Die Zukunft hat begonnen
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
veröffentlicht am 14.06.2013
Das ist eine Tautologie – und doch beim Umgang des Menschen mit sich, seiner Zeit, seinen Wünschen, Hoffnungen und Problemen eine nur schwer zu bewältigende Betrachtungsweise. Über die Zukunft, in der Spannweite von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem, haben Philosophen nachgedacht, seit es Menschen gibt. Der griechische Philosoph Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) hat den Begriff „mellonta“ – Zukunft – im Zusammenhang damit eingeordnet, dass „von etwas, von dem jetzt wahrheitsgemäß behauptet werden kann, dass es ‚sein‘ wird (estai), irgendwann einmal wahrheitsgemäß behauptet werden können, dass es jetzt ist, während es sich bei etwas, von dem jetzt wahrheitsgemäß behauptet werden kann, dass es ‚bevorsteht‘ (mellei), am Ende herausstellen kann, dass es doch nicht geschieht“ [1]. Damit setzt er für die abendländische Philosophie Markierungen und Grenzpunkte, dass Annahmen über Zukünftiges wahr und falsch, bestimmt und unbestimmt sein kann, sich jedoch von Spekulativem unterscheidet.
Robert Jungk (1913 – 1994), der als einer der ersten neuzeitlichen Zukunftsforscher gilt und mit seiner Idee, Zukunftswerkstätten einzurichten, bis heute Einfluss auf Zukunftsdenken und -lernen hat, schrieb 1952 dass das Morgen schon im Heute vorhanden sei, „aber es markiert sich als harmlos, es tarnt und entlarvt sich hinter dem Gewohnten“ [2]. Diese Einschätzung beinhaltet die kritische Frage danach, ob und inwieweit der Mensch eine zukunftsfähige Existenz schaffen könne, oder ob nur egoistisch und materialistisch Denken und Handeln könne. Der Schweizer Manager und spätere Umweltaktivist Hans A. Pestalozzi (1929 – 2004) hat die „positive Subversion“ als einen Ausweg aus der Verhaftetheit des Menschen am Haben und dem fehlenden Bewusstsein am Sein (Erich Fromm) mit der von Hans Marti in Berner Mundart formulierten Aufforderung – „Wo chiemte mer hi / wenn alli seite / wo chiemte mer hi / und niemer giengti / für einisch z’luege / wohi daß me chiem / we me gieng // Wo kämen wir hin / wenn alle sagten / wo kämen wir hin / und niemand ginge / um einmal zu schauen / wohin man käme / wenn man ginge [3] – zum Ausdruck gebracht und gewissermaßen zu einem Perspektivenwechsel aufgefordert, wie dies in den Berichten an den Club of Rome [4], im Brundtland-Bericht [5], im Bericht der Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ in eindringlicher Weise appelliert wird: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“ [6], sowie in den jährlich erscheinenden Berichten des New Yorker World Watch Instituts „Zur Lage der Welt“ [7] der Menschheit vor Augen geführt wird.
Der lokal- und globalgesellschaftliche Diskurs über die Frage, wie Menschen in der Zukunft leben wollen, wie auch das trotzige Aufbegehren gegen neoliberale und kapitalistische Entwicklungen – „Eine andere, bessere (Eine) Welt ist möglich!“ – wird mittlerweile nicht mehr nur akademisch und theoretisch geführt; die Initiativen und alternativen Modelle für ein „gutes Leben“ haben ein breites, akzeptiertes Echo gefunden. Im folgenden sollen einige, durchaus subjektiv herausgesuchte Aspekte vorgestellt werden, wie sie zur „Zukunftssuche“ hier bei uns [8] und weltweit [9] diskutiert werden.
Collage
Collage zusammengestellt von Jos Schnurer aus NERV, magazin für studentisches sein, 02/2012, ASTA Uni Hildesheim und Hans Kulla: Die neue Fahrt. Lieder der Jungenschaft, Altenburger Singewerk, Freiburg 1959, S. 93
1. Vertrauen in die Vernunftbegabtheit der Menschen haben [10].
Es ist die Komplexität des Vertrauens und gleichzeitig das Zauberwort, das eingesetzt wird, wenn scheinbar Gespräche, Situationen und Verhaltensweisen aus dem Ruder zu laufen drohen, wenn Konflikte Kommunikationen erschweren oder gar unmöglich machen. „Vertrauen haben“, als ethische und moralische Charaktereigenschaft hat deshalb im philosophischen, gesellschaftlichen und individuell-alltäglichen Denken und Handeln einen hohen Stellenwert. Der Mensch, so eine biologische Interpretation, entwickelt von sich aus ein Grundvertrauen, insbesondere wenn es um Beziehungen zu anderen Menschen, um Kontakte und Kommunikation geht. Damit Vertrauen aber mehr sein kann als die Abwesenheit von Misstrauen, bedarf es eines Sozialverhaltens, das auf den Grundlagen des Logos wie des Pathos (Aristoteles) beruht. Niklas Luhmann etwa geht davon aus, dass Vertrauen ein elementarer Tatbestand des sozialen Lebens ist. Und in den Sprichwörtern wird die Bedeutsamkeit, Vertrauen zu entwickeln, in vielfältigen Ausdrücken deutlich: „Vertrauen ist das Gefühl, einem Menschen sogar dann glauben zu können, wenn man weiß, dass man an seiner Stelle lügen würde" (Henry Louis Mencken), "Vertrauen ist Mut, und Treue ist Kraft" (Marie von Ebner-Eschenbach), bis hin zur einschränkenden Habacht: "Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser", was angeblich von Lenin gesagt wurde. Bereits damit wird deutlich, dass Vertrauen nicht nur des eigenen Willens und der Fähigkeit bedarf, human zu leben, sondern vor allem auch bedingt ist durch die Bereitschaft des Gegenübers, Vertrauen entgegen zu nehmen und zu geben. Demnach ist die Frage danach, was Vertrauen ist und sich auswirkt, nicht einfach damit zu beantworten, dass Vertrauensfähigkeit eine „weiche“ Einstellung und Verhaltensweise ist; vielmehr, das zeigen die vielfältigen Formen und Erfahrungen des Alltagslebens, dass Unvertrauen und Vertrauensverlust eng zusammenhängen mit den gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen, wie mit den Werten, Normen, kulturellen und interkulturellen Identitäten des menschlichen Daseins.
„Vertrauen ist ein Phänomen, das… Komplexität reduzieren kann und Kooperation erleichtert oder überhaupt erst möglich macht“ – diese Lesart steckt in den Gewissheiten, mit denen wir eine vertrauensvolle Einstellung verbinden und einfordern für alle individuellen, lokalen und globalen Lebensbedingungen der Menschen auf der Erde. In der Charta der Vereinten Nationen (1945) wird an die Völker der Erde appelliert, „unseren Glauben an die Grundrechte der Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau…, nach Treu und Glauben…“ zu entwickeln und auszuüben. Ohne Zweifel steckt in dieser Aufforderung und Hoffnung die Erwartung, dass es der Menschheit gelingen möge, Vertrauen zueinander aufzubauen, „durch Förderung der Zusammenarbeit zwischen den Völkern auf den Gebieten der Erziehung, Wissenschaft und Kultur zur Wahrung des Friedens und Sicherheit beizutragen, um in der ganzen Welt die Achtung vor Recht und Gerechtigkeit, vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten zu stärken, die den Völkern der Welt ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder Religion durch die Charta der Vereinten Nationen bestätigt worden sind“, wie es in der Verfassung der UNESCO vom 16. 11. 1945 heißt.
2. Die Wirklichkeit und die eigene Wirklichkeit unterscheiden können [11]
Wie bitte? Soll es zwei Wirklichkeiten geben? Wäre dann die eine „Wirklichkeit“ nicht unwirklich und die andere, echte „Wirklichkeit“ nicht die einzig wirkliche? Eine vertrackte, unwirkliche Unterscheidung, werden Sie sagen! Oder haben wir es mit einer Abstraktion oder hamartia zu tun, wie Aristoteles den Irrtum bezeichnet als etwas, wovor man sich fürchtet, was man nicht tun soll? Wir sind bei der problematischen Nachdenke, ob die Realität, die wir in unserem alltäglichen und gesellschaftlichen Leben wahrnehmen, die wirkliche Wirklichkeit oder eine gemachte, vorgespiegelte und vertauschte Wahrheit ist. Es ist das „Rätsel der Erkenntnis“, das uns danach fragen lässt, ob wir erkennen können, wie Realität entsteht und wie wirklich sie ist [12].
3. Die Magie der Sprache und die Sprache der Magie [13]
Manchmal wird aus ersten, zögerlichen, zurückhaltenden Kontakten ein Gespräch, und es blitzen Gedanken als Kontroversen und Übereinstimmungen auf. Dann wird deutlich, was Aristoteles meinte, wenn er den anthrôpos, den Menschen, im Gegensatz zu den Tieren, als ein vernunft- ,sprachbegabtes, zur Bildung von Allgemeinurteilen fähiges, ein „gutes Leben“ anstrebendes, sozial in Gemeinschaft existierendes und auf die Zukunft hin orientiertes Lebewesen bezeichnete. Die Suche nach einer Ethik für das menschliche Dasein, lokal und global, bestimmt ja das philosophische, alltägliche und gesellschaftliche Denken, seit Menschen ihre Gedanken, Programmatiken und Lehren in Worte fassen, aufschreiben und öffentlich machen. „Gesprächs„- Bücher gehören, wenn sie nicht Banales und Unbedeutsames zu Papier bringen, zu jener Form der Literatur, die Unterhaltsames und Lehrsames zusammen bringen. Anlässe, Gespräche und Interviews auch einem größeren Leserkreis und Hörerkreis zugänglich zu machen, bieten sich vielfach dann, wenn gesellschaftlich Veränderungen anstehen. Ein Beispiel dafür sind der Abdruck der Gespräche, die Klaus Töpfer und Ranga Yogeshwar über die gesellschaftlichen, ökonomischen und ökologischen Entwicklungen für die Ära des Nach-Atomzeitalters geführt haben [14], oder das Interview, das die Journalistin Sandra Maischberger mit dem older Statesman Hans-Jochen Vogel geführt hat [15].
4. Das Wiedererwachen der Tradition [16]
Es ist schon erstaunlich – oder auch nicht? – dass in den Zeiten der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden (Einen?) Welt, in der sich kulturelle und zivilisatorische Trends angleichen, und in der konsumtive Tendenzen der Jeansisierung, der MacDonaldisierung und Cocacolisierung globale und scheinbar unaufhaltbare Ausmaße angenommen haben, dass Traditionen, gepaart mit Individualismen (und Egoismen), eine zunehmende Bedeutung und Aufmerksamkeit erlangen. Es braucht nicht der etwas platten, fingerzeigartigen Einschätzung, dass man sich nur darauf verlassen solle, bewährtes Vergangenes auch in der Gegenwart und Zukunft zu denken und zu tun – „Das haben wir schon immer so gemacht!„; vielmehr bedarf es des Nachdenkens darüber, wie sich traditionelles Denken und Handeln in der jeweiligen kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Situation der Menschen darstellt und als Identität wirksam ist. Weil Traditionen sich in vielfältigen Formen zeigen und kontextuell auftreten, sind die wissenschaftlichen Zugänge zu der Frage was Traditionen sind und sich als Traditionalismen verdeutlichen, interdisziplinär zu betrachten, wobei die anthropologischen und ethnologischen Aspekte gewissermaßen Leitfunktionen haben können. Die Selbst- (und durchaus auch die Fremd-)identifikationen bei der Beschreibung und Zuordnung zu einer Tradition, etwa einer Volksgruppe oder Nation, hat sowohl identitätsstiftende, als auch ab- und ausgrenzende Bedeutung: „Ethnische Identität (ist) immer das Produkt externer und interner Definition“.
5. Das janusköpfige Faszinosum Zeit [17]
„Zeit ist Vergangenheit und Zukunft im Jetzt“, so definiert der griechische Philosoph Aristoteles das Phänomen Zeit. Er erwähnt dabei aber auch, dass „chronos“ mehr ist als das Maß der Bewegung: „Wenn die Seele nicht misst, geht die Zeitordnung der Tage, Monate, Jahre im indifferenten Fluss der Bewegung verloren“ [18] (A. F. Koch, in: Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 110). Die Frage, was Zeit für das Leben der Menschen bedeutet, ergründen Philosophen, Schriftsteller und Wissenschaftler seit Jahrtausenden, malen und modellieren Künstler in ihren Werken, intonieren Musiker, drücken Menschen in ihren Daseinserfahrungen aus und gießen es in Sprichwörter. Das Sprichwort „Die Zeit steht still“ ist ein Anachronismus; und „Zeit ist Geld“ eine Verirrung. „Zeit haben“, wie auch „keine Zeit haben“ sind Kennzeichnungen von Lange-Weile und Stress und markieren eher menschliche Zulänglichkeiten und Unzulänglichkeiten, als eine mentale Auseinandersetzung über das Menschsein. Zeitvielfalt und Zeitdiktat sind Schlagwörter, hinter denen Zufriedenheit wie Unzufriedenheit mit dem individuellen und gesellschaftlichen, menschlichen Leben stecken. Zeit ist Menschlichkeit und Unmenschlichkeit, je nachdem der Zeiger ausschlägt. Wer das Zeitliche im Menschsein vergisst, lebt nicht mehr!
6. Selbstwirksamkeit als Denkprozess [19]
Was haben nicht Menschen, ob Intellektuelle oder solche wie du und ich, über Jahrtausende hinweg über das Denken des anthrôpos gedacht, vermutet, spekuliert und postuliert Es ist das dianoêtikon (Aristoteles), das den sprach- und vernunftbegabten Menschen gegenüber allen anderen Lebewesen auszeichnet. Die Menschheitsgeschichte zeigt freilich auch, dass es daran vielfach mangelt, und die Fähigkeit zu denken allzu oft in Zweifel gezogen werden muss. Wer „denkfaul“ ist, so die volkstümliche Einschätzung, bringt es zu nichts, er kommt nicht einmal zu sich selbst! Die Begriffsverbindungen, wie Mit-Denken, Vor-Denken, Nach-Denken, An-Denken, Be-Denken, Um-Denken, Ver-Denken, Selber-Denken… , verdeutlichen ja bereits, dass die Denkprozesse vielfältig, situations-, sach- und personenbezogen sind. Geradezu hinterwäldlerisch und daneben gilt, wenn Auffassungen vorherrschen, wie: „Da könnt‘ ja jeder kommen! Das haben wir noch nie so gemacht! Das haben wir schon immer so gemacht!“. Eine „Schule des Denkens“ gilt als hohe Form und Anforderung bei der Entwicklung des Menschseins. Es gibt Orte des Denkens, wie etwa das Tiroler Bauerndorf Alpbach, in dem das „Europäische Forum“ alljährlich Wissenschaftler, Philosophen, Politiker und Denker zu Wort kommen lässt, um die Lage der Menschheit zu analysieren und zu erkunden. Und es gibt Institutionen, wie Schulen, Universitäten und Volkshochschulen, in denen das Denken gelehrt wird und gelernt werden kann. Weil nämlich der Mensch intellektuell nur fähig ist, human zu leben, wenn er es zustande bringt, sich (auch) geistig zu verändern und den Wandel als einen natürlichen Prozess des Menschseins begreift, kommt eben dem Denken eine besondere Herausforderung zu; jedoch in der Form, die der US-amerikanische Psychiater Arnold R. Beisser so kennzeichnet: „Veränderung geschieht, wenn jemand wird, was er ist, nicht wenn er versucht, etwas zu werden, was er nicht ist“.
7. Gelassenheit ist mehr als ein Wort [20]
In unserem Sprachschatz und -gebrauch finden wir immer wieder Begriffe, die wir selbstverständlich benutzen und auch zu wissen glauben, was sie bedeuten. Gehen wir der Sache auf den Grund, zeigt sich freilich die Mehrdeutigkeit, Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit des Ausdrucks, und es gelingt uns oft nicht, die tatsächlich gemeinte Bedeutung zu erklären. Solche Sprachsituationen werden dann meist mit Sprichwörtern belegt und damit wieder eingeordnet in ein Verständniskonzept, das ein Zusammenleben der Menschen ermöglicht: „Wenn Wissen und Gelassenheit sich ergänzen, bilden sich Harmonie und Ordnung“. Der chinesische Philosoph und Dichter Tschuang-tse, der in der Zeit um 365 bis 290 v. Chr. lebte, hat die Eigenschaft und Lebenshaltung „Gelassenheit“ eingeordnet in die daoistischen und konfuzianischen Denkformen, die sich in den philosophischen Begriffen de = Tugend, dao = Weg, qi = Lebenskraft, shen = Geist, xin = Herz, Qi = Energie und Jing = Körperlichkeit darstellen. Der Hinweis soll deutlich machen, dass die Eigenschaft, die auch als Gleichmut, stoische Ruhe, Ausgeglichenheit, Beherrschtheit, Bedächtigkeit, Gefasstheit, Langmut, Selbstkontrolle, Zurückhaltung … bezeichnet werden kann, zu aller Zeit und in allen Kulturen und Sprachen der Welt vorfindbar ist. Es sind nicht selten Ausdrücke und Gesten, die „Gelassenheit“ und das Gegenteil davon, die „Getriebenheit“ und die „Besessenheit“, darstellen: Geöffnete Hand versus Faust, Schneiden versus Hacken, offener Gesichtsausdruck versus Zähne zeigen, aktives, selbstbestimmtes Wollen versus Gewolltwerden. Nicht ohne Grund hat die Einstellung „Gelassenheit“ Konjunktur und erhält Aufmerksamkeit in den Zeiten der Ungewissheiten, Gefährdungen und Katastrophen, denen die Menschheit in der sich immer interdependenter, entgrenzender, kapitalistischer und neoliberaler entwickelnden Welt ausgesetzt sieht. Sie verbindet sich nicht ohne Grund mit dem Nachdenken darüber, wie wir Menschen auf die lokalen und globalen Anforderungen und menschengemachten Veränderungsprozesse reagieren können; und zwar nicht in der (mittelhochdeutschen) wortgeschichtlichen Bedeutung von gelazen = gottergeben, sondern in der aktiven Auseinandersetzung, dass Geist sich evolutionär entwickelt und menschliche Existenz im Diesseits einzumessen und zu begreifen ist: Der Mensch „ist grundlegend nicht ein weltfremdes, sondern ein welthaftes Wesen“ [21].
8. Vom Homo oeconomicus zum Homo empathicus [22]
Zivilisationsgeschichten sind Erzählungen, Berichte, Analysen und Betrachtungen über die Entwicklung der menschlichen Zivilisation. Sie beruhen auf je spezifischen Weltbildern und philosophischen, politischen und gesellschaftlichen Vorstellungen „wie wir geworden sind, was wir sind“, und zwar meist bezogen auf die jeweilige eigene kulturelle Identität und Herkunft. Betrachten wir die Zivilisations-(Welt)Geschichte, so können wir erkennen, wie dies Norbert Elias in seiner „Theorie der Zivilisation“ ausgedrückt hat, dass „der Prozess der Zivilisation eine Veränderung des menschlichen Verhaltens und Empfindens in einer ganz bestimmten Richtung ist“ [23]. Dabei werden in den Zivilisationsgeschichten überwiegend die kulturellen und technologischen Leistungen und Veränderungen hervorgehoben, während die ursprünglich auf dem eu zên, der Fähigkeit zum guten Leben beruhenden Menschform, wie dies der griechische Philosoph Aristoteles postuliert hat, verloren gegangen ist oder in der Euphorie des „Wirtschaftsmenschen“ einfach vergessen wurde. Immerhin wird der Begriff „Zivilisation“ in der Wirklichkeit einer immer interdependenter und sich entgrenzender entwickelnden Welt, der Globalisierung, heute verstanden, den menschlichen und kulturellen Werten einen zentralen Platz im Rahmen der technischen und ökonomischen Entwicklung einzuräumen und Menschen aufzufordern, von der Zukunft her zu leben [24].
9. Philosophie als Kultur der Nachdenklichkeit [25]
Begriffe sind (An-)Zeichen für Ver- und Zumutungen. Mit ihnen kann kommuniziert, konfrontiert und konzentriert gedacht, kontestiert und konvergiert werden; es lassen sich mit ihnen Konzepte darstellen, Konzessionen machten und Korrelationen herstellen, kurz: Begriffe sind Schilder und Denkmuster. Nach diesem, zugegebenermaßen eigenwilligen Zugang zum Denken, sind wir bei der Frage angelangt, was Denken ist. Antworten darauf gibt es, seit Menschen denken! Nehmen wir aus diesem Prozess der Menschwerdung nur die aristotelische Feststellung heraus, dass der anthrôpos, der Mensch, ein vernunft- und sprachbegabtes Lebewesen und in der Lage ist, nach eu zên, einem guten Leben zu streben; und zwar, indem er denkt und sein Handeln an seinem Denken zu orientieren vermag. Damit sind wir schon mitten drin im Nachdenken darüber, welche Kompetenzen und welches Bewusstsein notwendig ist, um zu denken – oder denken zu lassen [26]. Wenn im Sinne Foucaults Philosophie Lebenskunst ist [27], sind alle Menschen aufgerufen, zu philosophieren. Weil Philosophieren aber nicht Fantasieren heißt, sondern die Fähigkeit ausmacht, selbst zu denken, realistisch, utopisch und kritisch, ist die Frage schon bedeutsam, wie Philosophen, gewissermaßen als gelernte und professionelle Denker, denken. Nicht, um ihr Denken nachzuahmen, sondern aus ihrem Philosophieren das eigene Leben zu verstehen, Gedanken und Vorstellungen zu ordnen, über eigene Überzeugungen nachzudenken, eigene Handlungen und Verhaltensweisen in Beziehung setzen zu können zu denen anderer, naher und ferner Menschen.
10. Leben lernen [28]
Die Diskussion über die Frage der Fragen, wie es gelingen könne, dass die Menschheit menschlich leben und überleben kann, ohne Schaden an der Humanität zu erleiden, wird in der Menschheitsgeschichte immer wieder gestellt. Es sind metaphysische, materielle, spirituelle, religiöse, atheistische, wissenschaftliche und populäre Argumente, die sich in den mächtigen und übermächtigen Auffassungen vom Menschsein spiegeln, kontrastieren, sich ergänzen oder aufheben. Die Grundfrage fokussiert in dem kontroversen, historischen und aktuellen Diskurs, ob es ein richtiges Leben im falschen geben könne. „Wir Menschen wollen alles wissen – und schauen doch nicht richtig hin!“ [29]. Damit Einsicht, Ursachenforschung und das Vertrauen in die Bewältigung der vielfältigen Menschheitskrisen – Bevölkerungswachstum, Klimawandel, Ressourcenverschwendung, zunehmende Armut auf der einen und ungebremster Reichtum auf der anderen Seite… – erfolgen können, bedarf es mehr als die Abwesenheit von Misstrauen; vielmehr bedarf es eines Sozialverhaltens, das auf den Grundlagen des Logos wie des Pathos (Aristoteles) beruht [30].
Erforderlich sind Zukunfts-, Friedens- und Konfliktforschungen [31] und das Bewusstsein,dass „die Anerkennungder allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“ darstellt, wie dies in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte [32] postuliert wird, in der Verfassung der UNESCO (1945) mit der Prämisse zum Ausdruck kommt, „da Kriege im Geiste der Menschen entstehen, (müssen) auch die Bollwerke des Friedens im Geiste der Menschen errichtet werden“, und in der Deklaration von Yamoussouro, des UNESCO-Kongresses „Frieden im Denken der Menschen“ (1989) der Friedenswille und die Friedensbereitschaft der Menschen als Ganzheit definiert wird: Ehrfurcht vor dem Leben haben, als das kostbarste Gut der Menschheit betrachten, mehr als das Ende bewaffneter Auseinandersetzung darin sehen, eine ganz menschliche Verhaltensweise erkennen, die tiefverwurzelte Bindung an die Prinzipien der Freiheit, der Gerechtigkeit, der Gleichheit und der Solidarität zwischen den Menschen verstehen und eine harmonische Partnerschaft von Mensch und Umwelt stiften [33].
Eine wesentliche Erkenntnis findet sich dabei darin, dass der Mensch ein wandelbares, wandelfähiges und wandelbedürftiges Lebewesen ist [34] und Veränderungsverläufe natürliche und für eine humane Weiterentwicklung notwendige Prozesse sind [35]. So mögen die zehn Punkte einige Hinweise auf den lebendigen, veränderungsbestimmten und optimistischen Diskurs vermitteln, der sich intellektuell vollzieht und hoffentlich auch konkrete Auswirkungen auf den lokalen und globalen gesellschaftlichen Alltag der Menschen hat.
Fussnoten
[1] H. Weidemann, in: Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Kröner-Verlag, Stuttgart 2005, S. 341ff
[2] Die Zukunft hat schon begonnen. Entmenschlichung – Gefahr unserer Zivilisation. Goldmann, Bern/Stuttgart 1952, 316 S. (vgl. dazu auch: „Über die Möglichkeiten von morgen – Experten der Zukunft, Feature, Deutschlandfunk, 31. 5. 2013)
[3] Hans A. Pestalozzi, Nach uns die Zukunft. Von der positiven Subversion, Büchergilde Gutenberg, Frankfurt/M. 1982, S. 215
[4] Dennis L. Meadows, Die Grenzen des Wachstums, 1972; Mihailo Mesarović / Eduard Pestel, Menschheit am Wendepunkt, 1974
[5] WCED / Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, Unsere Gemeinsame Zukunft, 1987
[6] Deutsche UNESCO-Kommission, Unsere kreative Vielfalt, Bonn 1997, S. 18
[7] siehe dazu die Rezensionen in www.socialnet.de/rezensionen
[8] Wolfgang Gründinger. Wir Zukunftssucher. Wie Deutschland enkeltauglich wird, 2012, Rezension
[9] Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter, 2011, Rezension
[10] Martin Hartmann, Die Praxis des Vertrauens, 2011, Rezension
[11] Manfred Lütz, Bluff! Die Fälschung der Welt, 2012, Rezension
[12] Lawrence LeShan, Das Rätsel der Erkenntnis. Wie Realität entsteht, 2012, Rezension
[13] Heinz von Foerster / Bernhard Pörksen, Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker, 2011, Rezension
[14] Unsere Zukunft. Ein Gespräch über die Welt nach Fukushima, 2011, Rezension
[15] Wie wollen wir leben? Was unser Land in Zukunft zusammenhält, 2011, Rezension
[16] Hermann Mückler / Gerald Faschingeder, Hrsg., Tradition und Traditionalismus. Zur Instrumentalisierung eines Identitätskonzepts, 2012, Rezension
[17] Nora Nebel, Ideen von der Zeit. Zeitvorstellungen aus kulturphilosophischer Perspektive, 2011, Rezension
[18] A. F. Koch, in: Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 110
[19] Jürgen Stock, Das wäre doch gedacht! Wie wir uns aus der Falle eingefahrener Denkmuster befreien, 2011, Rezension
[20] Thomas Strässle, Gelassenheit. Über eine andere Haltung zur Welt, 2013, Rezension
[21] Wolfgang Welsch, Homo mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne, 2012, Rezension
[22] Jeremy Rifkin, Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein, 2010, Rezension
[23] Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation, Frankfurt/M. 1976
[24] Claus Otto Scharmer, Theorie U. Von der Zukunft her führen, 2009, Rezension
[25] Herbert Schnädelbach, Was Philosophen wissen und was man von ihnen lernen kann, 2012, Rezension
[26] Karl Heinz Bohrer, Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken, 2011, Rezension
[27] Wolfgang Kersting, Macht und Moral. Studien zur praktischen Philosophie der Neuzeit, 2010, Rezension
[28] Luc Ferry, Leben lernen. Eine philosophische Gebrauchsanweisung, 2009, Rezension
[29] J. A. Goedhart, Über-Leben… Wissenschaftliches Sachbuch, 2006, Rezension
[30] Markus Weingardt, Hrsg., Vertrauen in der Krise. Zugänge verschiedener Wissenschaften, 2011, Rezension
[31] Peter Schlotter / Simone Wisotzki, Hrsg., Friedens- und Konfliktforschung, 2011, Rezension
[32] Deutsche UNESCO-Kommission, Menschenrechte. Internationale Dokumente, Bonn 1981, S. 48
[33] Deutsche UNESCO-Kommission, Internationale Verständigung, Menschenrechte und Frieden als Bildungsziel. Drei Texte der UNESCO, Bonn 1992, S. 39ff
[34] Matthias Horx, Das Buch des Wandels. Wie Menschen Zukunft gestalten, 2009, Rezension
[35] Daniel N. Stern / Nadia Bruschweiler-Stern / Karlen Lyons-Ruth / Alexander C. Morgan / Jeremy P. Nahum / Louis P. Sander, Veränderungsprozesse. Ein integratives Paradigma, 2012, Rezension
Verfasst von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Schnurer, Jos, 2013.
Die Zukunft hat begonnen [online]. socialnet Materialien.
Bonn: socialnet, 14.06.2013 [Zugriff am: 18.05.2025].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/materialien/151.php
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