (beispielhaft Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche, Søren Kierkegaard, Karl Marx) und sind auch im 20. Jahrhundert (z.B. Martin Heidegger, Jean-Paul Sartre, Michel Foucault, Jürgen Habermas) sowie heute (exemplarisch Harry Frankfurt, Peter Bieri, Geert Keil) noch im vollen Gange (Nuss 2022). Die Diskussion um Willensfreiheit kann zu einer der größten und ausführlichsten der Menschheitsgeschichte gezählt werden (Gerhardt 2007). Die akademische Philosophie betrachtet den Diskurs um Willensfreiheit dabei als „ihren“:

„‚Willensfreiheit‘ gehört zu jenen Wörtern, deren bloßes Vorkommen anzeigt, dass von Philosophischem die Rede ist. Während die Freiheit in aller Munde ist, ist ‚Willensfreiheit‘ ein philosophischer Fachausdruck geblieben, der keine prägnante alltagssprachliche Verwendung hat“ (Keil 2017, S. 1).

Dabei gibt es – was bei der breit und konfrontativ geführten Debatte wenig verwundert – keine einheitliche Definition, Position und Herangehensweise. Wenn von Willensfreiheit die Rede ist, dann wird, und dies ist unstrittig, eine besondere Freiheitskategorie fokussiert, nämlich die der „inneren Freiheit“ (in Abgrenzung zur Handlungsfreiheit als „äußere Freiheit“). Verbunden mit der Frage, ob der Wille wirklich frei sein kann oder der Mensch in seinen Entscheidungen und seinem Handeln nicht unabänderlich in Kausalketten eingebunden ist, geht es beim Willensfreiheitsdiskurs also im Kern um das Spannungsfeld Freiheit-Determinismus.

3 Keine, absolute und bedingte Willensfreiheit

Vertreter_innen des harten Determinismus behaupten, dass alle Ereignisse, die geschehen, eine zwangsläufige und eindeutige Folge aus vorangegangenen Ereignissen sind. Wenn der gesamte Zustand eines Systems zu einem beliebigen Zeitpunkt definiert ist und die darin gültigen Gesetze eindeutig sind und somit bei gleichen Anfangsbedingungen immer dasselbe Resultat hervorbringen, so ist der Zustand des Systems zu jedem Zeitpunkt in der Zukunft festgelegt. Diese Position ist freiheitsskeptisch und besagt, dass der Determinismus wahr ist und es keine menschliche Möglichkeit für Willensfreiheit geben kann. Gegenwärtig wird diese Position von Vertreter_innen der Neurowissenschaft (u.a. Wolfgang Prinz, Gerhard Roth, Wolf Singer) wieder stark gemacht, indem sie eine neuronale Determiniertheit argumentieren und einen freien Willen negieren (Nuss 2022, S. 78 ff.).

Die sogenannten Libertarianer_innen sehen es genau andersherum: Der Wille ist frei und nicht determiniert. Freiheit im Sinne des Libertarismus setzt voraus, dass zumindest an einzelnen Punkten im Weltverlauf die natürlichen Gesetze und damit der Mensch mit seinen Willensentscheidungen nicht determiniert sind, also sogenannte Kausallücken vorhanden sind. Der Mensch kann unter Verletzung von Naturgesetzen Kausalketten in Gang setzen und vollkommen unabhängige Entscheidungen treffen. Für die Vertreter_innen des Libertarismus ist dabei grundlegend, dass der Determinismus eine metaphysische These und keine empirische Aussage ist (Keil 2017, S. 131 f.)

Diese beiden sogenannten inkompatibilistischen Gruppen – harter Determinismus und Libertarismus – sind in der philosophischen Zunft mittlerweile relativ klein. Die traditionelle Positionierung, entweder Willensfreiheit existiert, und dementsprechend ist der Determinismus falsch, oder umgekehrt hat in gegenwärtigen philosophischen Debatten an Popularität eingebüßt, da die Freiheitsdebatte sich schon seit einigen Jahrzehnten mehr und mehr auf das sogenannte „Vereinbarkeitsproblem“ fokussiert (a.a.O., S. 7 ff.). In der Frage, wie der Determinismus mit der Freiheit vereinbar ist, steckt die Annahme, dass die Determinismusthese und der Umgang mit ihr tatsächlich zentral sind, um menschliche Willensfreiheit zu argumentieren.

In kompatibilistischen Positionen sind Freiheit und Determinismus also miteinander vereinbar. Dabei lassen sich im Kern zwei Lager ausmachen: Die agnostischen und die deterministischen („klassischen“) Kompatibilist_innen.

Die agnostischen Kompatibilist_innen bleiben bezüglich des Determinismus indifferent und die Frage nach dessen Wahrheit scheint für sie irrelevant. Es gibt wahrscheinlich eine naturgesetzliche Determination und kausale Bedingtheiten, denen wir unterliegen, aber die Details sind egal, da wir trotzdem einen freien Willen entwickeln können. Der Determinismus bleibt in dieser Position lediglich eine Anschauung über unsere Natur, und zwar im Wesentlichen die Anschauung, dass wir den natürlichen Kausalgesetzen unterliegen (Keil 2009, S. 14 f.). Ob die (naturgesetzliche) Entscheidung deterministisch längst festgeschrieben ist, spiele aber keine Rolle, da der Wille die determinierte Zukunft nicht kenne und demnach Entscheidungen treffe, die mit Freiheit gleichzusetzen seien (Honderich 1995, S. 9).

Den Vertreter_innen des deterministischen Kompatibilismus ist die Determinismus-These nicht gleichgültig. Sie halten den Determinismus (bzw. Bereichsdeterminismen) für wahr, gleichgültig ob dieser nun empirisch bewiesen werden kann oder nicht. Manche sind gar der Meinung, dass Freiheit die Wahrheit des Determinismus erfordert, da Handlungen nicht indeterminiert sind, sondern sogar auf geeignete Weise determiniert sein müssen, um als frei zu gelten, da sie andernfalls zufällig seien (dies gilt auch als primäre Kritik am Libertarismus) (Beckermann 2011). Es komme allerdings, so die These, auf die richtige Art der Verursachung und Kontrolle an, die mit bestimmten menschlichen Fähigkeiten einhergeht.

4 Die kompatibilistische Position als fähigkeitsbasierte Willensfreiheit

Mit diesen Fähigkeiten ist die kontrollierte Verursachung durch innere, mentale Ursachen des Menschen gemeint. Kompatibilist_innen gehen von einem Alltagsbegriff der Kontrolle aus (Beckermann 2011, S. 307). Freiheit des Willens ist hier, wie es bereits von John Locke (1632–1704) grundlegend diskutiert wurde, darauf aufgebaut, vor dem Handeln innezuhalten und zu überlegen, was vor der jeweiligen Gegebenheit getan werden sollte, was moralisch gesehen das Richtige wäre oder was dem Eigeninteresse am meisten dienlich wäre (Beckermann 2006, S. 295).

Die Freiheit einer Entscheidung hängt also nicht davon ab, ob „ein außerhalb des Naturzusammenhangs stehendes Ich kausal bestimmt“ (a.a.O., S. 297), wie es an einer bestimmten Stelle weitergeht. Vielmehr hängt sie davon ab, dass der allen natürlichen und kulturellen Bedingungen unterlegene Mensch kontrollierte und bewusste Gründe für seine Entscheidung hat (ebd.). So gesehen kann Willensfreiheit auch dann erfüllt sein, wenn es im Weltverlauf keine Lücken der Indeterminiertheit gibt. Der menschliche Freiheitsspielraum geht somit auf ein rational-reflektierendes Vermögen des Anders-Können zurück, das nicht als Gegensatz zur kausalen Naturnotwendigkeit gesehen werden muss, sondern als Möglichkeit des „Warumstopp“ (Tugendhat 2007, S. 63) im Sinne überlegungszugänglicher Gründe.

5 Willensfreiheit und Soziale Arbeit

Ein solcher fähigkeitsbasierter Begriff der Willensfreiheit ist eine theoretische Annahme, eine „metaphysisch implikationsreiche anthropologische Behauptung über menschliche Freiheit“ (Keil 2017, S. 245). Dieser „nichtempirische Status der Willensfreiheit“ (a.a.O., S. 20) legt das Fundament unseres Rechtsverständnisses, in dem der einzelne Mensch als eigenaktives, in der sozialen Welt agierendes Subjekt in Erscheinung tritt und durch die Möglichkeit der freien Willensentscheidung in Bedingungen auch für das eigene Handeln zur Verantwortung gezogen werden kann.

Dieses Verständnis trifft im Kern auch die anthropologische Position der Profession Soziale Arbeit (IFSW 2014; Nuss 2017). In der Definition der International Federation of Social Workers (IFSW), sowie in allen gegenwärtig diskutierten theoretischen und konzeptionellen Grundlegungen, zeigt sich ein kompatibilistisches Verständnis von Freiheit (auch wenn dies in den meisten Fällen nicht expliziert dargestellt wird). Es wird davon ausgegangen, dass biopsychosoziale Faktoren den Menschen beeinflussen und damit einen Einfluss auf das Leben haben, zugleich aber auch davon, dass der Mensch in der Lage ist, diese Faktoren zu beeinflussen und zu verändern und somit selbstbestimmt agieren kann (Borrmann 2016, S. 26).

Demnach gilt es für die Soziale Arbeit ihren Auftrag darin zu sehen, Schonräume zu schaffen, in denen Adressat_innen die Fähigkeiten der Reflexivität ausbilden bzw. (wieder-)finden können. Diese Arbeit an der „inneren Freiheit“ befindet sich immer im Wechselspiel mit der Arbeit an „äußeren Freiheiten“, der Schaffung von größeren Verwirklichungs- und Teilhabechancen, also der Vergrößerung der Chancen auf Willensumsetzung. Erst in diesem doppelten Verständnis – Arbeit an der inneren und äußeren Freiheit – wird Soziale Arbeit dem professionsethischen Prinzip der Selbstbestimmung gerecht und das Verständnis einer fähigkeitsbasierten Willensfreiheit findet seine handlungsorientierte Rahmung (Nuss 2017, S. 61 ff.).

6 Quellenangaben

Beckermann, Ansgar, 2006. Neuronale Determiniertheit und Freiheit. In: Kristian Kochy und Dirk Stederoth, Dirk, Hrsg. Willensfreiheit als interdisziplinares Problem. Freiburg im Breisgau: Alber S. 289–304. ISBN 978-3-4954-8164-6

Beckermann, Ansgar, 2011. Willensfreiheit. In: Stefan Jordan und Christian Nimtz, Hrsg. Lexikon Philosophie: Hundert Grundbegriffe. Stuttgart: Reclam S. 305–307. ISBN 978-3-15-018836-1

Borrmann, Stefan, 2016. Theoretische Grundlagen der Sozialen Arbeit: Ein Lehrbuch. Weinheim, Basel: Beltz. ISBN 978-3-7799-3080-8 [Rezension bei socialnet]

Gerhardt, Volker, 2007. Selbstbestimmung: Das Prinzip der Individualität. Stuttgart. ISBN 978-3-15-019526-0

Honderich, Ted, 1995. Wie frei sind wir? Das Determinismus-Problem. Stuttgart: Reclam. ISBN 978-3-15-009356-6

IFSW (International Federation of Social Workers), 2014. Global Definition of the Social Work [online]. Rheinfelden: International Federation of Social Workers, 06.08.2014 [Zugriff am: 19.12.2022]. Verfügbar unter: https://www.ifsw.org/global-definition-of-social-work/

Keil, Geert, 2009. Willensfreiheit und Determinismus: Grundwissen Philosophie. Stuttgart: Reclam. ISBN 978-3-15-020329-3

Keil, Geert, 2017. Willensfreiheit. 3. Auflage. Berlin: De Gruyter. ISBN 978-3-11-053345-3

Nuss, Felix Manuel, 2017. Wie viel Wille ist gewollt? Beitrag zum philosophischen Verständnis von Willensfreiheit und Selbstbestimmung im Kontext Sozialer Arbeit. Marburg: Tectum. ISBN 978-3-8288-3896-3 [Rezension bei socialnet]

Nuss, Felix Manuel, 2022. Willensorientierte Soziale Arbeit: Der Wille als Ausgangspunkt sozialräumlichen Handelns. Weinheim: Beltz Juventa. ISBN 978-3-7799-6680-7 [Rezension bei socialnet]

Tugendhat, Ernst, 2007. Willensfreiheit und Determinismus. In: Konrad Paul Liessmann, Hrsg. Die Freiheit des Denkens. Wien: Zsolnay. S. 45–67. ISBN 978-3-552-05402-8

7 Literaturhinweise

Honderich, Ted, 1995. Wie frei sind wir? Das Determinismus-Problem. Stuttgart: Reclam. ISBN 978-3-15-009356-6

Keil, Geert, 2017. Willensfreiheit. 3. Auflage. Berlin: De Gruyter. ISBN 978-3-11-053345-3

Nuss, Felix Manuel, 2022. Willensorientierte Soziale Arbeit: Der Wille als Ausgangspunkt sozialräumlichen Handelns. Weinheim: Beltz Juventa. ISBN 978-3-7799-6680-7 [Rezension bei socialnet]

Verfasst von
Prof. Dr. Felix Manuel Nuss
Professor für „Fachwissenschaft Soziale Arbeit“ an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Münster
Freiberuflicher Dozent für Soziale Arbeit und Pädagogik
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