Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland
Prof. Dr. Josef Schmid
veröffentlicht am 08.04.2020
Die ZWST ist der Dachverband für jüdische Organisationen und Wohlfahrtseinrichtungen und der kleinste der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege. Sie bietet diverse soziale Angebote für Senioren und Jugendliche sowie Aus- und Fortbildungsseminare.
Überblick
1 Geschichte
Die ZWST wurde 1917 als „Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden“ gegründet, um als Dachverband die vielfältigen sozialen Einrichtungen und Wohlfahrtsorganisationen der jüdischen Gemeinschaft zu koordinieren. Doch ging es nicht nur um die „handlungspragmatischen Koodinierungs- und Kooperationsbedürfnisse der lokalen Akteure“, sondern vor allem um eine „auf zentraler Ebene vorgenommen[e] strategische[n] Option“ (Boeßenecker und Vilain 2013, S. 238), mit der auf die sozialpolitische Situation reagiert wurde. Denn:
„Mit der ‚Inneren Mission‘ und der ‚Caritas‘ bestanden bereits zwei konfessionelle Wohlfahrtsorganisationen und weitere befanden sich im Prozess der Gründung. Daher griffen auch jüdische Kreise die Diskussion um die Konzentration ihrer Wohlfahrtsorganisationen auf – verbunden mit der Idee der Modernisierung und Professionalisierung, um den Herausforderungen der Zeit zu begegnen“ (ZWST o.J.a, S. 3).
Den Anstoß gab Bertha Pappenheim (1859 Wien – 1936 Neu-Isenburg), die ebenfalls die Gründerin und Vorsitzende des Jüdischen Frauenbunds war. Ihr Aufruf: „Weh’ dem, dessen Gewissen schläft“ gilt als eine der Initialzündungen zur Einrichtung des Verbandes.
In der Weimarer Republik gelang es der ZWST, allgemein anerkannt und Mitglied in der Liga der „Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege“ zu werden. „In den Jahren ab 1933, vor dem Hintergrund von Diskriminierung, Segregation, Verfolgung und Deportation kamen den in der ZWST aktiven jüdischen Deutschen immer mehr Verantwortlichkeiten zu. Dazu gehörten Auswanderungsberatung, Schulungen und Nothilfen […]“ (ZWST o.J.a, S. 3). Formal wurde die ZWST 1939 von den Nationalsozialisten zwangsweise aufgelöst.
Im Jahr 1951 wurde der Verband unter seinem heutigen Namen „Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland“ (ZWST) wiedergegründet – in erster Linie um die Not der Überlebenden des Holocausts zu lindern. Vorsitzende wurde die SPD-Politikerin und KZ-Überlebende Jeanette Wolff (1888 Bocholt – 1976 Berlin). Um die Kontinuität mit der alten ZWST zu betonen, übernahm deren letzter Präsident, der Rabbiner Dr. Leo Baeck (1873 Leszno/​Polen – 1956 London), den Ehrenvorsitz (ZWST o.J.a, S. 20). Im Jahr 1953 wurde das Sozialreferat der ZWST errichtet, kurze Zeit später das Jugendreferat. Ziel der Arbeit war vor allem der Neuaufbau der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland. Da den kleineren jüdischen Gemeinden nur wenige ausgebildete SozialarbeiterInnen zur Verfügung standen, musste die ZWST von Anfang an zur Qualifizierung der MitarbeiterInnen der Gemeinden beitragen. Bis heute ist die Aus- und Fortbildung im sozialen Bereich einer der Schwerpunkte der ZWST (ZWST o.J.b).
1961 bis 1989 führte Heinz Galinski (1912 Marienburg/​Westpreußen – 1992 Berlin) den Verband und repräsentierte ihn nach außen. Nach dem Mauerfall im Jahr 1989 prägt die Zuwanderung aus Osteuropa die Arbeit und die Struktur der ZWST. Heute gehört die Integration jüdischer ZuwandererInnen zum zentralen Aufgabengebiet der ZWST. Seitdem haben sich die Mitgliederzahlen mehr als verdreifacht (auf rund 100.000 Personen) und Gemeindemitglieder mit Migrationshintergrund aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion bilden die absolute Mehrheit der jüdischen Bevölkerung.
Abraham Lehrer, bereits seit 1996 aktiv im Vorstand der ZWST, wurde im Jahr 2000 zum Vorsitzenden gewählt. Erster und zweiter Stellvertreter wurden Michael Warman und Prof. Dr. Leo Latasch. Lehrer vertritt auch die ZWST im Vorstand der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) (ZWST o.J.a, S. 44).
2 Mitglieder, Struktur und Finanzen
Die Mitgliederzahlen werden bei der ZWST auf die Gesamtheit der Jüdischen Gemeinden bezogen. Diese verzeichneten nach dem Fall der Mauer und der Auflösung der Sowjetunion über zwei Jahrzehnte ein starkes Wachstum; seit etwa 2007 gibt es einen leichten Rückgang der Zuwanderung aus dem Osten. Seit 1990 hat sich die Zahl von 29 Tausend bis 2016 verdreifacht und beträgt ca. 100 Tausend Menschen. Sie sind in 106 Mitgliedsgemeinden, 17 Landesverbänden und 7 selbstständigen Gemeinden organisiert (fowid 2017).
Organisatorisch umfasst der Dachverband eine zentrale Geschäftsstelle und vier Zweigstellen und ist ein eingetragener Verein. Insgesamt sind rund 120 hauptamtliche MitarbeiterInnen beschäftigt, hinzu kommen freie Kräfte und zahlreiche ehrenamtliche HelferInnen. Die Personalstruktur gliedert sich folgendermaßen: 80 Vollzeitbeschäftigte, 30 Teilzeitbeschäftigte, 9 geringfügig Beschäftigte und 3 feste Honorarkräfte (ZWST o.J.c).

Wegen der geringen Größe nimmt die ZWST jedoch im „Kartell der Spitzenverbände“ eine besondere Rolle ein. Auch auf „der operativen Ebene“ zeigt sich wenig „Vergleichbares zwischen dem Jüdischen Wohlfahrtsverband und den übrigen Spitzenverbänden“ – weder in der Organisationsentwicklung noch in der wettbewerblichen Ausrichtung (Boeßenecker und Vilain 2013, S. 251).
Der größte Teil der Finanzierung stammt aus Entgelten für Leistungen v.a der gesetzlichen Kranken- und die Pflegeversicherung. Zudem gibt es traditionelle Einnahmequellen, wie Spenden aus der Bevölkerung, Schenkungen und Stiftungen.
3 Aufgaben
Die ZWST sieht ihr Hauptanliegen in der Pflicht zur Hilfe im Sinne ausgleichender sozialer Gerechtigkeit. Dies basiert auf dem jüdischen Verständnis von Wohltätigkeit (Leitbild: „Zedaka“, hebr.). Das geleistete soziale Engagement umfasst u.a. Freizeitangebote und Erholungsmaßnahmen für Senioren und Jugendliche, Aus- und Fortbildungsseminare sowie die soziale Arbeit in den jüdischen Gemeinden. Seit 1990, als die starke Auswanderungsbewegung von JüdInnen aus der Sowjetunion einsetzte, hat sich die Integration der ImmigrantInnen aus der ehemaligen Sowjetunion als wichtige Aufgabe entwickelt.
Im Einzelnen werden folgende Aufgabenfelder der ZWST benannt:
- Professionalisierung der jüdischen Wohlfahrtspflege
- Förderung von Teilhabe, Inklusion und Partizipation
- Nachwuchsförderung in den jüdischen Gemeinden
- Ausbau der Vernetzung in der jüdischen Gemeinschaft
- Stärkung einer jüdischen Identität, Vermittlung eines lebendigen Judentums
- Antisemitismusprävention, Antidiskriminierungsarbeit, Empowerment und Hilfe zur Selbsthilfe
- Internationales Engagement, Humanitäre Hilfe und Flüchtlingshilfe
- Sozial- und jugendpolitische Vertretung sowie Mitgestaltung sozialpolitischer Prozesse (ZWST 2019).
4 Quellenangaben
Boeßenecker, Karl-Heinz und Michael Vilain, 2013. Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege: Eine Einführung in Organisationsstrukturen und Handlungsfelder sozialwirtschaftlicher Akteure in Deutschland. 2. Auflage. Weinheim: Juventa. ISBN 978-3-7799-2502-6 [Rezension bei socialnet]
Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland (fowid), 2017. Mitglieder jüdischer Gemeinden in Deutschland 1955 – 2016 [online]. Berlin: Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland, 26.04.2017 [Zugriff am: 06.04.2020]. Verfügbar unter: https://fowid.de/meldung/​mitglieder-juedischer-gemeinden-deutschland-1955-2016
Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden (ZWST), 2019. ZWST we care [online]. Frankfurt am Main: Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden [Zugriff am: 06.04.2020]. Verfügbar unter: https://www.zwst.org/medialibrary/​ueber%20uns/​ZWST-Infofolder-2019.pdf
Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden (ZWST), 2020. ZWST – Organigramm [online]. Frankfurt am Main: Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden [Zugriff am: 06.04.2020]. Verfügbar unter: https://zwst.org/medialibrary/​ueber%20uns/​zwst-organigramm-2020-jan.pdf
Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden (ZWST), [ohne Jahr]a. 100 Jahre Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (1917–2017) [online]. Frankfurt am Main: Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden [Zugriff am: 06.04.2020]. Verfügbar unter: https://zwst.org/medialibrary/pdf/zwst-100-jahre-chronik-RZ-update-web.pdf
Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden (ZWST), [ohne Jahr]b. Geschichte [online]. Frankfurt am Main: Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden [Zugriff am: 06.04.2020]. Verfügbar unter: https://www.zwst.org/de/zwst-ueber-uns/​geschichte/
Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden (ZWST), [ohne Jahr]c. Wir über uns [online]. Frankfurt am Main: Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden [Zugriff am: 06.04.2020]. https://www.zwst.org/de/zwst-ueber-uns/
Verfasst von
Prof. Dr. Josef Schmid
Professor a.D. für Politische Wirtschaftslehre und Vergleichende Politikfeldanalyse an der Universität Tübingen, lehrt und forscht über Wohlfahrtsstaaten, Arbeitsmarktpolitik und Bürgerschaftliches Engagement in den Bundesländern. Er war 2010-2022 hauptamtlicher Dekan der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät.
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Es gibt 7 Lexikonartikel von Josef Schmid.
Zitiervorschlag
Schmid, Josef,
2020.
Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 08.04.2020 [Zugriff am: 07.06.2023].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/4536
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