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Elterlicher Suizid und die langfristigen Folgen für betroffene Kinder und Jugendliche

Prof. Ulrich Paetzold

veröffentlicht am 31.03.2011

Zusammenfassung

Die weltweit umfangreichste Studie aus Schweden zum Thema elterlicher Suizid aus dem Untersuchungszeitraum von 1969 bis 2004 - erschienen 2010 - gibt Auskunft über mögliche langfristigen Folgen eines elterlichen Suizides für die Nachkommen: eine höhere Wahrscheinlichkeit selbst einen Suizid zu begehen und die Ausbildung verschiedener, psychiatrischer Störungen.

Die Thematik Suizid ist in vielen, verschiedenen Aspekten auch in der deutschen Fachliteratur intensiv und fundiert bearbeitet worden. Bei genauerer Betrachtung erstaunt, dass die Wirkung und die Folgen für Kinder bzw. Jugendliche bei einem elterlichen Suizid in der deutschsprachigen Fachliteratur kaum Beachtung finden. Auch in den mittlerweile vielen Veröffentlichungen zu Traumatisierungen wird elterlicher Suizid wohl als Beispiel gelegentlich erwähnt, aber nicht gesondert oder intensiv betrachtet. Dies ist auch deshalb umso erstaunlicher, weil wir aus dem Bereich der stationären Jugendhilfe seit langem Hinweise dafür haben, dass diese Gruppe bei Fremdunterbringungen häufiger vertreten ist (Schleiffer 1988/ Weiß 2006).

In der englischsprachigen Literatur wird die Thematik häufiger aufgegriffen und hat jetzt durch eine umfangreiche Studie, die im Jahr 2010 veröffentlicht wurde, erstmals die negativen Langzeitfolgen für die davon betroffenen Kinder und Jugendlichen überzeugend belegt (Wilcox u.a. 2010).

Die Studie beeindruckt aus verschiedenen Gründen

  • die Untersuchungsgruppe ist erheblich höher als alle bisherigen Studien zu diesem Thema.
  • die Gruppe ist so groß, dass unter verschiedene Todesarten differenziert werden kann und diese zum Entwicklungsalter des Kindes in Beziehung gesetzt werden konnten.
  • die Länge des Untersuchungszeitraumes nach dem Suizid.

Die berechtigte Kritik an früheren Studien, beispielsweise an retrospektiven Befragungen, an der Zusammensetzung der Stichprobe, an ungenauen Altersgrenzen, an nicht ausreichenden Kontrollgruppen (Weiß 2006), kann hier an dieser Studie nicht angebracht werden.

Die Situation in Deutschland

Im Gegensatz zu der Studie aus Schweden gibt es für Deutschland keine Zahlen, die den Zusammenhang Suizid eines Elternteils – Kind(er) herstellen könnten. Bei Suizid wird nicht erfasst, ob davon Kinder betroffen sind (mail Bundesamt für Statistik 13.10.2010).

Die mögliche Situation in Deutschland lässt sich nur indirekt erschließen.

Die sehr differenzierten Statistiken des Statistischen Bundesamtes über Zahl und Form der Suizide in Deutschland lassen zu der Frage betroffener Kinder nur Vermutungen zu. Eine grobe Orientierung könnte die potentielle Altersspanne von Eltern mit Kindern sein:

Suizide 2008

Altersgruppe

30 - 35

937

35 - 40

1.178

40 - 45

1.756

Tabelle 1: Suizide 2008 (Internet 1)

Das Geschlechterverhältnis der Suizide ist in Deutschland ähnlich wie in Schweden:

ca. 75% sind männlichen, ca. 25% sind weiblichen Geschlechts.

Da bei den oben genannten Zahlen unklar ist, welchen Familienstand die jeweiligen Personen hatten, sind nur vorsichtige Schlüsse möglich.

Eine andere Zugangsmöglichkeit besteht über die Zahl der Halbwaisen in Deutschland

166.000 Halbwaisen (davon 57.000 unter 18 Jahren) leben bei ihrem verwitweten Vater.

647.000 Kinder und Jugendliche (darunter 202.000 Minderjährige), wachsen nach dem Tod des Vaters bei ihrer Mutter auf (Weiß 2006).

Geht man spekulativ von 2.000 – 3.000 betroffener Kinder pro Jahr in Deutschland aus, wird bei der langfristigen Betrachtung die Problematik deutlicher: innerhalb von zehn Jahren können wir vermutlich von einigen Zehntausend Betroffener sprechen.

Die gesundheitspolitische Bedeutung wird durch die aktuelle Studie aus Schweden verdeutlicht, da wir im Langzeitverlauf mit der Entwicklung verschiedener, psychischer Störungen und damit mit erheblichem individuellem Leid rechnen müssen. Auch unter dem Blickwinkel von Therapie und Beratung müsste elterlicher Suizid und die Folgen eine Neubewertung erfahren.

Die wichtigsten Ergebnisse der Studie aus Schweden

Vorläuferstudie

Die familiäre Häufung von Suiziden konnte bereits in einer früheren, schwedischen Studie unstrittig belegt werden. Auch hier wurde die Gesamtpopulation der Jahrgänge 1949 bis 1969 statistisch aufbereitet:

Suizide

Beziehungen ersten Grades

Vollendete Suizide

Anteil an alles Todesfällen

8.396

33.173

287

9,4%

Kontrollgruppe

(andere Todesfälle)

7.568

28.945

120

4,6%

Tabelle 2: Familiäre Häufung von Suiziden (nach Runeson/ Åsberg 2003)

Es zeigte sich eine doppelt hohe Wahrscheinlichkeit im Vergleich zur Kontrollgruppe selbst einen Suizid zu vollenden.

Methode der aktuellen Studie

Es konnten Daten aus verschiedenen schwedischen Registern benutzt und verknüpft werden (mit dauerhaftem Wohnsitz seit 1932, aktuell von ca. 13 Millionen Personen, dabei können Eltern zu ihren Kindern zugeordnet werden). Ebenfalls ist ein Sterberegister vorhanden, in dem 99% aller Todesfälle mit ihren Ursachen (nach dem ICD kategorisiert) enthalten sind.

Zeitraum 1969 bis 2004

  • Suizid eines Elternteils: 44.397 Kinder unter 26 Jahre; insgesamt 23.512 Eltern.
  • Unfalltod eines Elternteils: 22.969 Eltern mit 41.467 Kindern.
  • 417.365 erlebten einen anderen Tod; dabei 247.798 Eltern.
  • Referenzgruppe von lebenden Eltern (nach 1940 geboren): 1.899.355 mit

3.807.867 Kindern unter 26 Jahren.

Die Daten des Sterberegisters konnten mit Daten aller Krankenhäuser, aller Gerichte etc. verknüpft werden. Die Daten der Untersuchungsgruppe wurden mit der Kontrollgruppe vergleichbar gemacht bezüglich Geburtsjahr und Geschlecht des verstorbenen Elternteils.

Ausgeschlossen wurden

  • Nachkommen, die vor dem Tod des Elternteils, Suizid etc. zeigten
  • Nachkommen, die keinen weiterlebenden Elternteil hatten
  • für die keine ausreichenden Daten vorlagen.

Ausgeschlossen wurden

  • 1.329 Nachkommen mit Suizid eines Elternteils
  • 1.205 Nachkommen mit Unfalltod eines Elternteils
  • 5.060 mit einem anderen Todesgrund.

Um die Vergleichbarkeit zu gewährleisten wurden nur Eltern in die Studie aufgenommen, die nach 1940 geboren wurden. Es wurde dann erfasst, wann – nach dem Tod eines Elternteils – die erste Aufnahme in einem Krankenhaus registriert wurde (Wilcox u.a. 2010).

Suizid eines Elternteils

Unfalltod

Andere Todesart

Kontrollgruppe (noch lebender Eltern)

23.512

22.969

247.798

1.899.355

Durchschnittsalter

Geschlecht

44

72% m

28% w

47

76% m 24% w

54

70% m

30% w

48% m

52% w

Betroffene Kinder unter 26 Jahre

Geschlecht

Durchschnittsalter

0 – 12

13 – 17

18 - 25

44.397

52% m

48% w

40%

23%

38%

41.467

51% m

49% w

35%

20%

45%

417.365

51% m

49% w

19%

20%

62%

3.807.867

51% m

49% w

Tabelle 3: Zeitraum 1969 bis 2004 (nach Wilcox u.a. 2010)

Erhöhtes, eigenes Suizidrisiko

Die aktuelle Studie kann beeindruckend belegen, dass bei Nachkommen von Suizid das Risiko für einen Suizid erheblich höher (1.4 bis 2.5 mal höher) ist und bei dem Tod durch andere Ursachen kein erhöhtes Risiko für Suizid erkennbar ist.

Insgesamt hat die Art des Todes eines Elternteils erheblichen Einfluss auf das Leben der Nachkommen. Als weitere, moderierende Variable für ein späteres, erhöhtes Suizidrisiko kann das Alter zum Zeitpunkt des Suizides festgehalten werden:

  • während der Kindheit und Jugend ist das Risiko dreimal höher für einen eigenen, späteren Suizid.
  • kein höheres Risiko besteht, wenn der Suizid während des jungen Erwachsenenalters geschieht.
  • ebenfalls höher (zweimal) ist das Risiko bei Unfalltod eines Elternteils. (Wilcox u.a. 2010).

Alle drei Studien verweisen darauf, dass psychische Störungen als Risikofaktoren festzustellen sind, gleichzeitig wird jedoch betont, dass Suizid und Suizidversuche unabhängig von Störungen in der Familiengeschichte zu betrachten sind. Festzuhalten bleibt: „suicidal behavior runs in families“.

Psychiatrische Langzeitfolgen (stationäre Aufnahme)

In der Gesamtgruppe (der elterlichen Todesfälle) besteht ein erhöhtes Risiko selbst wegen psychiatrischer Störungen hospitalisiert zu werden und ein erhöhtes Risiko eigener Suizidversuche (1.3 bis 1.9).

Art des elterlichen Todes

Elterlicher Suizid

Unfall

Andere Todesart

Suizidversuch

1.5 – 2.0

1.2 – 1.6

1.2 – 1.5

Depressive Störung

1.6 – 2.2

1.2 - 1.6

1.2 - 1.5

Psychotische

Störungen

1.6 – 2.3

1.3 – 1.8

1.1 – 1.8

Persönlichkeits-störungen

1.6 – 2.3

1.1 – 1.7

1.3 – 1.9

Alkohol/ Drogen Probleme

1.5 – 2.0

1.4 – 2.0

1.5 – 2.0

1.5 – 2.1

1.5 – 1.9

1.5 – 1.9

Tabelle 4: psychiatrische Langzeitfolgen (nach Wilcox u.a. 2010)

fett = signifikante Unterschiede

Auch hier lassen sich die langfristigen Folgen nach Todesart und nach dem jeweiligen Alter des Kindes bzw. Jugendlichen differenzieren.

Das Risiko ist abhängig von der Art des elterlichen Todes: bei Suizid eines Elternteils besteht ein höheres Risiko psychiatrischer Hospitalisierung insbesondere wegen depressiver Störungen und Persönlichkeitsstörungen im Vergleich zu anderen, elterlichen Todesarten.

Bei elterlichem Suizid während der Kindheit

  • gab es ein erhöhtes Risiko für eine Einweisung wegen Drogengebrauchs und psychotischen Störungen im Vergleich zur Gruppe mit noch lebenden Eltern.
  • dieses Ergebnis zeigte sich auch beim Erlebnis eines Unfalls während der Kindheit im Vergleich zum jungen Erwachsenenalter.

Insgesamt zeigen die Ergebnisse dieser Studie, dass für einen Teil betroffener Kinder und Jugendlicher eines elterlichen Suizides die Traumatisierung langfristig erheblich ist. In der Studie wird ebenfalls betont (wie auch in anderen Publikationen zur Traumaforschung: siehe Fischer/ Riesesser 1999), dass weitere, subklinische Folgen zu vermuten sind.

Frühere Vermutungen, dass familiärer Suizid mit höherem Kontrollverlust (Impulskontrolle, aggressives Verhalten) zusammenhängt, konnten in dieser Studie nicht belegt werden. Die Autoren der Studie hatten dazu Gerichtsakten nach Verurteilungen untersucht und konnten hier keine signifikanten Ergebnisse herausfinden.

Die Autoren der Studie betonen auch die Grenzen der Studie: welche ambulanten Maßnahmen in Anspruch genommen wurden, ist unklar, welche subklinischen Symptome auftreten könnten, welche genauen Wirkmechanismen nach dem Tod eines Elternteils tätig sind, ist ebenfalls unklar.

Offene Fragen: der Entwicklungsaspekt

Durch diese schwedische Studie wissen wir den Auslöser und die langfristigen Folgen einer Traumatisierung. Offen und wenig erforscht ist die entscheidende Zeit nach dem Suizid bzw. Tod eines Elternteils. Dabei legen die Ergebnisse der Studie eine Akzentverschiebung nahe: wir kennen die Traumatisierung, müssen aber gleichzeitig feststellen, dass – scheinbar – bei der Mehrzahl keine Posttraumatische Belastungsstörung langfristig zu beobachten ist.

Van der Kolk (2005) hat aus seinen Erkenntnissen der Traumaforschung, einen neuen Diagnosevorschlag vorgelegt („Developmental Trauma Disorder“), da er wie auch andere Traumaforscher (Fischer/Riedesser 1999) das Störungsbild PTBS nicht passend für kindliche Traumatisierungen findet, da dieses dem Entwicklungsaspekt von Kindern und Jugendlichen nicht gerecht wird.

Die Kennzeichen von „Developmental Trauma Disorder“ sind unter anderen

- automatisierte Muster wiederholter Dysregulation, ausgelöst durch Trauma-Reize

- fixierte veränderte negative Einstellungen und Erwartungen

- funktionale Defizite/Beeinträchtigungen (beispielsweise in den Bereichen Schule und Familie/ van der Kolk 2005).

An diese Überlegungen anknüpfend führt Hensel (ohne Jahr) einen meiner Einschätzung nach wichtigen Aspekt ein. Er schreibt „Vergleicht man die zentrale Symptomatik traumabedingter Folgen und Störung des Sozialverhaltens, so ist die Überlappung der beiden Syndromkreise so frappierend, dass es doch überraschend ist, wie wenig eine traumabasierte Betrachtungsweise bisher in die Konzeptualisierung der Störung des Sozialverhaltens und in ihre psychotherapeutische Behandlungsversuche Eingang gefunden haben.“ (Hensel o.J. S. 5).

Er betont, dass bei Störungen des Sozialverhaltens bisherige Ansätze (in der deutschsprachigen Fachliteratur) wenig traumabedingte Folgen mit einbeziehen. Hier könnte ein erster Ansatzpunkt für Verlaufsstudien sein.

Insgesamt ist die Entwicklungsthematik und der spätere Verlauf schwierig zu fassen, da sehr viele, unterschiedliche Variablen unklar sind: welches Familienklima herrschte vor dem Suizid, welche familiäre und soziale Unterstützung erfolgte danach, wie bewältigte das andere Elternteil den Suizid, welche sozialen „Brüche“ geschahen in der Folgezeit, sind nur einige der Fragen, die sich stellen.

Eine Frage aus der Praxis bleibt ebenfalls unbeantwortet: wie kann ich die betroffenen Kinder und Familien erreichen? Es besteht die Vermutung, dass betroffene Familien aus verschiedensten Gründen (z.B. Scham, Unkenntnis) kaum professionelle Hilfe suchen. Hilfreich sind auf jeden Fall Selbsthilfegruppen und Internet-Foren, die eine niedrigschwellige Unterstützung leisten. Aufklärungsarbeit beispielsweise durch Familienberatungsstellen könnte ein weiterer Baustein zur Prävention sein.

Quellen

Fischer G./ Riedesser P., Lehrbuch der Psychotraumatologie. München 1999

Schleiffer, R., Elternverluste – Eine explorative Datenanalyse zur Klinik und Familiendynamik. Berlin, Heidelberg, New York u.a.: 1988

Van der Kolk, B., Developmental trauma disorder: Towards a rational diagnosis for chronically traumatized children. Psychiatric Annals, 2005,35 (5), 401-408.

Weiß, S., Die Trauer von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen um den verstorbenen Vater. Dissertation. München, 2006

Wilcox, H.C./ Kuramoto, S.J./ Lichtenstein, P./ Langström, N./ Brent, D.A./ Runeson, B., Psychiatric Morbidity, Violent Crime and Suicide Among Children and Adolescents Exposed to Parental Death. Journal of the American Academy of Child & Adolscent Psychiatry, Volume 49/ Number 5/ May 2010

Internetquellen

Internet 1:www.gbe-bund.de (Sterbefälle)

Hensel, T., Traumazentrierte Psychotherapie (EMDR) bei Jugendlichen mit Störungen des Sozialverhaltens – das MASTR-Manual. Aufsatz auf der Internetseite: www.kindertraumainstitut.de

Verfasst von
Prof. Ulrich Paetzold
Professor für Psychologie an der Hochschule Lausitz, Fachbereich Sozialwesen in Cottbus. Neben interkulturellen Fragen sind Schwerpunkte in der Lehre: sexueller Missbrauch, Klinische Psychologie, Beratung. Zusatzqualifikationen: Approbation zum Psychologischen Psychotherapeuten sowie verschiedene kognitive Therapieverfahren.
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Zitiervorschlag
Paetzold, Ulrich, 2011. Elterlicher Suizid und die langfristigen Folgen für betroffene Kinder und Jugendliche [online]. socialnet Materialien. Bonn: socialnet, 31.03.2011 [Zugriff am: 07.11.2024]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/materialien/121.php

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