Systemische Strukturaufstellungen in der Sozialen Arbeit
Theorie und Praxis eines innovativen Konzeptes
Prof. Dr. Heiko Kleve
veröffentlicht am 11.12.2010
socialnet Materialien. Reihe 4: Tagung „Unwirtliche Zeiten“ – Systemische Aufstellungen als Sprache der Veränderung
Strukturaufstellungen geben uns einen Raum,
in dem die Themen wohnen können.
Insa Sparrer/Matthias Varga von Kibéd
(zit. n. Daimler 2008, S. 36).
Ausgangspunkte
Die systemische Strukturaufstellung ist ein Verfahren zur Reflexion und Lösungsfindung bei Problemen auf der biologischen, psychischen oder sozialen Realitätsebene menschlichen Lebens. Insa Sparrer und Matthias Varga von Kibéd, eine Münchner Psychologin und ein ebendort lebender Philosoph, haben diese Aufstellungsform in den letzten drei Jahrzehnten insbesondere auf der Basis der systemischen Skulpturarbeit Virginia Satirs, der Familienaufstellungsarbeit Bert Hellingers und der lösungsorientierten Beratung von Steve de Shazer und Insoo Kim Berg entwickelt. Darüber hinaus ist dieses Verfahren fundiert durch philosophische Traditionen, etwa durch die Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins und die Differenzphilosophie/Unterscheidungslogik von George Spencer-Brown. (Siehe zur Einführung in die Theorie und Praxis der Systemischen Strukturaufstellungen vor allem Sparrer 2006 und 2007 sowie vertiefend Varga von Kibéd/Sparrer 2009 und Sparrer 2004 sowie Wresnik 2006 und Daimler 2008.)
Mit den Systemischen Strukturaufstellungen haben Sparrer und Varga von Kibéd nicht lediglich ein neues methodisches Verfahren konstruiert, sie haben zudem Innovationen in der Theorie geschaffen und die gesamte Basis systemischer Problemlösungskonzepte neu austariert. Die Leistung dieser beiden Systemiker erscheint vergleichbar mit jener von Paul Watzlawick, der wichtige Entwicklungen der systemtheoretischen Forschung und Theorieentwicklung der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in eine didaktisch vermittelbare Form gebracht hat, die von der Praxis äußerst gewinnbringend aufgenommen werden konnte und damit für die systemische Methodik bahnbrechend war. Ebenso bahnbrechend sind die methodischen und theoretischen Systematiken, die mit dem Verfahren der systemischen Strukturaufstellung kreiert wurden. Varga von Kibéd und Sparrer haben neuere systemische Entwicklungen aufgenommen und auf deren Grundlage eine Struktur konzipiert, die äußerst reichhaltig ist und sicherlich noch in Jahrzehnten zahlreiche und gewinnbringende Anschlüsse zeitigen wird.
In diesem Beitrag werden einige Argumente präsentiert, die die These erhärten sollen, dass die methodischen und theoretischen Innovationen der Systemischen Strukturaufstellungen insbesondere auch für eine sozialarbeiterische Rezeption sehr ertragreich sein können (siehe dazu demnächst ausführlicher Kleve 2011). Es geht also darum, einige wesentliche Grundlagen dieser Theorie und Praxis zu präsentieren.
Was hier jedoch kaum geleistet werden kann, ist das Veranschaulichen von Aufstellungen. Wer das Aufstellen (kennen)lernen möchte, der kommt nicht umhin, es selbst zu erleben. Aufstellungen können nicht mit einem wissenschaftlichen Text vermittelt werden. Wir können sie hinsichtlich ihrer Dynamik und Kraft aber erfahren: in der Praxis, also dort, wo Aufstellungen in ihren unterschiedlichen Formen durchgeführt werden.
Im Folgenden wird in drei Schritten vorgegangen: Zunächst wird in einem ersten Schritt die Basis professioneller sozialarbeiterischer Praxis knapp benannt, die Reflexion und Lösung sozialer Probleme, um auf dieser Basis ein grundlegendes Format der systemischen Strukturaufstellungspraxis zu präsentieren, das passgenau auf die beschriebene sozialarbeiterische Ebene bezogen werden kann: die Problemaufstellung. Im zweiten Schritt betrachten wir ein Merkmal sozialarbeiterischer Praxis, das seit Anbeginn der Profession zu immer wieder neuen Reflexionen geführt hat, nämlich die Widersprüchlichkeit und Ambivalenzlastigkeit der Sozialen Arbeit. Auch diesbezüglich können wir ein Aufstellungsformat nutzen, um sozialarbeiterische Widersprüche und Ambivalenzen in passender Weise zu bewältigen: die Tetralemmaaufstellung. Schließlich werden im dritten Schritt einige grundsätzliche theoretische Thesen der Systemischen Strukturaufstellungsarbeit referiert, die für das sozialarbeiterische Denken und Handeln ebenso passend sein könnten.
Die Problem-Aufstellung
Soziale Arbeit als Profession beschäftigt sich mit der Unterstützung von Menschen und sozialen Systemen bei der Bewältigung und Lösung von sozialen Problemen. Und Soziale Arbeit als wissenschaftliche Disziplin hat die Aufgabe, dieses Problemlösen systematisch zu reflektieren, empirisch zu beforschen sowie hinsichtlich von Verfahren, Methoden und Techniken zur Lösungsfindung zu befruchten. Dabei agiert die Wissenschaft der Sozialen Arbeit, die Sozialarbeitswissenschaft, transdisziplinär, d.h. sie überschreitet die klassischen Grenzen der wissenschaftlichen Disziplinen und fahndet nach passenden Konzepten, die die Reflexion und Praxis der sozialarbeiterischen Problemlösung voranbringen können. Somit sind freilich die Entwicklungen der philosophisch, psychologisch und sprachwissenschaftlich fundierten Arbeiten von Varga von Kibéd und Sparrer eine Fundgrube mit unermesslichen Schätzen für die sozialarbeiterische Theorie und Praxis der Problemreflexion und -lösung.
Besonders offensichtlich bietet sich der Sozialen Arbeit das älteste Format der Systemischen Strukturaufstellungen an: die Problemaufstellung. Dieses Format geht mit der These einher, dass ein Problem als eine systemische Struktur verstanden werden kann, die sich aus verschiedenen miteinander agierenden Elementen zusammensetzt, durch Elemente also, die sich zueinander in bestimmten Relationen bewegen und gruppieren lassen. Ausgehend von diesen Formulierungen, die Relationen/Beziehungen von Elementen zueinander thematisieren, wird bereits deutlich, dass wir ein Problem aufstellen können, wenn wir die Elemente identifizieren, die es konstituieren.
Das erste Element einer Problemaufstellung finden wir, wenn wir uns eingestehen, dass jedes Problem bzw. jede Wahrnehmung eines Problems einen Beobachter voraussetzt, der einen Zustand als problematisch bewertet. Ohne eine derartig bewertende Beobachtung kann kein Problem entstehen. Demnach bringt das erste Element der Problemaufstellung einen fokussierenden Beobachter in den Blick, der kurz als Fokus bezeichnet wird. Der Begriff „Fokus“ signalisiert außerdem, dass wir es bei der Problemwahrnehmung mit einem bestimmten Ausschnitt, einer begrenzten Perspektive und eben nicht mit einer allumfassenden oder gar objektiven Betrachtung zu tun haben.
Das zweite Element der Problemaufstellung resultiert daraus, dass ein Problem gemeinhin als ein Zustand definiert und bewertet wird, der in Richtung einer Lösung verändert werden soll. Demnach liegt einem Problem die Differenz von einem aktuellen Ist-Zustand und einem zukünftigen Soll-Zustand zugrunde, der hier als Ziel bezeichnet wird.
Allerdings ist es bei Problemen, mit denen wir es in der Sozialen Arbeit oder in anderen Praxen der Problemlösung zu tun haben, häufig bereits mehrfach oder gar ununterbrochen erfolglos versucht worden, ein problemlösendes Ziel zu erreichen. Daher zeigt sich uns als drittes Element ein mehr oder weniger differenzierter Komplex an Hindernissen auf dem Weg zum Ziel.
Ein ganz besonderes Hindernis, das in der Problemaufstellung als ein eigenständiges, und zwar als viertes Element unterschieden wird, kann als verdeckter Gewinn bezeichnet werden. Der verdeckte Gewinn ist vergleichbar mit dem Phänomen, das in der Psychoanalyse als „sekundärer Krankheitsgewinn“ bezeichnet wird. Den verdeckten Gewinn bekommen wir in den Blick, wenn wir danach fragen, auf welche Vorteile bzw. auf welchen Nutzen eine Person oder ein soziales System verzichten müsste, wenn das Problem verschwindet bzw. gelöst wird. Wir können hier metaphorisch auch an einen Preis denken, der zu zahlen ist, um die Problemlösung zu erreichen. Es geht um das, was das Problem möglicherweise auch an positiven Effekten zeitigt.
Als fünftes Element erscheint endlich das, was notwendig ist, um das Ziel zu erreichen: die bisher noch nicht ausreichend genutzten Ressourcen. Hier kann es sich um persönliche Stärken und Kompetenzen handeln, aber auch um soziale Beziehungen oder andere stützende und stärkende Kontextfaktoren. Alles, was als Stärkung und Unterstützung auf dem Weg zum Ziel gefunden und entsprechend bewertet wird, lässt sich als Ressource verrechnen.
Schließlich wird als sechstes Element das sichtbar, was dann ansteht, wenn das Problem gelöst bzw. das Ziel erreicht ist: die zukünftige Aufgabe. Hinter jedem erreichten Ziel wartet eine neue Aufgabe, die die Zielerreichung befördern kann, wenn sie als attraktiv gilt, die aber auch beängstigen und damit die Zielerreichung erschweren kann.
Zusammenfassend können wir folgende Elemente identifizieren, die in ihren Relationen zueinander als Struktur eines Problems aufgefasst werden können: (1) Fokus, (2) Ziel, (3) Hindernisse, (4) verdeckter Gewinn, (5) bisher ungenutzte Ressourcen und (6) zukünftige Aufgabe.
Die Problemaufstellung, genauer: der Komplex der sechs Elemente der Struktur kann in der Sozialen Arbeit in unterschiedlichsten Kontexten und in verschiedenen Weisen verwendet werden. In der Selbstevaluation, der Intervision oder der Supervision können die Professionellen mit dieser Struktur Probleme ihrer Adressaten oder eigene Schwierigkeiten während ihrer Arbeit reflektieren. Entsprechend unterschiedlicher Fokussierungen lassen sich die Probleme aus der Sicht der Klienten selbst, aus der Perspektive von Angehörigen oder aus der Blickrichtung der Professionellen hinsichtlich der sechs Elemente betrachten. Aber auch in der direkten Arbeit mit Klienten kann die Problemaufstellung hilfreich sein. Genau das soll durch ein Beispiel aus meiner eigenen Arbeit veranschaulicht werden.
Ein Beispiel
Ich präsentiere hier ein Beispiel aus einer Beratung, die ich in der Hochschule mit einem Studenten, den ich im Folgenden Herrn Meier nennen werde, durchgeführt habe. Eine solche Problemaufstellung hätte aber ebenso in jeder sozialarbeiterischen oder psycho-sozialen Beratungsstelle, etwa des Studentenwerkes, stattfinden können. Das Beispiel verdeutlicht darüber hinaus eine Möglichkeit, Aufstellungen in Einzelgesprächen zu realisieren, und zwar mit Hilfe von auf dem Boden platzierten Karten als Repräsentanten für die Elemente der jeweiligen systemischen Struktur.
Aber nun zum Beispiel: Herr Meier kam in meine Sprechstunde, da er beim ersten Anlauf, seine Bachelorarbeit erfolgreich zu schreiben, gescheitert war. Aus Angst vor einer „schlechten Note“ hatte er die „mehr oder weniger fertige Arbeit“ nicht abgegeben – er befürchtete, dass diese den Leistungsanforderungen nicht entspräche. Er suchte nun meinen Rat, weil er seinen zweiten Versuch intensiver vorbereiten wollte und Angst äußerte, wieder zu scheitern.
Das Gespräch strukturierte ich durch die Elemente der Problemaufstellung. Mit offenen Fragen explorierte ich das Ziel, die Hindernisse, den verdeckten Gewinn, bisher ungenutzte Ressourcen und die zukünftige Aufgabe. Nach etwa 20 Minuten ergaben sich folgende Punkte:
- Fokus: die Problemperspektive des Studenten Herrn Meier,
- Ziel: Bachelorarbeit erfolgreich schreiben,
- Hindernisse: die Angewohnheit, chaotisch zu arbeiten und der Studentenjob,
- verdeckter Gewinn: der Studentenstatus,
- ungenutzte Ressourcen: die Freundin, der eigene Ehrgeiz und die Großmutter, insbesondere deren vermutete Bereitschaft, Herrn Meier finanziell zu unterstützen,
- zukünftige Aufgabe: sich auf Stellen zu bewerben.
Diese Punkte sowie die eigene Perspektive des Studenten (Fokus) wurden jeweils auf Karten notiert. Ich bat Herrn Meier dann, diese Karten einzeln auf den Boden so zu platzieren, wie es seinem inneren Bild bzw. seinem Gefühl entspräche. Daraus entstand die folgende Anordnung:
Abb. 1
Aufstellungsbild 1
Wir besprachen das Aufstellungsbild. Deutlich wurde Herrn Meier, dass er seine Freundin zwar als Ressource nannte, dass er mit ihr in letzter Zeit aber einige Auseinandersetzungen hatte, und so legte er die Karte mit ihrer Position in Konfrontation zu sich selbst auf den Boden. Obwohl sie ihm ihre Hilfe beim Ordnen seines „Chaos“ anbot, lehnte er diese mehrmals ab. Im Gespräch wurde offenbar, dass er überlegte, ihre Hilfe doch noch anzunehmen. Ich lud ihn ein, mal hypothetisch davon auszugehen, der Konflikt sei nach einem Gespräch mit der Freundin geklärt und er könne nun – so wie es für ihn und sie passend sei – die Unterstützung annehmen. Dann bat ich ihn zu überlegen, was sich an der Aufstellung verändern würde. Er nahm die Karte „Freundin“ und legte sie neben sich. Auf meine Frage, wie das jetzt für ihn sei, betonte er, dass es auf jeden Fall besser sei. Ob sich durch diese Veränderung noch etwas verschieben würde, fragte ich weiter. Nach längerem Überlegen legte Herr Meier die Karte „chaotisches Arbeiten“, die im ersten Bild nahezu zwischen ihm und seiner Freundin lag, hinter sich und seiner Freundin. Und so ergab sich das zweite Aufstellungsbild:
Abb. 2
Aufstellungsbild 2
Ich bat ihn erneut zu überlegen, ob er noch etwas verändern oder erproben möchte. Daraufhin signalisierte er, dass er eigentlich gerne mit seiner Großmutter über die aktuelle Situation sprechen möchte, aber sich nicht wirklich traue, dies zu tun. Es schien ihm unangenehm, denn die Großmutter sei, wie er, ebenfalls sehr ehrgeizig und habe hohe Leistungsansprüche. Ich bat ihn, seine Karte (Fokus) vor jene der Großmutter zu legen und darüber nachzudenken, wie er ihr sagen könnte, was passiert sei und wie sie darauf wohl reagieren würde. So ergab sich das folgende dritte Aufstellungsbild:
Abb. 3
Aufstellungsbild 3
Etwas überrascht über sich selbst, sagte der Student, dass die Großmutter wahrscheinlich sofort finanzielle Hilfe anbieten würde. Er sei sich aber nicht sicher, ob er diese annehmen möchte. Ich fragte: „Mal angenommen, Sie würden diese – vielleicht für eine begrenzte Zeit – annehmen, was würde sich dann an der Aufstellung ändern?“ Daraufhin nahm der Student seine Karte (Fokus) und die Karte der Großmutter und veränderte die Positionen. Außerdem legte er die Karte „Studenten-Job“ so um, dass sich das folgende vierte und abschließende Aufstellungsbild ergab:
Abb. 4
Aufstellungsbild 4
Ich fragte Herrn Meier dann, wie ihm dieses Bild gefalle. Er äußerte sich sehr zufrieden: Nun könne er von seiner Position aus das Ziel klar sehen, auch die zukünftige Aufgabe sei sehr deutlich im Blick. Weiterhin sei er froh, dass seine Freundin neben ihm stehe und er mit ihr das „Chaos“ beseitigen konnte. Besonders angenehm fühle es sich ebenfalls an, dass die Großmutter stützend hinter ihm stehe. Damit seien die seiner Ansicht nach wichtigsten Hindernisse auf dem Weg zu einer guten Bachelorarbeit nur noch als Randthemen präsent, die er aber auf keinem Fall ganz verlieren möchte. Den Studentenjob beispielsweise wollte er zwar reduzieren, aber nicht völlig aufgeben.
Ich bekräftigte abschließend, dass er sich durch die Aufstellung denkbare Möglichkeiten erarbeitet hat, wie er sein Problem vielleicht lösen könnte und dass er sich nun ein wenig Zeit nehmen könnte, um zu Hause genau und in Ruhe zu überlegen, was für ihn zu tun sei und am besten passen würde.
Die Tetralemma-Aufstellung
Soziale Arbeit ist eine widersprüchliche, eine ambivalente Praxis. Diese Auffassung wird sowohl in der Disziplin als auch in der Profession seit Jahren diskutiert. Zu denken wäre hier etwa an die klassische Ambivalenz von Hilfe und Kontrolle. Erinnert sei auch an die grundsätzliche Widersprüchlichkeit Sozialer Arbeit, die darin zum Ausdruck kommt, dass professionelles Helfen mit dem Ziel einhergeht, nicht mehr helfen zu müssen, aber permanent in der Gefahr steht, sich in Form einer Abhängigkeit der Klienten vom Hilfesystem zu verfestigen, zu chronifizieren. Aktuell könnten wir auch an die Konfrontation einer eher problemorientierten Praxis und einer radikal lösungsorientierten Methodik denken. Mit Blick auf die Profession lassen sich zahlreiche weitere Ambivalenzen feststellen. Jedes Arbeitsfeld, jede Problemlage, jeder Fall bieten ganz spezifische Ambivalenzlagen. Daher können wir sicherlich davon sprechen, dass Ambivalenz ein Kernmerkmal Sozialer Arbeit ist (vgl. ausführlich dazu beispielsweise Kleve 1999; 2000; Krieger 2009).
Angesichts der vielfältigen sozialarbeiterischen Ambivalenzen stellt sich freilich die Frage, wie die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter diese Lage bewältigen können, wie sie trotz widersprüchlicher Anforderungen und Erwartungen dennoch erfolgreich handeln können, und zwar so, dass eine der beiden Seiten der jeweiligen Ambivalenzen nicht ausgeblendet, nicht verdrängt werden muss. Im Alltag neigen wir nämlich dazu, ambivalente Situationen entweder zu meiden oder aber im Sinne einer Entweder-Oder-Strategie eine eindeutige Entscheidung für eine Seite der jeweiligen Ambivalenz herbeiführen zu wollen. Diese Strategie ist in der Sozialen Arbeit nicht möglich. Denn oft sind beide Seiten der Ambivalenz für erfolgreiches Handeln gefragt, etwa Hilfe und Kontrolle, Hilfe und Nicht-Hilfe oder etwa Problemorientierung und Lösungsorientierung. Genau an dieser Stelle kann das Tetralemma ins Spiel kommen.
Das Tetralemma ist ein Schema, das sich dafür eignet, die beiden Seiten von Ambivalenzen erstens einzubeziehen und zweitens Wege zu finden, um einen passenden Umgang mit diesen Seiten zu realisieren. Daher ist dieses Schema besonders passend für die sozialarbeiterische Reflexionspraxis (siehe dazu Kleve 2007; 2011).
Ursprünglich kommt die Idee des Tetralemmas aus dem alten Indien. Dort hatten Richter in juristischen Verfahren die Möglichkeit, zwischen zwei streitenden Parteien vier Positionen einzunehmen – die erste Position: der Eine hat Recht; die zweite Position: der Andere hat Recht; die dritte Position: beide haben Recht und die vierte Position: keiner hat Recht.
Bereits an dieser Stelle wird ein Unterschied im Denken der alten Inder im Vergleich zu uns Europäern deutlich. Wir gehen tendenziell davon aus, dass, wenn zwei sich streiten, entweder der Eine oder der andere Recht hat und dass genau dies zu entscheiden ist. Mit dem Tetralemma wird diese Entweder-Oder-Logik gesprengt. Demnach zeigen sich auch noch ein dritter (beide haben Recht) und ein vierter Weg (keiner von beiden hat Recht).
Interessant ist, dass dieses Reflexionsschema von den Buddhisten um eine zusätzliche, nämlich um eine fünfte Position erweitert wurde, die darauf hinaus läuft, alle zuvor genannten Positionen zu negieren und auch diese Negation infrage zu stellen, also etwas ganz Anderes aufscheinen zu lassen.
Matthias Varga von Kibéd und Insa Sparrer (etwa 2009) haben das erweiterte bzw. durch die fünfte Position negierte Tetralemma als Prozessschema für psycho-soziale Prozesse der Konfliktlösung etabliert. Sie nennen die einzelnen Positionen: „das Eine“, „das Andere“, „Beides“, „Keines von Beiden“ und „… all dies nicht und selbst das nicht“.
Mit dem Einen ist freilich die eine Seite einer Ambivalenz gemeint, und mit dem Anderen eben die andere Seite. Beides fokussiert die Suche nach bisher möglicherweise übersehenen Vereinbarkeiten und Verbindungen zwischen dem Einen und dem Anderen. Besonders schnell fällt uns diesbezüglich möglicherweise der klassische Kompromiss ein. Anspruchsvoller wäre es schon, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass sich bezüglich unterschiedlicher sachlicher, sozialer, zeitlicher oder räumlicher Kontexte das Eine und das Andere möglicherweise ebenfalls vereinen lassen. Es könnte nämlich eine entsprechende Kontexttrennung realisiert werden. Während in dem einen Kontext, d.h. beispielsweise bezüglich des einen Themas, einer speziellen Person, zu einem bestimmten Zeitpunkt oder in einem entsprechenden Raum das Eine realisiert wird, kommt in dem anderen Kontext, also beispielsweise bezüglich eines anderen Themas, einer anderen Person, zu einem anderen Zeitpunkt oder in einem anderen Raum das Andere zum Tragen. Möglich ist auch, dass sich das Eine und das Andere in paradoxer oder dialektischer Weise verschränken. Obwohl das Eine und das Andere gegensätzlich sind, gehören dann beide Aspekte zusammen wie zwei Seiten einer Medaille.
Bei Keines von Beiden suchen wir nach bisher übersehenen Kontexten, die die Ambivalenz zwischen dem Einen und dem Anderen bedingen oder sogar erst hervorgerufen haben. Es geht um die Frage, was im Hintergrund des ambivalenten Konfliktes noch eine Rolle spielt, worum es bei dieser Ambivalenz „eigentlich“ gehen könnte. So werden etwa unterschiedliche Interessen oder Bedürfnisse deutlich.
Die fünfte Position … all dies nicht und selbst das nicht präsentiert das buddhistische Prinzip der Nichtanhaftung. Demnach ändert sich alles von Moment zu Moment. Der ambivalente Konflikt könnte sich plötzlich durch von uns selbst nicht beeinflussbare Faktoren auflösen. Dennoch wäre es zu einfach, allein das Nichtanhaftungsprinzip, das Loslassen als die fünfte Position zu markieren. Denn Matthias Varga von Kibéd betont auf Veranstaltungen zur Systemischen Strukturaufstellungsarbeit immer mal wieder, dass diejenigen die fünfte Position des Tetralemmas nicht verstanden hätten, die behaupten, sie hätten sie verstanden. Das endgültige Verständnis der fünften Position ist demnach unmöglich. Diese Position ist eben das, was sich nicht fassen lässt, etwas, das sich beim Eindruck, es erfasst zu haben, sofort wieder entzieht, eben etwas ganz Anderes, etwas Unbestimmtes, eine Leerstelle, die sich nur spontan füllen lässt.
Was gewinnen wir nun mit dem Tetralemma? Das Tetralemma kann als ein Prozessschema verstanden werden, das nützlich ist, wenn wir in einer Ambivalenz gefangen sind und zwischen den beiden Seiten hin und her pendeln, uns nicht entscheiden können oder uns nicht entscheiden dürfen, weil beide Seiten der Ambivalenz realisiert werden müssen, eben ihre Berechtigung haben. Dann kann das Durchlaufen oder Durchwandern der Tetralemma-Positionen ganz im Sinne des ethischen Imperativs des Heinz von Foerster (1981, S. 60) neue Optionen eröffnen. Es steigert bestenfalls den Möglichkeitsreichtum im Denken und Handeln angesichts von ambivalenten Situationen. So postuliert von Foerster (ebd.) bekanntlich: „Handle stets so, daß weitere Möglichkeiten entstehen“. Um dies zu veranschaulichen, sollen im Folgenden zunächst eine kleine Lehrgeschichte und sodann mögliche Fragestellungen für eine Tetralemma-Wanderung präsentiert werden.
Eine Lehrgeschichte
In der Literatur zur Konfliktvermittlungsmethode Mediation (vgl. etwa Besemer 1993, S. 25f.) oder in entsprechenden Weiterbildungen wird häufig eine Lehrgeschichte präsentiert, die sich auch gut eignet, um das Tetralemma und seine verschiedenen Positionen nachzuvollziehen. In diesem Beispiel wird von zwei Schwestern erzählt, die sich um eine Apfelsine streiten. Beide zerren an der Apfelsine, jedes der beiden Mädchen möchte die ganze Apfelsine für sich haben. Die eine Schwester würde im Rahmen des Tetralemmas die eine Position vertreten (das Eine) und die andere Schwester die andere Position (das Andere).
Wenn wir nach der Möglichkeit von „Beides“ fragen, danach, ob es bisher übersehene Vereinbarkeiten bzw. Verbindungen zwischen der einen und der anderen Position gibt, dann könnten wir natürlich schnell auf den Kompromiss kommen. Die beiden Schwestern einigen sich, indem sie die Apfelsine einfach teilen, jede bekommt eine Hälfte. Möglich wären aber auch andere Lösungen: Die Schwestern könnten sich auch darüber einigen, dass heute die eine die ganze Apfelsine bekommt. Und beim nächsten Mal, wenn wieder eine solche Entscheidung ansteht, dann profitiert die andere Schwester und die erste übt Verzicht. Das wäre eine Kontexttrennung in der Zeit.
Auch eine sachliche Kontexttrennung wäre denkbar: Hinsichtlich der Apfelsine könnte dann so entschieden werden, dass eine Schwester, sagen wir mal: Schwester A die ganze bekommt und hinsichtlich einer anderen Sache wäre es dann so, dass Schwester B die entsprechende Sache für sich entscheiden kann. Jedes Mal würden wir hier von einer „Beides-Lösung“ sprechen können, da beiden Schwestern damit entsprochen wird, beide müssten damit dann also einverstanden sein.
Wenn wir einen Schritt weiter gehen, und zwar in Richtung „Keines von Beiden“, dann würden wir nach übersehenen Kontexten fragen, die erst den Konflikt der beiden Schwestern bedingt oder gar verursacht haben. So könnten wir etwa nach den jeweiligen Interessen forschen, die beide Schwestern jeweils motivieren, die Apfelsine besitzen zu wollen. In dieser Lehrgeschichte der Mediation verbirgt sich hier freilich der entscheidende Aspekt, nämlich der bisher übersehene Kontext der Bedürfnisse beider Schwestern: Beide wollen zwar dasselbe, die Apfelsine, dieses Wollen ruht aber auf unterschiedlichen Bedürfnissen bzw. Interessen. Die eine Schwester möchte mit dem Fruchtfleisch der Apfelsine einen Orangensaft produzieren, die andere hat vor, die Apfelsinenschale als Aromabasis für einen Kuchen zu verwenden. Wir sind damit an einer Stelle angelangt, wo deutlich wird, worum es den Schwestern „eigentlich“ geht. Genau damit sind wir beim Kern von „Keines von Beiden“ und können eine andere Lösung, in diesem Fall sogar eine deutlich befriedigendere Lösung finden: Die eine Schwester bekommt das gesamte Fruchtfleisch für den Saft, die andere Schwester bekommt die gesamte Schale für das Kuchenaroma.
Wenn wir abschließend nach der fünften Position „…all dies nicht und selbst das nicht“ suchen, dann könnten wir sicherlich an unzählige Möglichkeiten denken, die den Konflikt zwischen den Schwestern verändern würden. So wäre es vorstellbar, dass die Schwestern während ihres Streits merken, wie absurd es ist, so intensiv und kräftezerrend um etwas zu ringen, was so wichtig vielleicht gar nicht ist, sie könnten erkennen, dass es geradezu lächerlich ist, wie stark ihr Streit um die Apfelsine geworden ist. Beide würden vielleicht tatsächlich anfangen zu lachen – über sich selbst und ihren heftigen Streit und könnten vermutlich so ihre Fixierung auf die Apfelsine aufgeben. Damit hätten wir den Humor und das Loslassen als Varianten der fünften Tetralemma-Position im Blick.
Es könnte aber auch etwas ganz Anderes passieren – etwas, das die beiden Schwestern nicht kontrollieren können, das von ihnen ungeplant im Außen geschieht: So wäre es durchaus möglich, dass die Mutter den Konflikt für die Schwestern entscheidet. Auch so etwas Ungeplantes, Unvorhergesehenes kann diese Tetralemmaposition verdeutlichen. Aber wie ich bereits ausgeführt habe, die fünfte Position fassen zu wollen, widerspricht dieser Position: Sie markiert das Nichtfassliche, eine Leerstelle, die plötzlich mit etwas gefüllt wird und somit alles hinsichtlich der Ambivalenz oder des Konfliktes verändern kann.
Die Tetralemma-Wanderung
Wir könnten das Durchlaufen des Tetralemmas mit einer klassischen Aufstellung, also mit Personen als Repräsentanten realisieren. Aber wie eine Problem-Aufstellung lässt sich das Tetralemma auch in der Einzelarbeit mit Hilfe von Karten, die auf den Boden, entsprechend der Struktur des Tetralemmas, gelegt werden, durchwandern (siehe Abb. 5). Eine solche Tetralemma-Wanderung sollte tatsächlich so praktiziert werden, dass die Person, die eine Ambivalenz reflektieren und sich diesbezüglich neue Optionen des Handelns bzw. Entscheidens erarbeiten will, sich körperlich auf die jeweiligen Kartenpositionen begibt.
Abb. 5
Tetralemma-Aufstellung/Wanderung mit Karten
Beim Durchlaufen des Tetralemmas könnte in Anlehnung an die folgende Auswahl von Fragen überlegt werden, welche Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle sich bei der Einnahme der jeweiligen Tetralemma-Positionen einstellen:
- Das Eine – der Klient nimmt körperlich die Kartenposition „das Eine“ ein, dafür kann er sich vor die Karte oder auch direkt darauf stellen: Was ist die eine Position, der eine Standpunkt? Gehört noch etwas dazu? Gibt es Weiteres, das bei dem Einen zu beachten ist? Wenn Sie hier stehen und von dem Einen erzählen, welche körperlichen Wahrnehmungen bzw. Gefühle stellen sich bei Ihnen ein? Wie würden Sie diese Wahrnehmungen bzw. Gefühlen bewerten, eher als angenehm oder eher als unangenehm?
- Das Andere – der Klient wird gebeten, sich vor oder auf die Karte „das Andere“ zu stellen: Wenn Sie nun zunächst einmal körperlich und emotional wahrnehmen, wie es ist, wenn Sie hier stehen, auf „das Andere“ gegenüber von „das Eine“. Welche Körperwahrnehmungen und Gefühle stellen sich ein? Wie würden Sie diese Wahrnehmungen bzw. Gefühle bewerten, eher als angenehm oder eher als unangenehm? … Was ist die andere Position, der andere Standpunkt? Gehört noch etwas dazu? Gibt es Weiteres, das bei dem Anderen zu beachten ist? Wenn Sie hier stehen und nun von dem Anderen erzählen, ändern sich dann die körperlichen Wahrnehmungen und Gefühle oder wird das, was Sie bereits dazu gesagt haben, bestätigt und bestärkt?
- Beides – der Klient wird gebeten, die Kartenposition „Beides“ einzunehmen: Wenn Sie jetzt hier auf „Beides“ stehen und mal abwechselnd zum Einen und zum Anderen schauen oder es vielleicht sogar schaffen, das Eine und das Andere gleichzeitig in den Blick zu nehmen, welche körperlichen Wahrnehmungen oder Gefühle stellen sich dann ein? Wie würden Sie diese Gefühle bewerten, eher als angenehm oder als unangenehm? Wenn Sie jetzt mal überlegen, welche Möglichkeiten es geben würde, das Eine und das Andere so zu verbinden, dass sich ein „Beides“ ergeben würde – was fällt Ihnen dann dazu ein? Wenn Ihnen dazu nichts einfällt, nehmen Sie mal an, es würde möglich sein, Beides zu realisieren, wie wäre das dann? Was wäre dann anders als jetzt? Woran würden Sie dann merken, dass Sie Beides realisiert haben? Wer würde das noch merken – und woran? Was wäre dann anders? Gibt es noch etwas, das Ihnen zu dieser Position einfällt? Wenn Sie hier stehen und nun über Beides nachdenken, ändern sich dann Ihre körperlichen Wahrnehmungen und Gefühle oder wird das, was Sie bereits dazu gesagt haben, bestätigt und bestärkt?
- Keines von Beiden – der Klient wird gebeten, auf die Kartenposition „Keines von Beiden“ zu gehen, und zwar so, dass er von dem „Einen“ und dem „Anderen“ wegblickt, dass er gewissermaßen auf die Rahmenbedingungen, die Kontexte der Ambivalenz schaut: Wenn Sie jetzt auf „Keines von Beiden“ stehen und aus dieser Ambivalenz bzw. aus diesen Konflikt hinaus schauen auf das, was den Konflikt zwischen „das Eine“ und „das Andere“ tangiert, bedingt oder vielleicht erst verursacht hat, was kommt ihnen dann in den Sinn, was fällt Ihnen dazu ein? Worum könnte es bei dieser Ambivalenz „eigentlich“ gehen? Worauf könnten Sie „eigentlich“ noch schauen, wenn Sie mal – wie jetzt – „hinter“ den Konflikt bzw. auf seine Rahmenbedingungen blicken? Gibt es noch etwas, was Ihnen dazu einfällt, was wichtig sein könnte? Wenn Sie jetzt hier auf „Keines von Beiden“ stehen und erzählen, welche Körperwahrnehmungen oder Gefühle stellen sich dabei ein? Ist das eher angenehm oder eher unangenehm?
- …all dies nicht und selbst das nicht – der Klient wird gebeten, die fünfte und entsprechend beschriftete Karteposition einzunehmen: Wenn Sie jetzt hier stehen und sich vergegenwärtigen, dass immer auch etwas passieren kann, das Sie selbst nicht kontrollieren können, das Sie nicht einmal erahnen, das bezüglich dieser Ambivalenz plötzlich geschehen kann, was stellt sich dann an Körperwahrnehmungen und Gefühlen ein? Ist das eher angenehm oder unangenehm? Fällt Ihnen inhaltlich zu dieser Position etwas ein? Gibt es noch etwas ganz Anderes, was Ihnen jetzt einfällt und was bisher noch nicht zur Sprache kam?
Nachdem Durchwandern des Tetralemmas sollte eine gründliche Auswertung vorgenommen werden, in der das fokussiert wird, was nach dem Durchlaufen des Tetralemmas im Fühlen und Denken sowie vielleicht bereits im Handeln anders ist, was sich an Unterschieden ergeben hat? Was ist jetzt anders? Wenn Sie sich mal eine Skala von 0 bis 10 vorstellen – 10 bedeutet, dass Sie genau wissen, wie Sie sich hinsichtlich Ihrer Ambivalenz verhalten können und 0 bedeutet, dass Sie dies überhaupt nicht wissen, wo auf der Skala stehen Sie jetzt? Was hat das Tetralemma bei Ihnen bewirkt, dass Sie jetzt bei n stehen? Was müsste passieren, damit Sie einen weiteren Schritt in Richtung 10 kommen können? Wie könnten Sie das erreichen?
Systemische Strukturaufstellungen – einige theoretische Grundpostulate
Nachdem wir zwei methodische Möglichkeiten betrachtet haben, die zeigen, wie die Systemischen Strukturaufstellungen die Soziale Arbeit hinsichtlich der Reflexion von Problemen und der Bewältigung von Ambivalenzen unterstützen können, wollen wir schließlich noch einige eher metatheoretische Erkenntnisse aus der Arbeit von Sparrer und Varga von Kibéd betrachten.
Zunächst einmal können wir den Begriff des Systemischen mit diesem Konzept neu formatieren. Systemisch wäre demnach keine Eigenschaft mehr, die Konzepten per se zukommt, sondern es wäre ein Maßstab, der es ermöglicht zu prüfen, ob Ansätze, Methoden oder Theorien im Vergleich miteinander als systemischer oder als weniger systemisch bewertet werden können. Systemischer wären Konzepte, die im Vergleich zu anderen Konzepten, stärker von der Zuschreibung von Eigenschaften an Einzelelemente absehen zugunsten der Betrachtung von Beziehungen/Relationen zwischen den Elementen innerhalb einer durch diese Elemente sich vollziehenden Struktur. Weiterhin wären Konzepte systemischer als andere, wenn sie vom Ursache-Wirkungs-Denken stärker abrücken zugunsten der Betrachtung von Kontexten.
Beide benannten systemischen Prinzipien verweisen auf zwei Grundoperationen, die Systemische Strukturaufstellungen in der Regel vollziehen – erstens: ausgeblendete, nicht beachtete, verdrängte Elemente, die jedoch als zugehörig zu der fokussierten (systemischen) Beziehungsstruktur bewertet werden können, einzubeziehen, einzublenden und ihren Platz einnehmen zu lassen und zweitens: vermischte, sich überlagernde, aber eben – sozial, zeitlich, sachlich oder räumlich – unterscheidbare und damit verschiedene Kontexte zu trennen. Kurz gesagt: Ausgeblendetes einblenden und Vermischtes trennen sind die Basisperspektiven der Arbeit mit Systemischen Strukturaufstellungen.
Diese beiden Grundoperationen lassen sich theoretisch fundieren durch Prinzipien, deren Brauchbarkeit sich in Systemischen Aufstellungen offensichtlich immer wieder herausstellt. Dennoch können wir nicht sagen, dass es sich bei den im Folgenden genannten Prinzipien um empirisch beschreibbare Tatsachen (Deskriptionen) handelt. Auch sollten wir uns hüten, diese Prinzipien als präskriptiv oder normativ zu verstehen. Es wäre eine Fehlinterpretation, sie als „systemische Vorschriften“ anzusehen. Wir können lediglich sagen, dass sich diese scheinbaren Prozessregeln in der Aufstellungsarbeit bewährt haben, dass sie die Lösungsfindung konstruktiv anregen. Demnach zeigen sie sich also bestenfalls – um mit Varga von Kibéd und Sparrer (2009, S. 182f.) zu sprechen: als „kurativ“, als heilend und problemlösend wirksam.
Das erste Prinzip können wir mit den Begriffen Systemexistenz, Systemmitgliedschaft oder Systemzugehörigkeit bezeichnen. Diesbezüglich steht die These im Zentrum, dass Systeme ihre Existenz gewinnen über eindeutige Kriterien der Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit von Elementen. Auf soziale Systeme bezogen könnten wir sagen, dass solche Systeme in der Regel Kriterien etabliert haben, die den Einschluss oder den Ausschluss von Personen regeln. Nun hat sich immer wieder gezeigt, dass es zu Schwierigkeiten im System kommen kann, wenn Systemmitglieder, die eigentlich aufgrund der etablierten Kriterien zum System gehören, aus dem System ausgeschlossen werden. In Familien kann sich das beispielsweise zeigen durch das Tabuisieren von Familienmitgliedern, die dann gewissermaßen aus dem „familiären Bewusstsein“ verdrängt werden. Nun lässt sich in Systemischen Aufstellungen regelmäßig beobachten, dass dieser Ausschluss auf ein „familiäres Unbewusstes“ trifft, das ihn durch Symptombildung wieder rückgängig zu machen trachtet. Diese Symptombildung geschieht in sozialen Systemen in der Regel dadurch, dass das System durch aktuelle Systemmitglieder mit Schwierigkeiten und Problemen konfrontiert wird, die als assoziative Verweise auf die ausgeschlossene Person interpretiert werden können.
Ein Beispiel
Aus meiner eigenen Arbeit als sozialpädagogischer Familienhelfer erinnere ich dazu ein Beispiel einer von mir betreuten alleinerziehenden Mutter mit fünf Kindern, die jeweils unterschiedliche Väter hatten. Meine Klientin, nennen wir Sie Frau Müller, beschrieb sich selbst hinsichtlich ihrer Partner als sehr unstet. Sie berichtete von häufigen Partnerwechseln und auch von Parallelpartnerschaften. So war es ihr selbst nicht ganz klar, welche Kinder von welchen Partnern stammen. Zudem litt sie unter einer Alkoholabhängigkeit, die jedoch in einem stationären Entzug behandelt wurde, so dass sie während meiner Familienhilfetätigkeit „trocken“ war. Mein Auftrag bestand vor allem darin, sie bei der Erziehung ihres jüngsten Sohnes (7 Jahre alt) zu unterstützen, die Einschulung zu begleiten und die Mutter für die Bedürfnisse ihres jüngsten Kindes zu sensibilisieren, das in der Kindertageseinrichtung unterschiedliche Symptome zeigte.
Als die Mutter mir signalisierte, dass sie in ihre Familie gerne „ein wenig Ordnung“ hinein bringen, dass sie schauen möchte, welche Kinder von welchen Partnern kommen, bot ich ihr an, mit ihr gemeinsam ein Genogramm zu zeichnen. Sie nahm dies an. Wir zeichneten ihr Genogramm. Bei dieser Arbeit wurde ihr etwas deutlich, das in unserem Gesprächen bisher nicht zur Sprache kam: Sie wusste nichts von ihrer Großmutter mütterlicherseits. Ihr fiel ein, dass über dieses Familienmitglied nie gesprochen wurde, dass die Mutter von Frau Müller immer ablenkte, wenn in irgendeiner Weise diese Frau in Familiengesprächen zum Thema zu werden drohte. Meine Klientin signalisierte nun großes Interesse für ihre Großmutter. Ich schlug ihr vor, mal zu überlegen, ob es irgendein Familienmitglied gibt, das sie nach dieser Großmutter fragen könnte, ihr fiel ein älterer Bruder ihrer Mutter ein.
Nach einigen Wochen sprach mich Frau Müller auf dieses Thema wieder an und berichtete mir, dass sie mit ihrem Onkel gesprochen hatte und dass sie sehr bewegt sei von dem, was dabei herauskam: Ihre Großmutter trank ebenfalls sehr viel, galt als „Säuferin“, die sich zudem als Prostituierte ihr Geld verdiente.
Wenn wir dieses Beispiel vor dem Hintergrund des genannten Systemprinzips interpretieren, dann wird deutlich, dass die Symptome meiner Klientin bewertet werden könnten als Verweise auf die ausgeschlossene Großmutter.
Es scheint hier auf der sozialen Ebene etwas Ähnliches vorzugehen wie das, was Sigmund Freud (1909, S. 25) als Verdrängung von Triebwünschen für die individuelle Psyche bei so genannten Neurotikern beschrieben hat: „Wir kommen durch die Untersuchung der hysterisch Kranken und anderer Neurotiker zur Überzeugung, daß ihnen die Verdrängung der Idee, an welcher der unerträgliche Wunsch hängt, mißlungen ist. Sie haben sie zwar aus dem Bewußtsein und aus der Erinnerung getrieben und sich anscheinend eine große Summe Unlust erspart, aber im Unbewußten besteht die verdrängte Wunschregung weiter, lauert auf eine Gelegenheit, aktiviert zu werden, und versteht es dann, eine entstellte und unkenntlich gemachte Ersatzbildung für das Verdrängte ins Bewußtsein zu schicken, an welche sich bald dieselben Unlustempfindungen knüpfen, die man durch die Verdrängung erspart glaubte“.
Die Therapie, sicherlich auch im Sinne der Psychoanalyse, würde dann in drei Schritten heißen: (1.) Verdrängtes aufdecken, (2.) es anerkennen und (3) es schließlich einbeziehen. Interessant ist, dass dies offenbar auch für soziale und andere Systeme gilt. Das heißt, wenn zugehörige Personen – oder neutraler formuliert: Systemelemente verdrängt werden, dann kommt es zur Symptombildung, die therapiert werden kann durch das Aufdecken, Anerkennen und Einbeziehen des Ausgeschlossenen. Wie sich regelmäßig in Systemischen Aufstellungen zeigt, lösen sich die aktuellen Symptome, wenn der Ausschluss aufgedeckt und die Ausgeschlossenen anerkannt und einbezogen werden, sie also ihren Platz im System (nachträglich) zurück bekommen.
Das zweite Prinzip bezieht sich auf die zeitliche Struktur in und zwischen Systemen.
In sozialen Systemen zeigt sich vor allem bei Systemwachstum, also dann, wenn neue Systemmitglieder dazu kommen, dass es eine zeitliche Rangordnung zu geben scheint, die darin zum Ausdruck kommt, dass diejenigen, die eine ältere Systemmitgliedschaft im Vergleich zu später dazu gekommenen Systemmitgliedern aufweisen, weitergehende informelle Rechte signalisieren (etwa die Eltern im Verhältnis zu den Kindern oder das erste Kind im Verhältnis zum zweiten Kind usw.). Das bedeutet, dass in sozialen Systemen, also etwa in Familien, aber auch in Arbeitsteams oder in jugendlichen Peergroups etc., Ungleichheitsverhältnisse herrschen, die durch die zeitliche Systemzugehörigkeit etabliert werden. Demnach haben diejenigen mit der längeren Mitgliedschaft mehr bzw. andere Rechte als jene, die die kürzeren Mitgliedschaften aufweisen. In Systemischen Aufstellungen wird von den Repräsentanten regelmäßig Erleichterung, Verbesserung des Befindens signalisiert, wenn diese zeitliche Reihenfolge durch die Positionen der Repräsentanten zueinander zum Ausdruck gebracht wird. So stehen dann die Systemälteren hinter oder rechts neben den Systemjüngeren.
Zwischen sozialen Systemen gilt ein umgekehrtes Prinzip: Wenn sich ein neues System (z.B. eine Paarbeziehung) von älteren Systemen, aus denen es im Sinne einer Systemfortpflanzung hervorgegangen ist (z.B. die Herkunftsfamilien der Partner einer Paarbeziehung), als eigenes System differenzieren will, dann muss es sich primär setzen. Partner, die zeitlich, sachlich und sozial intensiver an ihre Herkunftsfamilie gebunden sind als an ihre Paarbeziehung werden diese Beziehung dauerhaft eher gefährden als stabilisieren. Dieses systemtheoretische Prinzip gilt nicht nur für soziale, sondern wohl generell für Systemausdifferenzierung bzw. für Systemfortpflanzung.
Die genannten beiden Prozesse der Regelung der Systemexistenz und der zeitlichen Reihenfolge in und zwischen Systemen laufen auf eine Haltung hinaus, die in Systemischen Aufstellungen eine zentrale Basis bildet: die Anerkennung dessen, was ist – was gewissermaßen als basale „Wirklichkeit erster Ordnung“ (Watzlawick 1978) auf einer „tiefen“ und „alten“ Ebene unserer Realität wirkt.
Abschluss
Die hier vorgestellten methodischen Möglichkeiten und theoretischen Prinzipien, die mit der Nutzung der Theorie und Praxis der Systemischen Strukturaufstellungen einhergehen, eignen sich für die Reflexion unterschiedlichster Systemebenen, auf jeden Fall für biologische, psychische und soziale Systeme. Der Schwerpunkt unserer Betrachtungen lag auf der sozialen Systemebene. Bezüglich dieser Ebene könnten wir die Erkenntnisse aus der Aufstellungsarbeit als Hinweise auf etwas verstehen, das der Soziologe Karl Otto Hondrich (2006) als elementare Sozialprozesse bezeichnet (siehe ausführlicher dazu auch Nelles 2006). Elementare Sozialprozesse zeigen sich überall dort, wo Menschen zusammen kommen und damit Soziales, also Zwischen-Menschliches generieren. Zwischen den Menschen, da, wo sich die sozialen Systeme als Kommunikationssysteme bilden, wirken diese Prinzipien zumindest „untergründig“ und prägen offenbar die soziale Realität.
Damit ist die Soziale Arbeit, die es mit problembelasteten Menschen in den unterschiedlichen Strukturen sozialer Systeme zu tun hat, freilich ein Feld, in dem es von Vorteil sein kann, etwas von der systemischen Verfasstheit unserer sozialen Welt und ihren inhärenten Regeln zu verstehen. Systemische Strukturaufstellungen bieten daher gerade für Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter ein noch zu wenig ausgeschöpftes Lernfeld. Eine Intention dieses Beitrags ist es, dieses Lernfeld bekannter zu machen und die Neugier bei den Leserinnen und Lesern zu wecken, das Systemisches Aufstellen in welchen Rollen auch immer (als Klient/in, Beobachter/in, Repräsentant/in oder Aufstellungsmoderator/in) selbst zu erproben.
Ich danke Jan V. Wirth und Thomas Bierbaum für hilfreiche Kommentare zu früheren Versionen dieses Textes.
Literatur
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Freud, Sigmund (1909): Über Psychoanalyse. Fünf Vorlesungen, gehalten zur zwanzigjährigen Gründungsfeier der Clark University in Worcester, Mass., September 1909, in: Ders. Gesammelte Werke. Achter Band. Werke aus den Jahren 1909-1913. Frankfurt/M.: Fischer (1999), S. 1-60.
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Watzlawick, Paul (1978): Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn – Täuschung – Verstehen. München: Piper.
Wresnik, Helmut J. (2006): Von Bild zu Bild … Arbeiten mit Systemischen Strukturaufstellungen. Mit einem Vorwort von Matthias Varga von Kibéd. Norderstedt: Books on Demand.
Verfasst von
Prof. Dr. Heiko Kleve
Universität Witten/Herdecke, Fakultät für Wirtschaft und Gesellschaft, Department für Management und Unternehmertum, Wittener Institut für Familienunternehmen (WIFU)
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Zitiervorschlag
Kleve, Heiko, 2010.
Systemische Strukturaufstellungen in der Sozialen Arbeit [online]. socialnet Materialien.
Bonn: socialnet, 11.12.2010 [Zugriff am: 23.03.2025].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/materialien/112.php
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