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Zukunftswerkstatt

Ulrich Dauscher

veröffentlicht am 26.08.2020

Die Zukunftswerkstatt ist eine Form der Moderation, deren Grundzüge in den 1960er-Jahren vom Zukunftsforscher Robert Jungk als Ansatz der Bürgerbeteiligung entwickelt wurden. Typisch für die Zukunftswerkstatt ist ihr Ablauf in drei Schritten: Kritik-, Fantasie- und Realisierungsphase.

Überblick

  1. 1 Herkunft und Entwicklung der Zukunftswerkstatt
  2. 2 Die Zukunftswerkstatt als Moderationsform
  3. 3 Das Phasenschema der Zukunftswerkstatt
    1. 3.1 Die Kritikphase
    2. 3.2 Die Fantasiephase
    3. 3.3 Die Realisierungsphase
  4. 4 Anwendung und Grenzen der Zukunftswerkstatt
  5. 5 Literaturhinweise

1 Herkunft und Entwicklung der Zukunftswerkstatt

Die Wurzeln der Zukunftswerkstatt liegen in den frühen 1960er-Jahren, in der Kritik sozial engagierter Zukunftsforscher an der vorherrschenden Ausrichtung der Futurologie. Diese beschäftigte sich v.a. mit technischen Fragen. Interessengruppen aus Wirtschaft, Politik und Militär versuchten, „wünschenswerte“ Zukunftsszenarien voranzutreiben. Wenig berücksichtigt wurden soziale Gesichtspunkte: Die betroffenen Menschen wurden in diese Gestaltung der Zukunft nicht einbezogen.

Gegen diese Art der Futurologie wandte sich u.a. der Zukunftsforscher und Schriftsteller Robert Jungk. Die Zukunftswerkstatt stellte einen Gegenentwurf dar: Menschen sollten sich verstärkt in die Gestaltung ihrer Zukunft einmischen, statt durch Interessengruppen fremdbestimmt zu werden. Dem Expertenwissen setzte Jungk zwei Grundressourcen jedes Menschen entgegen: Wissen über die eigene Lebenswelt und Fantasie, Wunschvorstellungen und Träume von idealen Zukünften.

Bis in die 1980er-Jahre stand der Gedanke der Demokratie von unten im Kern von Zukunftswerkstätten. Mit zunehmender Professionalisierung der Methode und abnehmender Politisierung der Gesellschaft fanden Zukunftswerkstätten weniger in Betroffenengruppen und mehr in Bildungseinrichtungen und Verbänden statt. Der Ansatz entwickelte sich zu einer verbreiteten sozialen Problemlösungsmethode.

2 Die Zukunftswerkstatt als Moderationsform

Methodisch gesehen ist die Zukunftswerkstatt eine Form der Moderation. Das bedeutet:

  • Ein oder mehrere Moderierende unterstützen die Gruppe, indem sie den Prozess der gemeinsamen Arbeit strukturieren und begleiten. Sie mischen sich inhaltlich nicht ein. Die Verantwortung für den Inhalt liegt bei den Gruppenmitgliedern.
  • Die Inhalte werden visualisiert, sodass das Gedächtnis entlastet wird und jederzeit wieder auf Punkte zurückgegriffen werden kann. Die Visualisierung erleichtert das Strukturieren und Fokussieren von Inhalten.
  • Frage-/​Antworttechniken sorgen dafür, dass die inhaltliche Arbeit effizient verläuft. Eine Besonderheit der Zukunftswerkstatt ist, dass sie viele emotions- und fantasiebetonte Techniken verwendet.

Das Markenzeichen der Zukunftswerkstatt, das sie klar von anderen Moderationsformen abgrenzt, ist ihr Phasenschema.

3 Das Phasenschema der Zukunftswerkstatt

Der Kern der Zukunftswerkstatt besteht aus drei Phasen: Der Kritik-, der Fantasie- und der Realisierungsphase. Eingebettet sind diese Phasen, ebenso wie auch andere Moderationsabläufe, in Vorbereitung und Einstieg sowie Abschluss und Umsetzung.

3.1 Die Kritikphase

Nach dem Kennenlernen und den methodischen und organisatorischen Klärungen startet die Zukunftswerkstatt mit der Kritik am Bestehenden. Dabei geht es ums Kritisieren und „Auskotzen“, nicht um eine sachlich-nüchterne Betrachtung einer Situation. Das ist ein grundlegender Unterschied zu anderen Moderationsformen. Entstanden ist dieser Ansatz aus der Erfahrung, dass – in Betroffenengruppen – die schnelle Frage „Was wünscht ihr euch denn?“ wenig bewirkte. Sie mussten vorbereitet werden durch das Abladen von Ärger.

Eine Einstiegsfrage in der Zukunftswerkstatt könnte sein: „Ehrenamtlich im Stadtteil: Was ärgert, nervt mich? Was kritisiere ich? Was befürchte ich?“

Ziele der Phase:

  • Sachebene: Das globale Thema der Werkstatt wird heruntergebrochen in klar formulierbare, handhabbare Teilthemen. Aus diesen werden die Punkte gewählt, an denen in der weiteren Zukunftswerkstatt gearbeitet werden soll.
  • Persönliche Ebene: Die Beteiligten äußern ihren Ärger, ihre Befürchtungen. Damit ist ein kathartischer Effekt verbunden. Das „Auskotzen“ führt dazu, dass Kopf und Bauch frei werden für die Auseinandersetzung mit Wünschen und Zielen.
  • Soziale Ebene: Durch das gemeinsame Meckern und die erste Zeit der Zusammenarbeit öffnen sich die Beteiligten und entwickeln Vertrauen zueinander. Damit wird ein ungehemmtes „Spinnen“ in der Fantasiephase vorbereitet.

3.2 Die Fantasiephase

Die wesentlichen Kritikpunkte sind der Ausgangspunkt der Fantasiephase. Nun geht es darum, sich vom Bestehenden zu lösen und Fantasie zu entwickeln. Ohne jede Beschränkung, mit unbegrenzten Mitteln: Wie sähe eine traumhaft schöne Zukunft aus?

Zukunftsfantasien als Kraftquelle für Veränderung hatten in der Zukunftswerkstatt von Anfang an eine hohe Bedeutung. Methodisch wird dafür nicht nur Sprache und Schrift genutzt, sondern auch Bilder oder Collagen gestaltet, Sketche entwickelt – alles, was hilft, sich von Kritik und Realität zu lösen und Wünsche zu befreien.

Ziele der Fantasiephase:

  • Sachebene: Zu den Teilthemen werden utopische Zielvorstellungen erarbeitet.
    Da es, in irgendeiner Form, um soziale Fragen geht, genügen Reparaturen von kritisierten Zuständen nicht. Die Frage „Wo wollen wir hin?“ hat ein sehr hohes Gewicht.
  • Persönliche Ebene: Die Beteiligten kommen ins Träumen, in die Auseinandersetzung mit ihren Wünschen. Durch die Wertschätzung, die diesen offensichtlich in der Zukunftswerkstatt entgegengebracht wird, entsteht bzw. verstärkt sich der Wunsch nach Veränderung.
  • Soziale Ebene: In der offenen, kreativen Zusammenarbeit wächst die Vertrautheit. Wünsche, Fantasien werden geachtet, und die Beteiligten stützen sich gegenseitig darin, diese als legitim anzusehen und sie weiterzuentwickeln.

3.3 Die Realisierungsphase

Die Zukunftsfantasien sollen nicht folgenlos bleiben. Daher geht es in der letzten Phase darum, aus dem Höhenflug über den Wolken zurück zu Zielen zu kommen, zu kleinen und großen Projekten, die realisierbar sind und auf die gewünschte Zukunft hinarbeiten.

Ziele der Realisierungsphase:

  • Sachebene: Die Zielsetzungen aus der Fantasiephase werden auf ihre Umsetzbarkeit geprüft. Je nach Zielsetzung der Werkstatt werden konkrete Projekte ausformuliert und Vereinbarungen zur Umsetzung getroffen oder Erkenntnisse herausgearbeitet.
  • Persönliche Ebene: Durch das Ausarbeiten von Projekten wissen die Beteiligten, wie sie Veränderungen einleiten können. Sie sind entschlossen zu handeln.
  • Soziale Ebene: Die Beteiligten unterstützen sich – nach dem gemeinsamen, emotionalen Prozess und dem Entwickeln von Handlungsansätzen – in ihren Veränderungswünschen und -entschlüssen. Die Unterstützung reicht von Tipps innerhalb der Werkstatt bis zu Verabredungen von Hilfestellung in der Zukunft.

4 Anwendung und Grenzen der Zukunftswerkstatt

Die Zukunftswerkstatt wird in vielen Zusammenhängen eingesetzt. Ihre Möglichkeiten und Grenzen ergeben sich einerseits daraus, dass sie eine Moderationsform ist, andererseits aus dem Phasenschema und dessen emotionaler Dynamik.

Die Grundvoraussetzungen jeder Moderation gelten auch für die Zukunftswerkstatt:

  • die Beteiligten müssen an dem Thema interessiert sein
  • sie müssen zusammenarbeiten wollen und
  • sie müssen Handlungsfreiräume haben bzw. sich schaffen können, jedenfalls wenn es nicht nur um reine Gedankenspiele gehen soll.

Die Zukunftswerkstatt ist eine emotional betonte Methode, die besonders wirkungsvoll dann ist, wenn sie direkt an der Lebenswelt der Teilnehmenden ansetzt. Sie aktiviert bei Problemen, die nicht oder nur zu kleinen Anteilen von den Teilnehmenden verursacht sind, die aber von diesen beeinflusst werden können.

Typische Themen enthalten eine soziale Komponente. „Die Arbeitszufriedenheit in der Fertigung“ könnte Thema einer Zukunftswerkstatt sein, „Mehr Effizienz in der Fertigung“ passt eher nicht.

Die Zeitdauer liegt normalerweise bei ein bis drei Tagen. Kürzere Veranstaltungen sind möglich, allerdings sind dann häufig andere Moderationsformen effektiver.

Die typische Gruppengröße einer Zukunftswerkstatt liegt bei 15 bis 25 Beteiligten. In kleineren Gruppen steigen die Ansprüche ans Engagement der Einzelnen, in größeren Gruppen wird die Kommunikation untereinander schwieriger.

Innerhalb der Gruppe können Hierarchien oder Spannungen problematisch sein. Das emotional betonte, spielerische Arbeiten fordert einen offenen Umgang miteinander. Andere Moderationsansätze bieten stärkere Möglichkeiten, versachlichend oder anonymisierend zu arbeiten.

Methodisch eng verwandt mit der Zukunftswerkstatt sind Appreciative Inquiry und die Zukunftskonferenz (Future Search).

Appreciative Inquiry setzt an die Stelle der Kritik die Wertschätzung des bestehenden Positiven. Sie hat gegenüber der Zukunftswerkstatt Vorteile in Situationen, in denen der Blick auf Stärken motivierender und wichtiger ist als das „Auskotzen“ und das Kritisieren von aktuellen bzw. befürchteten Zuständen.

Die Zukunftskonferenz ist eine Großgruppenmethode, die anstelle der Kritikphase auf eine Analyse der Situation und auf Zukunftstrends achtet. Außerdem werden möglichst alle für die Situation bzw. das Thema wichtigen Gruppen zusammengebracht. Im Vergleich zur Zukunftswerkstatt setzt sie auf Analyse, Vision und Konsens statt auf Kritik, Vision und Umsetzung aus der eigenen Gruppenperspektive.

5 Literaturhinweise

Jungk, Robert und Norbert R. Müllert, 1989. Zukunftswerkstätten: Mit Phantasie gegen Routine und Resignation. München: Heyne. ISBN 978-3-453-03743-4
Das Grundlagenbuch zur Zukunftswerkstatt.

Kuhnt, Beate und Norbert R. Müllert, 1996. Moderationsfibel Zukunftswerkstätten verstehen, anleiten, einsetzen: Das Praxisbuch zur Sozialen Problemlösungsmethode Zukunftswerkstatt. Münster: Ökotopia. ISBN 978-3-925169-93-9
Die umfangreichste Darstellung für die Praxis.

Dauscher, Ulrich, 2006. Moderationsmethode und Zukunftswerkstatt. Mit einem Beitrag von Carole Maleh. 3., überarb. und erw. Auflage. Augsburg: ZIEL. ISBN 978-3-937210-52-0 [Rezension bei socialnet]
Methodische Darstellung der Zukunftswerkstatt in Vergleich und Abgrenzung zur Moderationsmethode.

Verfasst von
Ulrich Dauscher
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Zitiervorschlag
Dauscher, Ulrich, 2020. Zukunftswerkstatt [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 26.08.2020 [Zugriff am: 13.09.2024]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/1120

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