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Das Selbst im Inneren

Dr. phil. Holm von Egidy

veröffentlicht am 14.02.2011

socialnet Materialien. Reihe 4: Tagung „Unwirtliche Zeiten“ – Systemische Aufstellungen als Sprache der Veränderung

Vortrag auf der "Tagung Unwirtliche Zeiten" – Systemische Aufstellungen als Sprache der Veränderung am 28. September 2010 an der Alice Salomon Hochschule Berlin

Zusammenfassung

Der Vortrag behandelt unter anderem die Arbeit mit inneren Anteilen anhand von Modellen des Selbst und der Ego-States und die Wirkung von Raum bei Aufstellungen: wie Veränderungen von Nähe und Distanz oder von Grenzen bei der Aufstellungsarbeit positiv auf den Aufstellungsprozess wirken können.

Erstaunlich an der Aufstellungsarbeit ist, dass es sehr schwer ist, irgend etwas zu finden, das sich nicht aufstellen ließe. Wie eine Sprache ist das Aufstellen universell und ohne schwarze Flecken auf einer Karte. Sogar das, was sich nicht aufstellen lässt, kann man genau so aufstellen!

Eine Aufstellung kann mindestens so umfassend darstellen wie eine Sprache. [1] In dem Satz: „Ich ärgere mich, wie die Entscheidung des Chefs auf meinen Magen schlägt“ finden sich ganz unterschiedliche Elemente: Zur Person Gehöriges wie „ich“, mich“, „ärgern“ „Magen“, eine andere Person wie „der Chef“, Abstraktes wie „Entscheidung“. Oder in einer anderen Unterteilung betrachtet: Körperliches, Emotionales, Mentales, Geistiges. Es ist für die Sprache kein Problem, solch kategorial sehr unterschiedliches in einem Satz zu verbinden. Gleiches gilt für ein Aufstellungsbild. Der oben genannte Satz mit seinen Elementen ließe sich (für jedes Wort ein Stellvertreter) ohne Weiteres aufstellen. [2]

Nun ist interessanterweise in den Anfängen der Familienaufstellung eine Person durch genau einen Stellvertreter repräsentiert worden. Dieser Stellvertreter stellte diese Person über die Zeit, mit ihrem Körper, mit ihren unterschiedlichen Zuständen, auch in verschiedenen Kontexten dar. Die interne Verfassung der Person wurde über die Empfindungen und Wahrnehmungen des Stellvertreters abgebildet.

Menschen sind Wesen, die eine Selbstbeziehung haben. Sie gehen mit sich zu Rate, sie können „zwei Seelen in ihrer Brust“ spüren, interne Dialoge ablaufen lassen, sie reflektieren über sich. Das wurde in der Psychotherapie schon früh in Modelle gefasst. Da wurde die Ich-Es-Überich-Theorie in der Psychoanalyse formuliert, andere Konzepte in der Gestalttherapie, Hypnotherapie, Transaktionsanalyse etc. entwickelt. Offenbar kann das interne Muster auch pathologisch werden, z. B. ist die „Dissoziative Identitätsstörung“ eine in der Psychiatrie viel diskutierte Diagnose.

Im Folgenden möchte ich darstellen, wie sich der Innenraum einer Person aufstellen lässt und welche Rolle dabei das Selbst hat. Ich arbeite hier mit dem „Selbst“, so wie ich es bei Robert Langlotz in seinem Format der Selbstintegrationsaufstellungen kennen gelernt habe. Untersucht wird, wie sich das Selbst von anderen inneren Phänomen unterscheiden lässt, insbesondere den sogenannten „inneren Kindern“ und „Ego-States“. Zu klären ist, welche Realität das Selbst hat (klassisch gesagt: das Wesen des Selbst).

Wichtig scheint mir, dass diese Aufstellungsform keine schwer vermittelbaren anthropologischen Voraussetzungen macht. Eine Aufstellung soll für die Klienten aus ihrer Welt heraus nachvollziehbar sein. Klienten brauchen keine weltanschauliche Erziehung durch den Aufsteller.

Wenn Konzepte eingeführt werden, dann mit möglichst wenig Modellannahmen und möglichst viel Anschauung. Das Unbewusste beispielsweise kann so unterschieden werden: Den Arm kann ich heben und senken, ganz nach meiner Kontrolle. In der Regel passiert das nicht von allein und unwillkürlich. In die Atmung kann ich jederzeit bewusst eingreifen. Ohne explizite Aufmerksamkeit atme ich einfach weiter. Dies geschieht mir – in der eigenen Person und im Körper. Die Steuerung kann somit auch unbewusst geschehen. Beim Herzschlag gibt es offensichtlich ebenfalls eine Steuerung. Diese entzieht sich bei fast allen Menschen vollständig dem Bewusstsein. Der Ablauf geschieht nach eigenen Regeln, unbewusst.

Nun möchte ich genauer darlegen, wie mit dem Element „Selbst“ in der Aufstellung gearbeitet werden kann und welche Implikationen das hat.

Phänomenologie des Selbst in der Aufstellung

Im Aufstellungssetting führe ich das Selbst folgendermaßen ein: „Das ist das Eigene, das nur zu dir gehört: deine Fähigkeiten, Begabungen und Grundbedürfnisse. Es ist das, was wir meinen, wenn wir von Selbstvertrauen oder Selbstwert sprechen. Das Selbst bezeichnet das „mich“, wenn ich mich freue oder wundere, das „mir“, wenn ich mich mit mir verständige, aussöhne, im Einklang befinde. Das Selbst ist unabhängig von den Prägungen. Es ist nicht das höhere Selbst oder die Seele, sondern es ist ganz irdisch; erfahren wird es in den authentischen Gefühlen. Es ist wichtig, dass es gut mit dir verbunden ist, so dass es lebendig und kraftvoll für dich da sein kann.“ Wenn der Stellvertreter des Selbst hereingeführt wird, sage ich meist: „Das ist der Teil, der nur zu dir gehört, und bei dem es wichtig ist, dass du gut mit ihm verbunden bist, so dass er lebendig und stark für dich sein kann.“ Diese Induktion genügt, um immer wieder recht ähnliche Selbste in den Raum zu bringen. Übrigens auch für andere Stellvertreter – jeder Person in der Aufstellung kann man ein Selbst dazu stellen. Meine Erfahrung ist, dass das sehr häufig unterstützend und klärend für die Prozesse ist.

Damit stehen von Beginn an zwei Stellvertreter in der Aufstellung, die nur den Klienten repräsentieren: das Selbst und der Focus. (Der Focus ist in den Strukturaufstellungen der Name für den Stellvertreter des Klienten, genauer für den Aspekt, der das Anliegen einbringt.)

Wie wird das Selbst in der Aufstellung erlebt? Ich möchte hier zwei typische Berichte wiedergeben, die Seminarteilnehmer mir sandten, nachdem sie in einem Seminar häufiger in die Rolle des Selbst gewählt worden waren: „Ich habe es als eine Art „innerer großer Bruder“ empfunden, also eine weisere Version von einem selbst mit mehr Durchblick und Schutzfunktion. Etwas Ruhiges, Abgeklärtes, Furchtloses, mit der Quelle verbundeneres (oder wie auch immer man das nennen möchte), also eine weltliche Dependance des Höheren Selbsts. Und auch Teile, die da sind und die das Ich gerade nicht rauslässt (also Kraft, Stärke, aber auch in einem Fall an dem Wochenende etwas Kindisches, Kindliches, Verspieltes, Reines, als dieses Selbst wäre ich gerne immer herumgehüpft oder hätte irgendwelche lustigen Dinge angestellt.). Vielleicht auch eine Ursprungs-Version des Ichs ohne Glaubenssätze, Fixierungen, Abhängigkeiten etc. Die ursprüngliche Blaupause. Etwas sehr Großes, Umfassendes. Ein Aurafeld oder Kraftfeld in dem so eine ganze Aufstellung mit allem Drum und Dran Platz hat, oder zumindest der ganze Ich-Raum mit den verteidigten Grenzen. Eine alte weise Frau/Mann mit schamanischen Fähigkeiten. Etwas sehr tief Liebendes, Umschließendes, das Kontakt zum Ich sucht wenn kein Kontakt besteht, das aber sehr die Regungen des Ichs respektiert und da nichts forciert (also wirklich im Sinn von Lieben aber nicht brauchen gegen den Willen des anderen). Daher manchmal auch sehr traurig. Also kein Element, das für sich alleine sein könnte oder wollte, es aber macht wenn es muss. Ein Element mit einer Mission (Ich-Stärkung, Ich-Schutz), die es auch erfüllen möchte. Das Selbst mag die Gegenwart anderer Selbste und empfindet es als Mangel, wenn andere Protagonisten kein Selbst haben.“ (C.L.) Und noch dieser Bericht: „Eines fiel mir besonders auf: Als Selbst ging es mir nie schlecht, ich war nicht traurig, wütend, deprimiert oder ähnliches. Mitfühlend ja, doch die emotionalen Aufs und Abs, die sonst mit den Rollen kommen und durch die die Repräsentanten, deren Selbst ich war, gingen, blieben aus. Ich fühlte mich also die meiste Zeit ruhig, stark, neutral und klar. Die Unangepasstheit des Selbst spürte ich auch noch sehr deutlich. Als X´s Selbst fand ich es beispielsweise gut, dass er sich „notfalls mit Gewalt“ aus seiner Bedrängnis befreien wollte. Da kam bei mir positive Resonanz. Auch als Y ihrer Wut Luft machte, war ich ganz bei ihr. (K.E.)

Das Selbst kann zwar zunächst sehr weit weg vom Focus gestellt werden, wie abgespalten, aber es geht nie verloren. Es gehört fest und definitiv zum Focus. Manchmal gibt es am Anfang einer Aufstellung Verwirrung, und das Selbst fühlt sich mehr zu einer anderen Person als zum Focus hingezogen. Aber diese Verwirrungen ließen sich immer auflösen und waren Folge von heftigen symbiotischen Beziehungen des Klienten. Stellt man das Selbst von Verstorbenen auf und werden diese verabschiedet, so geht das Selbst immer mit; anders als der Körper wird das Selbst also im Tod nicht zurückgelassen. Daraus kann man in gewisser Weise annehmen, dass das Selbst auch bei der Geburt bereits mit dabei ist. Es ist offenbar untrennbar von der Person. Weiter zeigt das Selbst ein großes Wohlwollen und auch Geduld mit dem Klienten. Es steht zu ihm. Das Potential, das darin enthalten ist, hat häufig folgende Qualitäten: Kraft, Lebendigkeit, Unangepasstheit, Freiheit, Kreativität, Sensibilität, Intuition, Aufrichtigkeit, Tiefe, Liebe, Eigenständigkeit, Freude. Für das Selbst ist es immer wohltuend, wenn es mit dem Klienten gut verbunden ist.

Wichtig ist auch zu sagen, was das Selbst nicht ist und kann: Es trifft keine Entscheidungen und fokussiert auch nicht die Prozesse. Es scheint nicht für die Abgrenzung zuständig zu sein. Es ist abhängig von der Führung durch den Klienten. Wenn jemand die Verbindung zu seinem Selbst schwächen möchte, scheint das Selbst erst einmal machtlos. Es stellt sich auch nicht wie ein höheres Selbst dar, das mit der Quelle direkt verbunden ist. Auch kann sich das Selbst irren und täuschen – allerdings scheint seine Verbindung mit der spirituellen Dimension häufig dichter und direkter zu sein als die des Focus. Das Selbst in der Aufstellung stellt auch jeweils nur bestimmte Facetten des gesamten Selbst dar. Wie man mit dem Ast eines Baumes gewissermaßen auch den ganzen Baum erwischt. Anders wäre auch nicht zu erklären, dass bei mehreren Aufstellungen mit demselben Klienten oft wieder Abspaltungen auftreten und sich ganz andere Aspekte seines Selbst zeigen. Das Selbst ist also offensichtlich sehr komplex, ja es wirkt unerschöpflich.

Das Selbst ist wie der Körper ein Ganzes, Eins. Die Metapher des Körpers passt auch insofern, als das Selbst faszinierend vielschichtig ist. So wie der Körper unterschiedliche Organe hat, die alle notwendig sind, und in gegenseitiger Abhängigkeit und Verbindung stehen, ebenso ist auch das Selbst ein Ganzes mit Facetten, Weite und Tiefe. Daher ist es möglich, Aspekte des Selbst als solche aufzustellen, also z. B. bestimmte Grundbedürfnisse einzeln noch dazuzustellen. Damit wird aber das Selbst nicht geteilt oder aufgespalten, und es werden auch nicht mehrere Selbste in einer Person postuliert.

Der Raum der Person in der Aufstellung

Es ist in der Psychotherapie schon lange üblich, mit inneren Anteilen zu arbeiten. Besonders bekannt ist dabei die Arbeit mit dem inneren Kind bzw. jüngeren Anteilen des Klienten. [3] Ebenfalls aus der Hypnotherapie entwickelt, ergänzt mit traumatherapeutischen Elementen, ist die Ego-State-Therapie. [4] Vor allem auf diesen Ansatz möchte ich mich im Folgenden beziehen.

In der Aufstellungsszene wurden solche und andere Ansätze integriert. Für die Systemischen Strukturaufstellungen ist es ganz selbstverständlich, mit inneren Anteilen zu arbeiten, sei es, um damit Ressourcen aufzustellen oder Hindernisse sichtbar zu machen. Was ich hier über den Raum der Person in der Aufstellung sagen werde, verdankt sich in vielem den innovativen Ideen von Robert Langlotz. [5]

Wenn Klienten das Anfangsbild stellen, so ist häufig zu sehen, dass Elemente, die zur Person gehören, das Selbst, jüngere Anteile (innere Kinder), Ego-States weiter weg stehen vom Focus als äußere Personen wie Eltern, Partner, Chefs etc. Im Lösungsprozess zeigt sich fast ausnahmslos, dass es eine Verbesserung bedeutet, wenn andere Personen weiter weg gestellt werden. Eine noch stärkere Verbesserung ergibt sich, wenn eine explizite Grenze im Raum markiert wird, die den eigenen Bereich des Klienten von der Umwelt trennt. Das geschieht durch das Legen eines Schals auf den Boden. Dieser Lösungsschritt wird erheblich verstärkt, wenn zuvor das Ritual der Kontexttrennung (aus den Strukturaufstellungen) [6] angewandt wird. Ich lege den Schal dann genau nach dem erfolgten Entmischungsschritt aus. Der Unterschied vorher/nachher wird so sinnbildlicher und verankert die Wirkung deutlich.

Die Erfahrung mit solchen Interventionen zeigt, dass die Unterscheidung zwischen intern und extern einer Person für ihre Kongruenz, Authentizität und Autonomie höchst relevant ist. Wenn eine Verwirrung zwischen innen und außen aufgelöst wird, dann fühlt sich ein Klient in der Regel sofort wohler. Ich habe noch nie erlebt, dass eine klare Grenze nicht als heilsam erlebt wurde.

Die Situation ist häufig dramatisch, wenn alte Traumata sichtbar werden. Dann steht der Täter (oder auch mal der Unfall) ganz dicht beim Focus, während das Selbst und eine jüngere Version des Klienten (ein inneres Kind) sehr weit weg, abgewandt sind, wobei sie sich unverbunden und sehr belastet fühlen. Diese Situation kann man als Abspaltung bezeichnen. In der Regel können sie umso mehr mit dem Focus eine Verbindung eingehen, je deutlicher und stärker die Grenze als Grenze erlebbar ist. Hier könnte man beinahe von einem direkten Wechselverhältnis sprechen. Wobei im Ablauf eine eindeutige Reihenfolge vorliegt: eine verstärkte Grenzziehung ermöglicht mehr innere Verbindung; die Abgrenzung nach außen ist die Voraussetzung für den gelingenden Zusammenhalt der inneren Aspekte der Person.

Beim Selbst gibt es mehrere Varianten, wie es zu seiner Abspaltung kommen kann. Dies zu wissen ist auch für die Lösungsfindung wichtig. Denn die Anerkennung und Verantwortungsübernahme für ein Wegschicken oder sogar Wegdrücken des Selbst gehört zu den wichtigen Schritten, die zur Wiederverbindung führen.

Es kommt zu einer Abspaltung des Selbst erstens, wenn Gewalt und Aggression im Spiel waren und der Klient das Selbst auf diese Weise geschützt hat. Indem das Selbst kaum noch mit dem bewussten Erleben zusammenhing, konnte es von den Verletzungen auch ferngehalten werden. (Meine Vermutung ist: das Selbst hat dies als wesentliches Mittel, um Schmerzen abzuwehren.) Zweitens, wenn ein Kind merkt, dass seine Individualität nicht gesehen oder nicht akzeptiert wird, dann verschiebt es das Selbst gern an einen „geheimen“ Ort und spürt es in sicheren, besonderen Momenten. Diese werden dann als sehr ressourcenreiche Zustände erinnert. In diesem Fall wird das Selbst vor Ablehnung geschützt. Drittens, eine andere Variante des Wegschickens liegt vor, wenn ein „warmer“ Übernahmeversuch von einer Vertrauensperson geschah. Dies sind die Fälle, wo z. B. eine überfürsorgliche, oft in besten Absichten versorgende Mutter alles für ihr Kind tut und sein möchte. Für das Kind wirkt sich das allerdings dann eher wie eine Landnahme aus; es fühlt sich manipuliert, aber genießt manchmal die Verwöhnung, Abschottung und „Prinzenrolle“. Hier ist das Selbst ebenfalls nicht geachtet und wird aus Schutzgründen weggerückt. Das kann aber auch einen angenehmen (reizvollen) Aspekt haben. Das führt zum vierten Fall, wo dem Selbst eine andere Person vorgezogen wird. Diese wird dann mehr geschätzt, ja sogar mehr geliebt als das eigene Selbst. Dies sind häufig Personen, zu denen es eine Zeit lang eine positive Bindung in schwierigem Umfeld gab, z. B. eine früh verstorbene Großmutter. Ich habe dies sehr häufig gesehen, wenn Klienten einen ungeborenen, im Mutterleib verstorbenen Zwilling hatten. Hier war die Beziehung zum Zwilling offenbar so wohltuend, dass das eigene Selbst darüber zurückgesetzt wurde.

In den Fällen der Abspaltung ist häufig zu beobachten, dass eine äußere Person an die Stelle des Selbst gelangt. Dies kann man auch falsches Selbst nennen. Ein Introjekt übernimmt also Funktionen des Selbst. Nicht selten sind diese Introjekte die konservierten Täter. Da das Selbst Bedürfnisse, Wünsche und Gefühle vermittelt, ist die Folge eine große Verwirrung im eigenständigen Sein. Es ist dann schwer, seinen Gefühlen zu trauen, eigene Entscheidungen zu treffen, der eigenen Lebendigkeit zu folgen. Denn hier gibt es eine Konkurrenz an Gefühlen, die mit Ambivalenz in vielen Lebenssituationen einhergeht. Denn, wie schon gesagt, das Selbst verschwindet niemals. Sogar wenn die Verbindung fast nicht mehr besteht, es bleibt doch ein untilgbarer Zusammenhalt.

Das Selbst und die Ego-States

Was ist der Status, was ist die Realität des Selbst? Wie ist dieses näher zu verstehen? Das möchte ich nun vor dem Hintergrund des Theorie der Ego-States darstellen. Dieser therapeutische Ansatz scheint mir besonders gut geeignet, in der Frage des Wesens des Selbst weiterzukommen. Was sind Ego-States?

„Ein Ego-State kann definiert werden als ein organisiertes Verhaltens- und Erfahrungssystem, dessen Elemente durch ein gemeinsames Prinzip zusammengehalten werden und das von anderen Ego-States durch eine mehr oder weniger durchlässige Grenze getrennt ist.“ [7] Es sind also innere Cluster, die wie eigene Persönlichkeiten innerhalb der Person erscheinen. Sie können assoziiert und dissoziiert auftreten. Im dissoziierten Fall erscheinen Sie innere Stimmen, Wünsche, Emotionen. Im assoziierten Fall gerät man ganz in den Zustand des Ego-States selbst. Die Welt wird so ganz aus dieser Perspektive erlebt. Eine Person handelt dann aus den Kompetenzen dieses Zustandes heraus.

Ego-States besitzen ihre eigene Geschichte, ein eigenes Alter, einen eigenen Charakter, eigene Bedürfnisse, Wahrnehmung, Emotionen, Funktionen, Fähigkeiten und Symptome. Sie haben letztlich eine gute Absicht und versuchen, sinnvoll und unterstützend zu sein. Sie lassen sich nicht eliminieren und reagieren auch heftig, falls solche Versuche unternommen werden. Sie wachsen, lernen und entwickeln sich. Und sie sind intern soziale Wesen – haben also untereinander Kontakt, Austausch, Konflikte und Kooperationen. [8]

Aus meiner Sicht stützt die Erfahrung in Aufstellungen mit inneren Anteilen sehr diese Theorie. Stellt man nämlich einzelne Bedürfnisse, Emotionen, Fähigkeiten, Symptome (wie Zweifel, Ärger, Unsicherheit) auf, so erscheint meistens ein größerer Komplex, den eine gewisse Eigenständigkeit und innere Konsistenz auszeichnet. Sie lassen sich als Aspekte von Ego-States auffassen. Der Schlüssel zu einer verbesserten Integration von Fähigkeiten oder Transformation von Symptomen liegt häufig in der Geschichte der Ego-States, deren Ausdruck sie sind.

Nun ist die Frage, wie verhält sich das Selbst zu den Ego-States. Die Merkmalsliste lässt viele Parallelen erkennen. Ich sehe drei zu diskutierende Möglichkeiten:

  1. Das Selbst ist ein Ego-State unter anderen, vielleicht ein primus inter pares.
  2. Das Selbst ist ein Kernzustand, ein Kern-Ego-State, der übergeordnet, fundamentaler ist.
  3. Das Selbst gehört zu einer anderen Ebene – es ist dann selber kein Ego-State.

Ad 1.: In der Szene der Ego-State-Therapeuten wird ein Ego-State viel diskutiert, die innere Stärke. Das Selbst könnte in etwa dieses Ego-State sein: kraftvoll, kreativ, unabhängig, mitfühlend, lebendig … Es wäre dann eine Art erstes Ego-State: von Anfang an dabei. Das älteste Geschwister der inneren Familie, das erste Mitglied im Team, schon vorgeburtlich dabei. Ich vermute, viele Klienten verstehen das Selbst auch auf eine ähnliche Weise. Und da das funktioniert, kann diese Vorstellung nicht ganz falsch liegen. [9]

Was dagegen spricht: Das Selbst wirkt viel umfassender, grundsätzlicher. Es scheint für jeden Ego-State selber wieder Selbst sein zu können. Dies führt dann zur nächsten Möglichkeit, eine ebenfalls in der Ego-State-Theorie diskutierte Variante.

Ad 2.: Es könnte einen Kernzustand (Core-State) geben, der allen Ego-States zugrundeliegt. Er wäre subtiler, durchdringender, weiter. Ein solcher Zustand würde dann auch reinere Qualitäten in sich vereinen, wie Liebe, Erkenntnis, Kraft, Macht, Weisheit. Das Selbst wäre genau dieser Core-State.

Dagegen spricht: das Selbst habe ich etwa in 1.500 verschiedenen Versionen gesehen. Es war nie ein höheres Selbst. Es hatte nicht die exklusiv höheren, reineren, feineren Eigenschaften. Sondern die Selbste erschienen handfest, nah, direkt mit dem Leben verknüpft und all seinen gewöhnlichen Erscheinungsformen angemessen. Allerdings war der Zugang zu den höheren (oder tieferen) Qualitäten einfacher, natürlicher. Das Selbst wäre dann: das, was das Ich (oder Bewusstsein) mit der Seele verbindet.

Ad 3.: Das Selbst ist zwar auf alle Ego-States bezogen, ist aber selber keiner, sondern gehört strukturell auf eine andere Ebene. Dies wäre meines Erachtens die interessanteste Perspektive auf das Selbst. Hier kann ich nur ganz vorläufige Überlegungen wiedergeben. Ich sehe das als Forschungsprogramm, eine solche ganz anders geartete Konzeption des Selbst zu finden und zu formulieren.

Die Idee ist: Das Selbst ist das, was innen ist. Als außen erleben wir Wahrnehmbares. Die Wahrnehmung bezieht sich auf etwas, das unabhängig von uns besteht. Zur Wahrnehmung gehört weiter, dass andere wahrnehmende Wesen ebenfalls Bezug nehmen können auf den selben Wahrnehmungsgegenstand. Nebenbei gesagt folgt daraus übrigens, dass ein wahrnehmendes Wesen selber wahrnehmbar sein muss. Es hat also einen Körper. Die Wahrnehmung ist gegenwärtig. Sie ist immer jetzt und hier; Erinnerung und Planung oder Vorstellung sind keine Wahrnehmung. [10] Die Wahrnehmung ist also sinnlich. Wenn Wahrnehmung sich notwendig auf Äußeres bezieht, dann kann das Selbst, das innen ist, nicht wahrnehmbar sein.

In einer Unterscheidung erster Ordnung fallen die Grenzen von außen und innen etwa mit den Körpergrenzen zusammen. Die Beobachterperspektive ist verortet im Körper. Die Sinne richten sich nach außen in die Umwelt des Körpers; der Körper bleibt hier ein blinder Fleck (das Auge sieht sich selbst nicht). Innen ist dann die Innenseite des Organismus: alles was zu den körperlichen Selbstorganisationsprozessen gehört. Im Deutschen haben wir dafür ein Wort: Leib. Auf dieser Stufe wäre also das Selbst der Leib.

Reflexion ermöglicht eine Außen/Innen-Unterscheidung zweiter Ordnung. Nun die Wahrnehmung (die wahrnehmbare Welt) als das Außen von dem Gewahrsein als dem Innen unterschieden. Das Gewahrsein gehört dann dem Bereich Bewusstsein an. Das Bewusstsein ist das Innen. Und in der Tat: nehmen wir einen anderen Menschen wahr, so erfahren wir seinen Körper und seine sprachlichen Ausdrücke (verbal und nonverbal). Das Bewusstsein des Anderen, seine Beobachtungsperspektive, bleibt jedoch unerkennbar. Wir nehmen nicht die Erlebnisqualitäten des anderen wahr. Eine Fledermaus können wir so intensiv betrachten wie wir wollen: ihre Art Ultraschall zu erleben, bleibt uns verschlossen. Innen sind damit alle Bewusstseinsformungen wie Schmerz und Lust, Emotionen, Gedanken, Absichten, Stimmungen, Erinnerungen, Vorstellungen. Dieser Bereich ist offensichtlich in sich komplex. Irgendwie schaffen wir es als Personen dennoch, zu handeln. Sprechen wir jemand mit „Du“ an, meinen wir dieses Innen, seine Selbstorganisation im Bewusstsein. Das meint auf dieser Stufe das Selbst. Es ist so bewusst, wie die Atmung bewusst sein kann.

Dies ist nicht der Endpunkt der Reflexion der Außen-Innen-Unterscheidung. In dritter Ordnung können wir uns zu uns selbst in Beziehung setzen. Das Gewahrsein oder Bewusstsein ist nicht wie eine Leinwand, auf der ein endloser Film abläuft, Bilder auf Bilder folgen. Sondern das Bewusstsein ist selber wieder ein „Raum“. Wir können ihn mit unserer Aufmerksamkeit bereisen und fokussieren. Etwas ganz wahrnehmungsähnliches (wenn es nicht in Wahrheit sogar eine Wahrnehmungsform ist) ist in uns, im Bewusstseinsraum möglich. Wir können innere Bilder sehen und verändern, innere Dialoge führen (mit den Ego-States), innere Gestalten schaffen (nämlich Ideen) und verändern. Das Innen wird zu einem neuen Außen. Was ist dann aber dazu innen? Die Unterscheidung ist jetzt: Bewusstsein und das Mir des Bewusstseins, der Bewussthaber [11]. Dies ist eine Unterscheidung dritter Ordnung. Das Mir des Bewusstseins ist das, dem das Bewusstsein bewusst wird. Das, wohin die Bewusstseinseindrücke gelangen. Per Definition ist dieses Innen nun nicht mehr wahrnehmbar. Es kann kein intentionaler Gegenstand sein. Es ist umgekehrt das, von woher Intention überhaupt ausgehen kann. Im Bild: die Rückseite des Spiegels (der Spiegel ist das Gewahrsein oder das Bewusstsein, das Gespiegelte ist das Wahrgenommene oder Erlebte). Und genau das ist das Selbst.

Dann liegt das Selbst auch den unterschiedlichen Ego-States als deren Innenseite zugrunde. In einem anderen Bild gesagt: die Ego-States sind wie verschiedene Farb-Dias, die vor das Licht des Projektors geschoben werden (das dem Selbst entspricht). Damit wird ein Licht auf Gegenstände im Raum geworfen, und die Überlagerung von Dia-Projektion und Gegenstandserscheinung macht unser Sehen aus (die Wahrnehmung).

Das Selbst kann also für unser Bewusstsein nicht direkt angesteuert werden. Es zeigt sich über die Gefühle und Grundbedürfnisse (im Sinne von Marshall Rosenberg). In den Gefühlen sind wir. So erleben wir unser Sein. Und dieses eigene Sein ist das Selbst.

Das Verstehen des Selbst erscheint somit als abhängig vom theoretischen Durchdringen solch fundamentaler Begriffe wie Bewusstsein, Ich, Innen-Außen-Differenz, Wahrnehmung und Gefühl. Es ist mir bewusst, dass mit dieser knappen Darstellung mehr eine Aufgabe als eine Antwort gegeben wird.

Mir erscheint das Selbst in den Aufstellungen auch deshalb so kostbar, weil wir hier doch abbilden können, was sonst so nicht beobachtbar ist.

Offenbar ist das eigene Sein, die eigene Wirklichkeit empfindlich und kann verloren werden. Wir sind dann irreal, leben ohne zu leben, und sind für die Mitmenschen nicht fassbar, greifbar, erfahrbar. Kurz: Kein wahres Du.

Daher wird die neue Nähe mit dem Selbst immer wieder als so beglückend und berührend und sinnstiftend erlebt.


[1]  Hiermit folge ich der Idee der „transverbalen Sprache“ von Matthias Varga von Kibéd und Insa Sparrer, siehe zuletzt dazu: dies.: Klare Sicht im Blindflug. Schriften zur Systemischen Strukturaufstellung, Heidelberg 2010, S. 13ff.

[2]  Dies ist das Format der sprachlichen Oberflächenstrukturaufstellung. Vgl. dazu: Insa Sparrer: Systemischer Strukturaufstellung. Theorie und Praxis. Heidelberg 2009, S. 139.

[3]  Vgl. Stephen G. Gilligan: Self-Relations-Therapy, dargestellt in: Ders.: Liebe dich selbst wie deinen Nächsten. Die Psychotherapie der Selbstbeziehungen, Heidelberg 2011

[4]  Vgl. Kai Fritzsche, Woltemade Hartman: Einführung in die Ego-State-Therapie, Heidelberg 2010; John G. Watkins, Helen H. Watkins: Ego-States – Theorie und Therapie, Heidelberg 2008

[5]  Vgl. dazu: Ernst Robert Langlotz: Symbiosemuster in systemischer Sicht. „Sippengewissen“ oder kollektive Symbiose – Kritischer Beitrag zur „Philosophie“ des Familienstellens. In: Systema 2/2009, S. 166-178. Auch: http://www.if-weinheim.de/images/stories/systhema/2009/2_2009/Sys_2_2009_Langlotz.pdf

[5]  Vgl. dazu Sparrer (2009), a.a.O., S. 121f.

[6]  Watkins und Watkins (2008) a.a.O., S. 45

[7]  Vgl. dazu Fritzsche u. Hartmann (2010) a.a.O., S. 36f.

[8]  Es kann sich freilich auch um ein Modell des Selbst halten, das dann als Ego-State internalisiert wurde. Ein Stellvertreter des Selbst, der dann mit dem Selbst selbst leicht verwechselt werden kann.

[9]  Vgl. dazu: Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung – Eine Autopsie. Berlin 2009

[10]  Lesenswert dazu: Hermann Schmitz: Bewusstsein. Freiburg 2010, S. 9-23.

Verfasst von
Dr. phil. Holm von Egidy
Heilpraktiker (Psychotherapie), Systemischer Therapeut und Berater, Coach, Mediator
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Zitiervorschlag
Egidy, Holm von , 2011. Das Selbst im Inneren [online]. socialnet Materialien. Bonn: socialnet, 14.02.2011 [Zugriff am: 24.03.2025]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/materialien/117.php

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