Wie Deutschland zu den Fremden kam
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
veröffentlicht am 20.12.2013
Ethnozentrismen und Nationalismen sind Formen des Zusammen- oder Auseinanderlebens der Menschen, die scheinbar urwüchsig sind und in den Genen zu liegen scheinen. Im philosophischen, anthropologischen Denken der Menschen jedoch ist der anthrôpos ein Lebewesen, das Kraft seines Verstandes nicht nur fähig, sondern auch angewiesen auf Gemeinschaft ist. In der griechischen Philosophie ist die koinônia eine Gemeinschaft von Menschen, die eine Teilhabe an den individuellen und kollektiven Bedürfnissen ermöglicht und so einen Staat schafft. Aristoteles bestimmt den Menschen als zôon politikon, der danach strebt, ein gutes, glücklich-gelingendes Leben zu führen; und zwar als Gemeinschaftswesen (vgl. dazu: Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, 640 S.).
Die Münchner Komiker Karl Valentin und Liesl Karlstadt haben im Sketch „Die Fremden“ die Fragwürdigkeit des egoistischen Ausgrenzens des Andersartigen vom Eigenen auf die Schippe genommen: Fremd ist der Fremde nur in der Fremde. Die Auseinandersetzungen um das Fremde und die Fremden, immer vom Standpunkt des gewissen Eigenen aus, haben sich meist gewaltsam und aggressiv vollzogen. Es ging und geht um die Abwehr und Angst vor „Überfremdung“, wie dies aktuell durch das Buch von Thilo Sarrazin geschieht: „Deutschland schafft sich ab“, und erkennbar macht, dass „Rassismus mitten unter uns ist“. Es macht aber auch deutlich, dass sich im gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskurs Widerstand gegen ethnozentrierte und fremdenfeindliche Tendenzen regt (Gert Krell, Schafft Deutschland sich ab? Ein Essay über Demografie, Intelligenz, Armut und Einwanderung, 2013, Rezension.
Mit den folgenden Annotationen sollen (durchaus subjektiv) ausgewählte, neuere wissenschaftliche Veröffentlichungen zu Fremdheit, Fremdenfeindlichkeit und Interkulturalität vorgestellt werden, die überwiegend im Rezensionsdienst www.socialnet.de vom Autor besprochen wurden. Der Orientierungs- und Standpunkt wird dabei eindeutig und unrelativiert benannt mit der Überzeugung, wie sie in der Präambel der von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 proklamierten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als globale Ethik grundgelegt wird: „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“. Dabei geht es vordringlich um den wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs, wie Rassismen, Fremdenfeindlichkeit und Ethnozentrismen in die Welt gekommen sind, wie sie sich entwickelt haben und bis heute wirken (vgl. dazu: Christoph Burgmer, Hg., Rassismus in der Diskussion, Elefanten Press Berlin, 176 S., sowie: Karin Priester, Rassismus. Eine Sozialgeschichte, 2003, Rezension).
Das Fremde in uns
Wiewohl wir intuitiv wissen oder zumindest ahnen, dass das fremde Andere ihre Wurzeln in uns selbst hat, fühlen wir uns nicht selten wohl, wenn wir erleben, dass unser Bild vom Fremden nicht nur das Andere spiegelt, sondern auch das Böse, xenophobische zeigt. Das Merkwürdige dabei ist, dass die „Furcht vor dem Fremden“ in uns oft genug Ausgrenzung des Anderen provoziert und gleichzeitig eigene Höherwertigkeitsvorstellungen schafft. Diese „praktizierte Intoleranz“ kommt meist unabsichtlich und ungewollt daher, etwa indem wir im alltäglichen Umgang mit herablassenden Bemerkungen, Gesten und Reaktionen auf das äußere Erscheinungsbild des Anderen reagieren oder ihn lächerlich zu machen versuchen. Das zeigt sich sowohl im Umgang mit Einzelnen und Gruppen in der eigenen (Mehrheits-)Gesellschaft gegenüber Minderheiten, als auch transnational und interkulturell: „Von Westen nach Osten nehmen die jeweils westlicheren Nationen für sich in Anspruch, zivilisierter und kultivierter als ihre östlichen Nachbarn zu sein. Von Norden nach Süden nehmen für die Nachbarn Zuschreibungen wie temperamentvoll, unordentlich und unzuverlässig zu“. Auf diese beinahe „natürlichen“ Stereotypen haben 1947 Menschen mit dem Bewusstsein dafür, dass Toleranz eine Schutzfunktion vor totalitären Diktaturen, vor Fremdenhass und Rassismus ist, die Interdisziplinäre Studiengesellschaft (ISG) gegründet. Ziel der ISG ist es, einen übergreifenden Wissenstransfer und einen interdisziplinären Dialog zwischen der akademischen Welt und der praktischen Lebenswelt zu ermöglichen und in der öffentlichen Meinungsbildung das Engagement für Toleranz, Pluralität und Humanität zu fördern. Der erste Vorsitzende der ISG, Dieter Korczak, hat die Ergebnisse der Tagung, die sich 2008 damit auseinander setzte, dass „durch Migration, materieller Orientierung, zunehmender Armut, Fundamentalismus und Globalisierungseffekte ( ) die Toleranz im menschlichen Miteinander verloren zu gehen (droht)“, in dem Tagungsband „Das Fremde, das Eigene und die Toleranz“ heraus gegeben. In insgesamt 11 Beiträgen wollen Autorinnen und Autoren „Augen, Ohren, Herzen und den Verstand für die Bereicherungen ( ) öffnen, die Kulturen und Gesellschaften durch die Begegnung mit anderen gesellschaftlichen Paradigmen und Konstruktionen erfahren können“. Im Tagungsband artikulieren die Autorinnen und Autoren ihre jeweiligen Kompetenzen, Erfahrungen und Visionen, wie in einer Einwanderungsgesellschaft ein gleichberechtigtes, friedliches und zukunftsorientiertes Zusammenleben aller Menschen ermöglich wird. Es sind überwiegend keine neuen Erkenntnisse; jedoch in dem Zusammenhang von professionellem Engagement und institutioneller Professionalität einer seit Jahrzehnten tätigen interdisziplinären Organisation, der ISG, diskutiert, erhalten die Beiträge eine neue Qualität im Nachdenken über eine lokale, regionale und globale Integrationspolitik im globalen Dorf (Dieter Korczak, Hrsg., Das Fremde, das Eigene und die Toleranz, 2009, Rezension).
Collage Fremde, zusammengestellt von Dr. Jos Schnurer
„Fremd ist der Fremde nur in der Fremde“
Der aus der Türkei stammende, derzeit als Gastwissenschaftler bei der Migration Research Group am Hamburgischen WeltWirtschaftsInstitut (HWWI) tätige Yaşir Aydin hat 2009 an der Universität Hamburg promoviert, indem er das „Spannungsverhältnis zwischen Xenophilie in der Theorie und Xenophobie in der gesellschaftlichen Realität“ analysiert. Den aktuellen soziologischen und sozialtheoretischen Auseinandersetzungen über die „Fremdheit“ nähert sich der Autor dadurch, dass er die vorfindbaren Ausdrucksformen, die sich in der (europäischen) Fremdheitsdebatte darstellen, in einer vergleichenden Literaturrecherche insbesondere in Deutschland und England analysiert. Dabei fällt bereits bei der semantischen Betrachtung auf, dass es im Englischen mehrere Begriffe gibt, die sich theoretisch und in der praktischen Ausführung in unterschiedlicher Weise darstellen: foreigner, stranger, alien, während im Deutschen „Fremde / Fremdheit“ überwiegend das „Andere“ signalisiert: „Der Fremde ist immer der Andere, etwas anderes als das Ich, umgekehrt ist aber der Andere nicht notwendigerweise der Fremde“. Die hermeneutische Analyse der aktuellen Fremdheitsdebatte in Europa, exemplarisch dargestellt an den deutschen und englischen gesellschaftlichen Diskursen und den wissenschaftlichen Forschungen, bewegt sich bei der Bestimmung von Fremdheit, im Spannungsverhältnis zwischen Inklusion und Exklusion. Bei der Frage nach dem Nutzwert und der Bedeutung der vorgefundenen und dargestellten Theorien und praktischen Auswirkungen in unserer Zeit in der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden (Einen) Welt bedarf es der Besinnung darauf, dass „die Weisen, Faktoren und Adressaten von Fremdheitszuschreibungen einem immerwährenden Wandel unterworfen sind, während die grundlegenden Strukturen konstant bleiben“; nämlich die, dass die Auseinandersetzung mit dem Fremden, dem Anderen notwendig ist, um die eigene Identität nicht als Abgrenzung zum Anderen, sondern als Ergänzung und Bereicherung durch das Andere zu formen: „Erst durch das Bild des Fremden kann ein Bild des Selbst erlangt werden“ (Yaşir Aydin, Topoi des Fremden. Zur Analyse und Kritik einer sozialen Konstruktion, 2009, Rezension).
Homogenität versus Diversität
Was ist ein Europäer? Ein im geschichtlichen und kulturellen Werden geformter Angehöriger eines Kontinents? Ein doppel-(janus)gesichtiger Mensch, der vom historischen Prozess des Guten und Bösen geprägt ist (Enrique Barón Crespo, 1992)? Oder einfach nur ein auf einem geografischen (kulturellen und politischen) Konstrukt eines Kontinents geborenes, nationales Individuum? Oder eine eurozentrierte Identifikationsfigur? Gibt es so etwas wie eine „europäische Lebensart“? Gibt es vorfindbare und identifizierbare Kriterien, die einer „differenzierten Abgrenzung des Kulturraums Europa gegenüber anderen Kulturen dienen bzw. eine kritische Hinterfragung des globalen Anspruchs der europäischen Kultur leisten“? (vgl. dazu: Michael Gehler / Silio Vietta, Hrsg., Europa – Europäisierung – Europäistik: Neue wissenschaftliche Ansätze, Methoden und Inhalte, Böhlau Verlag, Wien – Köln – Weimar 2010, 543 S., in: socialnet Rezensionen unter www.socialnet.de/rezensionen/9268.php). Im Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 8. Juni 1978 heißt es zur Begründung, das Thema Europa im schulischen Unterricht zu behandeln, u. a.: „Europa ist nicht nur ein geographischer Begriff. Das Europa-Bild ist wesentlich geprägt durch das gemeinsame historische Erbe und eine gemeinsame kulturelle Tradition“. Und im Entwurf der bisher nicht verwirklichten „Verfassung für Europa“ (2003) wird in der Präambel zum Ausdruck gebracht, „dass der Kontinent Europa ein Träger der Zivilisation ist und dass seine Bewohner, die ihn seit den Anfängen der Menschheit in immer neuen Schüben besiedelt haben, im Laufe der Jahrhunderte die Werte entwickelt haben, die den Humanismus begründen: Gleichheit der Menschen, Freiheit, Geltung der Vernunft“. Ist die Frage nach der europäischen Identität obsolet oder aktuell? Weil etwa in der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden (Einen?) Welt Nationen und Kontinente bedeutungslos werden? Es kann davon ausgegangen werden, dass die Klassifizierungs- und Wertestufung, die Welt in Welten einzuteilen – in die Erste Welt: Europa, die Zweite Welt: Amerika, und die Dritte Welt: Entwicklungsländer, sogar in die Vierte… – überholt sein dürfte. Die Frage nach der inter- und transkulturellen Bedeutung in einer globalisierten Welt wird ja überwiegend nicht mit der Utopie eines Weltbürgertums beantwortet; vielmehr mit der „lebensformbezogenen Werteethik“ und der „universalistischen Ethik der kommunikativen Konsensbildung“ (Karl-Otto Apel, 1992). Im internationalen Diskurs über Welt- und Menschenbilder wird deshalb von den „Vielfalten“ und einer „Vorstellung von einer Pluralität national oder nationalstaatlich verfasster Gesellschaften“ ausgegangen (vgl. dazu: Philip Thelen, Vergleich in der Weltgesellschaft. Zur Funktion nationaler Grenzen für die Globalisierung von Wissenschaft und Politik, transcript Verlag, Bielefeld 2011, in: www.socialnet.de/rezensionen/12557.php). In einem mehr als zehnjährigen Forschungsprojekt wurden, beginnend im Wintersemester 1999/2000, an den Universitäten Köln und Magdeburg, kurz darauf mit Eltern im Raum Köln/Bonn und Magdeburg und Jugendlichen in Nordrhein-Westfalen, kulturvergleichende Untersuchungen zur „Homogenisierung der Bevölkerung hinsichtlich ihrer personalen und sozialen Identität“ durchgeführt. In einer weiteren Phase des Forschungsprojektes wurde nach den Identitätsvorstellungen und dem -bewusstsein von Jugendlichen und Erwachsenen in Deutschland (West/Ost) und in den Ländern Dänemark, Niederlande, Belgien, Luxemburg, Frankreich, Schweiz, Österreich, Tschechische Republik und Polen gefragt. Die Ergebnisse der Untersuchung wurden in den Jahren 2005 bis 2010 in 35 Forschungsberichten vorgelegt. Sie sind online unter www.schmidt-denter.de verfügbar bzw. können vom Autor angefordert werden. Das Buch „Die Deutschen und ihre Migranten“ stellt die wichtigsten Befunde des Forschungsprojektes vor (Ulrich Schmidt-Denter, Die Deutschen und ihre Migranten, Ergebnisse der europäischen Identitätsstudie, 2011, Rezension).
Migration als internationales Phänomen
Dass Wanderungsbewegungen in der Menschheitsgeschichte keine neuartigen und überraschenden Entwicklungen sind, wird im Zusammenhang mit dem Diskurs um Migrationspolitik und -forschung immer wieder betont. Die Motive, warum Menschen ihre Heimat verlassen, um in der Fremde zu leben, sind so vielfältig wie ihre Lebensbedingungen, Hoffnungen, Bedürfnisse und Wünsche. In der Migrationsforschung wird von Push- und Pull-Faktoren gesprochen, wenn nach den Ursachen gefragt wird, warum Menschen (aus-) wandern. Im deutschen Migrationsdiskurs verdeutlichen sich das Auf und Ab der gesellschaftlichen Befindlichkeiten, Fremdenfeindlichkeit und Empathie, öffentliche Meinungsbildung und Demagogie, Für und Wider einer sich öffnenden oder geschlossenen Gesellschaft. Die Auseinandersetzungen über die jahrzehntelang geführte Frage, ob Deutschland ein Einwanderungsland sei oder keins, belastet bis heute die gesellschaftliche Diskussion, und die rassistisch, nationalistisch und fremdenfeindlich daher kommenden Parolen – „Das Boot ist voll“ und „Deutschland den Deutschen“ – sind noch nicht überwunden; auch nicht angesichts der lokalen und globalen Entwicklung, und schon gar nicht bei Berücksichtigung der demografischen und wohlstandsorientierten Aspekte. Immerhin: Insbesondere in der Migrationsforschung werden seit ein paar Jahren Schneisen in die allzu tumben Meinungsauswüchse geschlagen. Migration ist grenzüberschreitend, sowohl in individueller und gesellschaftlicher Hinsicht, als auch räumlich betrachtet. Zwar stellen statistisch und weltweit betrachtet, die „Binnenflüchtlinge“ die größte Zahl bei den Wanderungsbewegungen, doch das europäische Augenmerk ist überwiegend auf die Einwanderer gerichtet, die aus außereuropäischen Ländern in den „gelobten und verheißungsversprechenden Kontinent“ gelangen. Dieses Europa, insbesondere in der institutionalisierten Form der Europäischen Union (EU), unternimmt, genau wie die einzelnen europäischen Länder, eine Reihe von Anstrengungen, um die Migrationsbewegungen zu steuern, gesetzlich zu regeln und zu begrenzen. So gelten mittlerweile, neben den nationalen, die europäischen Grenzen, wie sie im Schengener Abkommen von 1985 und den Folgevereinbarungen geregelt werden. Die „Europäisierung der Migrationspolitik“ hat auch auf die deutsche Einwanderungspolitik erhebliche Auswirkungen (Jens Wassenhoven, Europäisierung deutscher Migrationspolitik. Policy-Wandel durch Advocacy-Koalitionen, 2011, Rezension).
Differenzen im Dialog
Menschen sind differente Lebewesen; das ist eine redundante Aussage, die sich erst in der Bedeutungsdifferenzierung erschließt. Der Rückgriff auf die Bedeutung der Differenz lässt sich, human, in zwei Postulaten verankern: Die eine entnehmen wir der von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 in Artikel 1 proklamierten Feststellung: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen“. Die andere wurde von der Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 1995 mit der Forderung versehen, im lokalen und globalen Zusammenleben der Menschen „eine positive Einstellung zu anderen Menschen und zu ihren unterschiedlichen Lebensweisen, ihrer kreativen Vielfalt“ zu entwickeln. Das bedeutet, dass die Forderung nach Gleichheit und Gerechtigkeit in der Welt die Anerkennung der Unterschiedlichkeit der Menschen beinhaltet; freilich im Sinne einer globalen Ethik, die Höherwertigkeitsvorstellungen wie Unterdrückungen und Ungerechtigkeiten ausschließt. Das interdisziplinäre Netzwerk an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, in dem sich vorwiegend junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zusammen gefunden haben, um interdisziplinär über Fragen der lokalen und globalen gesellschaftlichen Orientierungen nachzudenken und zu forschen, legt ihre Forschungsergebnisse in der im transcript Verlag erscheinenden Reihe „Kultur & Konflikt“ vor. Während im ersten Band 2009 „Spielregeln der Gewalt“ thematisiert und im zweiten kulturelle Konflikte bearbeitet wurden (vgl. dazu: Wilhelm Berger / Brigitte Hipfl / Kirstin Mertlitsch / Viktoria Ratkovic, Hrsg., Kulturelle Dimensionen von Konflikten, 2010, in; www.socialnet.de/rezensionen/10333.php), geht es im dritten, soeben vorgelegtem Band um kulturwissenschaftliche und geschlechterkritische Perspektiven auf Inklusion und Exklusion: „Differenzen leben“ (Utta Isop / Viktorija Ratkovič, Differenzen leben Kulturwissenschaftliche und geschlechterkritische Perspektiven auf Inklusion und Exklusion, 2011, Rezension).
Ängste und Ideologien beim Wort nehmen
Katastrophenberichte, wie „Überflutungen“ und rassistische Fingerzeige, wie „Das Boot ist voll“, „Deutschland schafft sich ab“, u.a., wollen suggerieren, dass die vermeintliche ethnische und kulturelle Einheit einer Gesellschaft durch den Zuzug von andersdenkenden, anders aussehenden und sich vom Eigenen unterscheidenden Menschen in die scheinbar homogene kulturell und religiös gewordene Gemeinschaft gefährdet oder sogar aufgelöst werde; ja sogar, dass die angestammte Identität untergehen könne. Es sind die von Ideologen, Selbstwissern und Horroristen in die Welt gesetzten apokalpyptischen Szenarien, die die Angst vor Überfremdung schüren. Dabei ist das langgehegte Märchen von der in die Gene gelegten, und die Bedeutung der Wandel-, Veränderungsfähigkeit und Vielfältigkeit menschlichen Denkens und Handelns dürfte im Bewusstsein der Menschheit Eingang gefunden haben. Der kanadisch-britische Autor und Journalist Doug Saunders gilt als ein kritischer und souveräner Denker und Aufdecker von scheinbaren, auf der Straße liegenden und an den Stamm- und Biertischen ausgebreiteten „Wahrheiten“. Seine Fähigkeit, konkrete Lebenssituationen und gesellschaftliche Zustände treffsicher aufzuzeigen und zu analysieren, hat er bereits in seinem 2011in deutscher Sprache erschienenem Buch „Arrival City“ deutlich gemacht, in dem er gelingende und misslingende Integrationserfahrungen diskutiert. Im 2012 im kanadischen Toronto erschienenem Originaltitel „The Myth of a Muslim Tide – Do Immigrants Threaten the West?“ wird die Zielrichtung des Buches deutlicher als in der deutschen Übersetzung „Mythos Überfremdung“. Freilich wird im deutschen Untertitel „Eine Abrechnung“ darauf verwiesen, dass die Argumente des Autors sich gegen die gängigen Auffassungen und Behauptungen richten und gewissermaßen einen Contrapunkt zu den Vorurteilen und Kassandrarufen setzen wollen.Die Absicht, den menschenfeindlichen, rassistischen und scheinbar wohlfeilen Warnungen vor „Überfremdung“ Argumente entgegen zu setzen, die zum Nachdenken und zur Revision von festgefügten oder eingebrachten Meinungen und Parolen führen sollen, charakterisiert Doug Saunders mit den Worten Shakespeares aus „König Heinrich IV.“: „Gerücht ist eine Pfeife, / Die Argwohn, Eifersucht, Vermutung bläst…“ (Doug Saunders, Mythos Überfremdung. Eine Abrechnung, 2012, Rezension).
Rassismus ist allgegenwärtig – überall!
In der Reihe der Wissenschaftssendung 3sat-Scobel wurde am 17. 1. 2013 die Frage nach der Entstehung und Entwicklung der Menschheit gestellt: „Paläoanthropologie: Wer in uns in den Genen steckt“. Dabei kamen die Experten zu der eindeutigen Forderung: „Rasse ist abgeschafft“, weil diese Klassifizierung und gar Wertigkeitsstufung angesichts der Forschungsergebnisse überhaupt keinen Sinn mache. Doch wir müssen erkennen und erleben, dass die wissenschaftlichen Auffassungen über Rassismus zu den lokalen und globalen Wirklichkeiten noch nicht durchgedrungen sind. Deshalb ist es notwendig, in Bildung, Erziehung und in der gesellschaftlichen Aufklärung dabei mitzuwirken, dass sich die Fähigkeit und Kompetenz, inter- und transkulturell zu denken und zu handeln, durchsetzt. Die Professorin für englische Literaturwissenschaft und anglophone Literaturen an der Universität Bayreuth, Susan Arndt, ist als Ethnologin und Anthropologin bereits vielfach zur Sprache gekommen (Susan Arndt / Antje Hornscheidt, Hg., Afrika und die deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk, 2004, www.socialnet.de/rezensionen/1756.php; Susan Arndt / Nadja Ofuatey-Alaz, Hrsg., Wie Rassismus aus Wörtern sprich, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12199.php; Susan Arndt / Katrin Berndt, Hrsg., Kreatives Afrika. SchriftstellerInnen über Literatur, Theater und Gesellschaft, Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2005, 522 S.) und hat als „Weißseinsforscherin“ Aufmerksamkeit gefunden (Maureen Maisha Eggers / Grada Kilomba / Peggy Piesche / Susan Arndt, Hrsg., Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Unrast-Verlag, Münster 2005, 550 S.). Mit ihrer Sammlung über Rassismen – „Rassismus ist allgegenwärtig in Sprache, Politik, Alltag, Ökonomie, Werbung, Medien, Sport, Musik, Internet, Theater, Literatur, am Arbeitsplatz wie am Postschalter, in Bewerbungsverfahren wie in Gesetzestexten, in den klassischen Texten der Philosophie wie in der aktuellen Historiographie, in der Medienforschung wie im Naturschutz“ – will sie Informationen geben, zum Nachdenken anregen, zum Diskutieren und nicht zuletzt zum Lernen, weil Lernen Verhaltensänderung ist. Sie möchte keinen „Ratgeber“ abliefern, sondern Aufmerksamkeit anstiften dafür, dass Rassismen, Fremden- und Menschenfeindlichkeit nicht vom Himmel fallen und weder in die Wiege gelegt, noch in die Gene gepflanzt sind, sondern entstehen, von Menschen an Menschen. Dabei plädiert sie dafür, dass individuelle und gesellschaftliche Verantwortungsübernahme in Freiheit lokal und global die beste Lebenshaltung ist (Susan Arndt, Die 101 wichtigsten Fragen – Rassismus, 2012, Rezension).
Globalisierung wird gemacht
Die Analysen, Prognosen und Warnungen, dass die sich in der immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden Welt ausbreitende Markt-Macht, der „entfesselte Weltmarkt“, mittlerweile nicht mehr nur die traditionellen Verlierer in den ärmeren Ländern der Erde bedrohe, sondern in zunehmendem Maße auch die bisherigen Gewinner und Wohlhabenden, nehmen zu. Die immer wieder nur zögerlichen, auf nationalen Egoismen und globaler Finanz- und Marktmacht fußenden Beschlüsse bei den Wirtschaft-, Finanz- und Klimaverhandlungen lassen keinen globalen Bewusstseinswandel erkennen. Aber Globalisierung fällt nicht vom Himmel, sondern sie wird gemacht – von multinationalen Konzernen, von Produzenten und Händlern, von Politikern und Regierungen, von Arbeitern, Wissenschaftlern und Gewerkschaften, von internationalen Organisationen und NGOs, von jedem von uns also mit mehr oder weniger Macht. In der vom Verlag Edition Le Monde diplomatique herausgegebenen Faktensammlungen, wie etwa dem Globalisierungsatlas und den ergänzenden Informationen wird dargelegt, was Globalisierung ist und wer sie macht; etwa der US-Konzern „General Electric“ als Global Player, der „Kapitalismus zum Shareholder-Value-Prinzip (macht), das nur die Rendite der Anteilseigner im Blick hat“, die Supermarktkette „Wal-Mart“, der als größter Arbeitgeber der Welt vor macht, wie eine globalisierte Wirtschaft funktioniert: „Die Gewerkschaften bekämpfen, die Produktion verlagern, die Lieferanten unter Druck setzen – und mit Hilfe von Kommunikationsexperten für eine weiße Weste sorgen“; der Möbelmulti „Ikea“, der zwar mit einem „globalen Verhaltenskodex“ sein (Verkaufs-)Image aufpoliert, aber die Hersteller und Subunternehmer seiner Erzeugnisse ausbeutet. Dabei haben die Vereinten Nationen 1999 den „Global Compact“ veröffentlicht, mit dem das globale Verantwortungsbewusstsein der Unternehmen geschärft werden soll. Es sind zehn Prinzipien , die zu einem sozial- und umweltverträglichen globalen Wirtschaften verpflichten: Einhaltung der Menschenrechte, der Arbeitsnormen, des Umweltschutzes und der Korruptionsbekämpfung. Rund 3000 Unternehmen haben mittlerweile den Globalen Pakt unterzeichnet. In einer ersten Bestandsaufnahme 2007 jedoch stellen die Vereinten Nationen fest, dass nur ein verschwindend kleiner Teil der Unterzeichner die Versprechen in der Realität einhält (Nicola Liebert, Barbara Bauer, Die Globalisierungsmacher. Konzerne, Netzwerker, 2007, Rezension).
Wir haben es weit gebracht mit der Ungleichheit
Diese zynische wie vieldeutige Metapher ist als Anklage zu verstehen. Es geht um die Bestandsaufnahme der gesellschaftlichen Ungleichheitsbedingungen in Deutschland: Wir sind ungleich – und das ist recht so? Der an der Technischen Universität in Braunschweig lehrende Philosoph und politische Denker Bernhard Taureck widmet sich in seinen Arbeiten insbesondere der Bedeutung der Metaphern, wie sie im Laufe der Menschheitsgeschichte in den philosophischen Diskursen entstanden sind, ihre Bedeutung verändert haben und auf das gesellschaftliche Denken und Handeln der Menschen wirken, wie z. B.: „Die Praxis, Gleichheit zu sagen und Ungleichheit zu tun“. Der Volkssouverän, wie er in den Verfassungen und Gesetzen von Ländern, die als frei, gleich und demokratisch firmieren, voran gestellt wird, ist in der Wirklichkeit der neoliberalen, kapitalistischen Verfasstheit ein Popanz. Aus dem „Wir sind das Volk“ ist bald eine Kathederdemokratie geworden. Bernhard Taureck ist in seinem Denken konsequent: Er tritt für ein bedingungsloses Grundeinkommen ein; und er leitet seine Forderungen zum einen ab aus dem historischen, philosophischen Diskurs, wobei er auf eine Reihe von Metaphern aufmerksam macht – etwa der aristotelischen Wahrheit: „Stets sind es die Schwächeren, die nach Gleichem und Gerechtem suchen, während sich die Stärkeren nicht darum kümmern“ - zum anderen aus einer an der Wirklichkeit fest gemachten gesellschaftlichen Analyse Hier und Heute, als Beispiele der aktuellen Herrschaftsbegründung. Seine Reflexionen über die Zusammenhänge von Freiheit, Gleichheit, ihre vermeintliche Parallelität und gleichzeitig Unvereinbarkeit, beginnt der Autor mit der Suche danach, was gesellschaftliche Gleichheit allgemein bedeutet und wozu sie gebraucht wird. Haben wir gleiche Vorstellungen von der Gleichheit, und wie haben sich die ungleichen Ansichten und Praktiken darüber entwickelt? Wie sich die Wirklichkeiten in den Gleichheits-, Freiheits- und Gerechtigkeitsdebatten lokal und global darstellen, darauf findet Taureck Antworten bei den historischen und aktuellen Metaphern und ihren Wirklichkeitsbezügen. Es sind zwei Analysen, die er dabei identifiziert: „Die eine ist die absichtliche Täuschung des Staatsvolkes. Die andere ist die einer aufgeklärten Entwicklung“ (Bernhard H. F. Taureck, Gleichheit für Fortgeschrittene. Jenseits von "Gier" und "Neid", 2010, Rezension).
Ökologische, ökonomische und soziale Entwicklungen dürfen nicht voneinander abgespalten und gegeneinander aufgewogen werden
Die Geschichte der menschlichen Entwicklung zeigt, dass Idealvorstellungen und Realitäten oft auseinander klaffen, sich gegenseitig behindern und schließlich die ökonomischen, machtpolitischen und kapitalistischen „Mehrwert“- Vorstellungen obsiegen. Die lokale und globale, ökonomisch dominierte Entwicklung, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden, ist ein Beispiel dafür, dass bei dem, was die Welt bewegt, nicht zuvorderst die Gerechtigkeits- und Solidaritätsidee Pate steht, sondern die egoistische Haben-Mentalität (Erich Fromm, 1976). Denn der (westlich-kapitalistisch dominierte und ideologisch-aufgeladene) Begriff „Entwicklung“ wird spätestens seit dem Zeitpunkt in Frage gestellt, seit die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung 1987 mit dem Brundtland-Bericht dazu aufrief, tragfähige Entwicklung (sustainable development) der Ideologie des „Durchfluss-Wachstums“ (throuput growth) entgegen zu setzen, vorbereitet und gestützt durch die Prognosen, wie sie vom Club of Rome mit den Berichten von den „Grenzen des Wachstums“ (1972), den Warnungen, dass die „Menschheit (sich) am Wendepunkt“ ihrer Geschichte befinde (1974), den Prognosen, dass sich „Jenseits der Grenzen des Wachstums“ (1988) eine bessere Welt befände, dass es gälte, wie der Bericht der Nord-Süd-Kommission fordert, die gemeinsamen Interessen der Industrie- und Entwicklungsländer zu formulieren (1980), dass es, wie die Mitglieder der Südkommission feststellen, eine „Eigenverantwortung der Dritten Welt für dauerhafte Entwicklung“ gebe (1991), dass, wie in der Agenda 21 (1992) klar gestellt wird, eine „globale Partnerschaft“ erforderlich ist, um die lokalen und globalen Ungleichheiten in der (Einen) Welt zu beseitigen, und dass es gemeinsamer Anstrengungen bedürfe, den Planeten Erde vor der Überhitzung zu bewahren, wie das New Yorker Worldwatch Institute in ihrem Bericht „Zur Lage der Welt 2009“ anmahnt. Die Herausforderung, nachhaltige Bildung bei allen schulischen und außerschulischen Bildungs- und Erziehungsinstanzen zu vermitteln, bedarf der institutionellen und curricularen Aufmerksamkeit. Der „ökologische Fußabdruck“, den das Autorenteam für den Sammelband „Die soziale Dimension von Nachhaltigkeit - Beziehungsgeflecht zwischen Nachhaltigkeit und Benachteiligtenförderung“ als Titelbild gewählt haben, ist ein Anzeiger dafür, dass wir Menschen, wo wir auch leben, welche Tätigkeit wir auch ausüben und in welchem Lebenszustand wir uns auch befinden, aufmerksam werden müssen, dass die Forderung nach Lebens- und Chancengerechtigkeit einer differenzierten, interdisziplinären Analyse bedarf (Andreas Fischer , Hrsg., Die soziale Dimension von Nachhaltigkeit. Beziehungsgeflecht zwischen Nachhaltigkeit und Benachteiligtenförderung, 2010, Rezension).
Teilen ist Mehr wert
Wie kann es gelingen, den notwendigen Perspektivenwechsel im Denken und Handeln der Menschen in der (Einen?) Welt zu implementieren und bewusst zu machen, was die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 1995 eindringlich formuliert hat: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“? Analysen, Prognosen und Vorschläge dazu gibt es spätestens seit 40 Jahren, als nämlich 1972 im ersten Bericht an den Club of Rome die „Grenzen des Wachstums“ aufgezeigt wurden, mit der Feststellung von 1987, dass wirtschaftliches Handeln nicht mehr unter dem Motto „business as usual“ möglich sei und „sustainable development“, tragfähige Entwicklung, anstelle des „throughput growth“, Durchflusswachstum, gesetzt werden müsse (Brundtland-Bericht). Alle Jahre wieder, so lässt sich aufzeigen, verdichten sich die Mahnungen an die Menschheit, dass „mehr wird, wenn wir teilen“, wie dies die US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin und Nobelpreisträgerin von 2009, Elinor Ostrom, nach dem gesellschaftlichen Wert der Allmende stellt (Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11224.php). Der anthrôpos, der Mensch als vernunftbegabtes Lebewesen, ist als zôon politikon auf menschliche Gemeinschaft angewiesen und strebt ein gutes Leben an (Aristoteles). Diese Grundkonstante menschlichen Daseins auf der Erde hat zwangsläufig und existentiell zur Folge, dass sich der Mensch bemühen muss, sein Ich- mit einem Wir-Bewusstsein zu verbinden und damit sein Weltendasein zu ermöglichen. Es gilt, der Immer-Mehr-Mentalität ein Allmende-Bewusstsein entgegen zu setzen. „Ich bin common!“, das könnte ein Slogan sein, der bei möglichst vielen Menschen auf der Erde zu einem Umdenken im individuellen und gesellschaftlichen Leben führt, hin zur Erkenntnis, dass Gemeingüter nicht nur lebensnotwendige und existenzsichernde Sachen sind, sondern auch humane Werte einer Menschlichkeit, die beruht auf den Fundamenten einer globalen Verantwortungsethik, globalen Empathie und globalen Solidarität (Silke Helfrich / Heinrich-Böll-Stiftung, Hrsg., Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat, 2012, Rezension).
Was lässt den Menschen gelingen?
Die uralte, immer wieder interessante und notwendige neue Frage nach dem individuellen und gesellschaftlichen Menschsein lässt sich immer nur beantworten, wenn es gelingt, das Sosein des Menschen und seine Frage nach dem „Wer bin ich?“ einzubetten in die jeweilige Wirklichkeit seines Lebens. Es gibt Analysen, die davon ausgehen, dass insbesondere in der sich immer interdependenter, entgrenzender und globalisierter entwickelnden (Einen?) Welt die Frage nach dem Sinn des Lebens dringlicher wird denn je. Denn es sind die gesellschaftlich gemachten, den jeweiligen Strukturen unterliegenden Bedingungen und Voraussetzungen, die das Leben der Menschen zu einer Funktion der Gesellschaft machen, oder die Formen von Selbstbestimmung und Freiheit ermöglichen. Das sind Fragen, die sich in erster Linie an Psychologen, Psychoanalytiker, Soziologen, Philosophen und Gesellschaftswissenschaftler richten. Von ihren Antworten kann es abhängen, wie Individuen in gesellschaftlichen Zusammenhängen leben und ihr Leben betrachten können. Aristoteles sieht im anthrôpos, dem Menschen, ein zôon politikon, ein politisches Lebewesen, das sprach- und vernunftbegabt ist, sich in Gemeinschaft mit anderen Menschen entfalten kann und nach einem guten, glücklich-gelingendem Leben strebt. Dies setzt voraus, dass der Mensch in der Lage ist, sich zu verändern, also den Wandel als Entgrenzung zu verstehen. Damit sind wir bei einem Begriff, der sich insbesondere im Diskurs um Globalisierung und Öffnung der Welt etabliert hat: Individuelle Begrenztheit, nationale Grenzen und fremdbestimmte Eingrenzungen weichen einer Grenzüberschreitung, die als Erweiterung des eigenen Horizonts und von machtvollen Abhängigkeiten verstanden und, soll die „Ent-Grenzung“ gelingen, als Aufklärung und Freiheit erlebt wird (Dirk Lange, Hrsg., Entgrenzungen. Gesellschaftlicher Wandel und politische Bildung, 2011, Rezension). Der Tübinger Psychoanalytiker Rainer Funk gilt als Experte für die Psychoanalyse, wie sie von Erich Fromm entwickelt und praktiziert wurde. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter Fromms versteht er sich nicht nur als „Nachlassverwalter“ und Herausgeber der Erich Fromm-Gesamtausgabe (12 Bände, 1999); er ist auch überzeugt, dass, wie er in seinem Buch „Der entgrenzte Mensch“ erklärt, dass „ein Leben ohne Grenzen nicht frei, sondern abhängig macht“. Beim vierten Fachforum für Soziale Arbeit an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Stuttgart im Dezember 201, hat er über „Ent-Grenzung des Menschen“ referiert. Die verführerischen Erwartungshaltungen, die ein „entgrenzter Mensch“ erlebt und als Selbstbestimmung und Freiheit erhofft, unterliegen einer Reihe von Fallstricken und Illusionen, die es aufzudecken gilt, etwa im Bereich der (scheinbaren) digitalen Unabhängigkeit ( Bernhard Pörksen / Hanne Detel, Der entfesselte Skandal. Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter, 2012, Rezension), in der Wirtschaft und Arbeitswelt (Rolf-Dieter Hepp, Hrsg., Prekarisierung und Flexibilisierung = Precarity and flexibilisation, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13527.php; vgl. auch: Christophe Dejours, Hrsg., Klinische Studien zur Psychopathologie der Arbeit, 2012, Rezension), wie auch im alltäglichen, individuellen Leben. Mit der Aufforderung „Use it or loose it“ verweist der Autor darauf, dass Entgrenzungskompetenzen weder in die Wiege gelegt werden, noch einem zu-fallen; vielmehr komme es darauf an, das „menschliche Vermögen“ zu entdecken und es nicht mit dem „gemachten Vermögen“ zu verwechseln. “Wirklich wertschätzen und lieben kann man sich und andere nur, wenn man die Schattenseiten, das Schwierige und Kritische bei sich und bei anderen nicht ausblendet, sondern auch zu akzeptieren, wertzuschätzen… imstande ist“ (Rainer Funk, Entgrenzung des Menschen, 2012, Rezension)
Kapitalismus als Religion – Religion als Markt?
Hat das Streben nach kapitalistischem Wohlstand, nach einem materialistischem Immer-Mehr-Verlangen etwas mit Spiritualität, mit der Suche nach und dem Aufgehobensein in Religiosität zu tun? Das ist eine uralte, immer wieder neu gestellte, kontrovers diskutierte und nicht beantwortete Frage; es sei denn, sie wird individuell, kollektiv, kulturell oder ideologisch postuliert; damit aber ist sie zwar diskutier-, aber eben nicht allgemeingültig beantwortbar. Es geht hier also nicht um den durchaus lebhaften und legitimen Diskurs darüber, ob es einen Gott oder keinen gibt, eigentlich auch nicht um die berechtigte Frage, ob der Mensch „nicht nur das politische Wesen von Aristoteles, nicht nur nach Hobbes des Menschen Wolf, sondern vielmehr von Anbeginn an ein soziales und religiöses Wesen“ ist und damit die interessante und intellektuelle Fragestellung, ob Reden über Religion eine existentiell bedeutsame Herausforderungen für uns Menschen darstellt, oder (nur) ein ideologischer Ballast ist; vielmehr wird hier die durchaus herausfordernde und existentielle Frage danach gestellt, wie sich ein humanes, ganzheitliches und nachhaltiges Bewusstsein in der sich immer interdependenter, entgrenzender (und ungerechter?) entwickelnden (Einen?) Welt bilden kann. Es ist die Frage nach den Menschenrechten, nach Freiheit, Gerechtigkeit und Individualität (siehe auch: Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12425.php). Wir sind angelangt bei der Frage der Fragen: „An wen glauben wir eigentlich oder hängen unser Herz?“ Ist es unsere Gier nach dem scheinbaren „guten Leben“, das nicht mehr und nicht weniger ist als nach dem ökonomischen „MehrWert“ und sich orientiert an der Alternative „Gott oder Geld“ und „Gott und Geld“? Oder ist es die Kraft der Widerständigkeit? Die Evangelischen Hochschulperspektiven, ein Forschungsverbund der Evangelischen Hochschulen Darmstadt, Freiburg/Br., Ludwigsburg und Nürnberg, bringen seit 2005 jeweils einen Jahresband heraus, in dem sie sich „über die Grenzen der eigenen Disziplin hinaus … verständigen und Antworten auf drängende Fragen … finden (müssen), in unserer Zeit der Finanz-, Banken- und Schuldenkrise in der nachhaltiges Handeln nicht nur in Politik gefordert ist, sondern auch Gegenstand von Lehre und Forschung an unseren Hochschulen sein muss“ (Richard Edtbauer / Alexa Köhler-Offierski, Hrsg., Welt- Geld – Gott, 2012, Rezension).
Umkehr
Der seit Jahrzehnten geforderte Perspektivenwechsel im Denken und Handeln der Menschen hat durch die sich immer rasanter globalisierende und entgrenzende Welt eine neue Brisanz erhalten. Der Münchner Soziologe Ulrich Beck ruft auf zur Entgrenzung sozialer Gleichheit, sozialer Ungleichheit und zur Beendigung der Entgegensetzung von Natur und Gesellschaft. Denn der Skandal der Ungleichheit in der Welt zeigt sich in der Form eines Champagnerglases: „Auf die 900 Millionen Menschen, privilegiert durch die Gnade der westlichen Geburt, entfallen 86 Prozent des Weltkonsums, sie verbrauchen 58 Prozent der Weltenergie und verfügen über 79 Prozent des Welteinkommens… Auf das ärmste Fünftel, 1,2 Milliarden der Weltbevölkerung, entfallen 1,3 Prozent des globalen Konsums, 4 Prozent der Energie…“. Beck filtert aus den Analysen und Reflexionen darüber eine Erklärung: „Das Leistungsprinzip legitimiert nationale Ungleichheit, das Nationalstaatsprinzip legitimiert globale Ungleichheit“; weil ein nationalstaatliches Denken und Handeln zwischen politisch relevanter und irrelevanter Ungleichheit unterscheidet. Und weil bisher keine Instanz vorhanden ist, die gewissermaßen als globalstaatliche Zuständigkeit Lösungen dieser Ungleichheiten fordert. Das bedeutet nicht nur, dass in der Welt rund 200 Inseln nationalstaatlicher Ungleichheiten vorhanden sind, sondern auch, dass „die Ungleichheiten zwischen Ländern, Regionen und Staaten als politisch unvergleichbar gelten“. Der „nationale Blick“, als ethno-, euro- und egozentrierte Betrachtung und Einstellung, befördert, verfestigt und begrenzt „die Wahrnehmung sozialer Ungleichheit im Alltag, Politik und Wissenschaft“, weil damit territoriale, politische, ökonomische, gesellschaftliche und kulturelle Grenzen in eins gesetzt werden. Es bedürfe eines „kosmopolitischen Blicks“, um den Anforderungen in einer sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden Welt gerecht werden zu können (Ulrich Beck, Die Neuvermessung der Ungleichheit unter den Menschen. Soziologische Aufklärung im 21. Jahrhundert, 2008, Rezension).
Prekäre Normalität
Deutschland ist ein Einwanderungsland! Diese gesellschaftliche Übereinstimmung hat viele Auseinandersetzungen erforderlich gemacht – und es gibt darüber immer noch keinen Konsens.
Im gesellschaftlichen Diskurs, ob, zu wie viel Teilen, wie verträglich, nötig... unsere Gemeinschaft zu einer multikulturellen Gesellschaft gemacht werden könne, solle oder nicht, in wie weit eine "Leitkultur" notwendig sei, um die kulturelle Identität in unserem Land zu erhalten, wird oft übersehen, dass das Streitobjekt sich längst etabliert hat: Deutschland ist längst zu einer Einwanderer-Gesellschaft geworden. Die Bedingungen und Voraussetzungen dafür sind freilich weiterhin strittig. Die Bevölkerungsgruppen mit anderen ethnischen Zugehörigkeiten und Herkünften geraten dabei unter einen unangemessenen Anpassungsdruck, der in der wissenschaftlichen Diskussion als "Ethnisierung" oder "Deutschmachung" (Georg Hansen) bezeichnet wird. Die sich daraus ergebenden Konflikte werden in der von "Höherwertigkeitsvorstellungen" der Mehrheitsbevölkerung geprägten Auseinandersetzung meist nur indirekt und mit dem Blick auf angebliche Defizite der Minderheitsgruppen und mit dem Vorwurf einer unwilligen Anpassungsbereitschaft thematisiert. Zu einem „gemeinsamen Haus der Ethnien“ in der Gesellschaft ist noch ein weiter Weg (Tarek Badawia / Franz Hamburger / Merle Hummrich (Hrsg.), Wider die Ethnisierung einer Generation. Beiträge zur qualitativen Migrationsforschung, 2003, Rezension).
Flucht als Allegorie; oder: Die Geschichte vom unbekannten Einwanderer
"Jedermann hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen". Dieser humane Grundsatz, wie er in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 in Artikel 14 der Menschheit auferlegt wurde, findet sich in den meisten Grundrechtskatalogen der freiheitlich-demokratischen Staaten; auch wenn einige Länder ihn in ihren Verfassungen relativiert haben. Vor allem der Begriff der "politischen Verfolgung", der dem Menschenrecht auf Asyl zugrunde liegt, wird in den einzelnen Interpretationen unterschiedlich ausgelegt. Ist die Flucht vor einer Lebenssituation, die es den Menschen nicht mehr ermöglicht, menschlich zu existieren, ein Asylgrund oder nicht? Daran scheiden sich die Geister. Dabei steht in der Menschenrechtsdeklaration in Art. 25 auch der Grundsatz: "Jedermann hat das Recht auf einen für die Gesundheit und Wohlergehen von sich und seiner Familie angemessenen Lebensstandard, einschließlich ausreichender Ernährung, Bekleidung, Wohnung, ärztlicher Versorgung und notwendiger sozialer Leistungen…". Einer, der sich mit den Realitäten in der ungerechten Welt nicht gibt und sich einmischt in die Auseinandersetzungen, wie die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Ungleichgewichtigkeiten auf der Erde verändert werden können, ist der 1944 in Marokko geborene, seit 1971 in Paris lebende und in Französisch schreibende Tahar Ben Jelloun. In zahlreichen Büchern, Zeitschriften- und Radiobeiträgen fragt er danach, wie in seinen Gesprächen mit seinen Kindern: "Papa, was ist ein Fremder?" (2000), "Papa, was ist der Islam?" (2002) und "Papa, woher kommt der Hass? (2005. Romanhaft bearbeitet er den massenhaften Exodus von Menschen aus West- und Nordafrika nach Europa. Im französischen Original lautet der Titel: Partir. Ob dabei die hoffnungsvolle Bedeutung "Rückkehr" enthalten ist, oder eher die von "Nimmer-Wiederkehr", das mag der Leser selbst entscheiden (Tahar Ben Jelloun: Verlassen, 2006, Rezension).
Das Verschwimmen der Grenzen zwischen Territorialität, Souveränität und Staatsbürgerschaft
Das Menschenrecht, als Bürger eines Staates anerkannt zu werden, wird in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (10.12.1948) in Artikel 15 eindeutig formuliert: „Jedermann hat Anspruch auf eine Staatsangehörigkeit“. Und in Absatz 2 wird festgelegt: „Niemandem darf seine Staatsangehörigkeit willkürlich entzogen noch ihm das Recht versagt werden, seine Staatsangehörigkeit zu wechseln“. Das Recht stützt sich auf die grundlegende Auffassung von der Würde des Menschen, wie es in Art. 1 heißt: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“ und wird subsumiert durch Art. 6: „Jedermann hat das Recht, überall als rechtsfähig anerkannt zu werden“. Wie das Staatsbürgerschaftsrecht erworben werden kann, regelt jedoch die Menschenrechtsdeklaration nicht. Es ist dem jeweiligen souveränen Staat überlassen, wie dieses Recht vergeben wird. Grundsätzlich werden nach den Rechtsauffassungen zwei Formen unterschieden: Nach dem „Abstammungsprinzip“ wird die Staatsbürgerschaft durch das „Recht des Blutes“ (ius sanguinis) erworben, das sich von der Staatsangehörigkeit der Eltern ableitet; oder nach dem „Recht des Bodens“ (ius soli), das durch den Geburtsort bzw. durch das Geburtsland entsteht. Weil in der sich immer interdependenter und territorial entgrenzender Welt die Grenzen der Nationalstaaten verschwimmen und durchlässiger werden, Menschen also von einem Land und einem Kontinent zum anderen sich bewegen und ihren Lebens- und Wohnort verändern, also immigrieren, bedürfen die traditionellen Rechtsauffassungen über den Erwerb einer Staatsangehörigkeit einer Revision. Immerhin wird in dem (bisher leider nicht verabschiedeten) Entwurf einer „Verfassung für Europa“ in Artikel 8 festgelegt, dass die Bürgerinnen und Bürger eine „Unionsbürgerschaft“ besitzen. Im „melting pot“ USA hat die Frage nach der Staatsbürgerschaft eine besondere Bedeutung deshalb, weil die Vereinigten Staaten immer schon ein Einwanderungsland waren und sind. Wollen wir also in dem zusammen wachsenden Europa und im Einwanderungsland Deutschland neue Perspektiven der Staatsangehörigkeit diskutieren, philosophisch und realpolitisch, lohnt es sich, die Diskussion dort aufzunehmen. Die aus der Türkei stammende, an der Yale University in New Haven (Connecticut) lehrende Politikwissenschaftlerin Seyla Benhabib hat sich in ihrem 2004 erschienenem Buch „The Right of Others. Aliens, Residents and Citizens“ mit der Frage auseinander gesetzt, wie die bereits in den antiken Philosophien in unterschiedlicher Weise definierte Staatsbürgerschaft heute verstanden und angewandt werden sollte. Die Autorin stellt gleich zu Beginn ein Defizit im politischen und philosophischen Diskurs über die bisher in der Neuzeit zögerliche, wissenschaftliche Auseinandersetzung über die Frage, was ein Staatsbürger eigentlich sei, fest. Themen in den nationalen und internationalen Diskussionen, wie „Staatsangehörigkeit, Migration, Asyl und Flüchtlingsstatus“ gewinnen ja insbesondere deshalb an Gewicht, weil die Migration mittlerweile im „Jahrhundert der Flüchtlinge“ ein nicht mehr zu vernachlässigendes Phänomen im Zusammenleben der Menschen darstellt. Seyla Benhabib nimmt dabei die verschiedenen Ansätze und Vorstellungen von nationaler und internationaler Zugehörigkeit von Menschen zu einer politischen Gemeinschaft auf und entwickelt sie weiter zu einer „normativen Theorie der Zugehörigkeitsgerechtigkeit“ (just membership). Indem sie sich auf Kants Formel vom „Weltbürgerrecht“ bezieht, entwickelt die Autorin die bisherigen neokantianischen Überlegungen, etwa auch John Rawls Prämissen zur Immigration als des „nicht-idealen“, weiter, indem sie zu den Forderungen nach „globaler Verteilungsgerechtigkeit“ die „Zugehörigkeitsgerechtigkeit“ dazu denkt (Seyla Benhabib, Die Rechte der Anderen. Ausländer, Migranten, Bürger, 2008, Rezension).
Minderheiten - Mehrheiten
Vom Bielefelder Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer stammt die Einschätzung: „Es gibt kein Problem der Minderheit an sich in der Gesellschaft, sondern es ist auch stets ein Problem der Mehrheit in Bezug auf die Minderheit“. Diese kritische Position nimmt der Direktor des Europa-Instituts für Soziale Arbeit an der Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik Berlin, der Soziologe Jürgen Nowak (geb. 1942), auf, indem er die beiden Begriffe „Leitkultur“ und „Parallelgesellschaft“ danach befragt, wie sie im (partei)politischen Diskurs entstanden sind und auf welchen Denk-Hintergrund sie beruhen. Er ordnet die Begrifflichkeiten und die daraus entstandenen Pro- und Contra-Argumente in der gesellschaftlichen Diskussion einem „Mythos“, einer „verschwommenen, irrationalen Vorstellung“ zu. Der Begriff der „Parallelgesellschaft“ ist eine populistische Bezeichnung für Leute, die Angst davor haben, nicht „unter sich“ bleiben zu können und dazu das Bollwerk einer „Leitkultur“ aufbauen. Es geht um Mehrheiten und Minderheiten n einer Gesellschaft und der ethnozentrierten Auffassung, dass sich die Minderheiten gefälligst den Gewohnheiten, Normen und Werten anzupassen hätten, die von einer Mehrheitsgesellschaft bestimmt seien. Die Schriftstellerin und Redakteurin Heide Oestreich hat diese Einstellung wie folgt charakterisiert: „Man möchte keine Migranten in seinem Wohnhaus und kritisiert dann, dass sie sich alle in einem Viertel ’abschotten’. Man gibt ihnen kein Wahlrecht und wundert sich dann, dass die Demokratie ihnen so wenig bedeutet. Man möchte keine Kopftücher an Schulen und findet dann, dass die Mädchen und Frauen sich selbst ausschließen“ – eine wahrhaft schizophrene Haltung! „Leitkultur“ in der Verwendung im deutschen Diskurs erhebt den Anspruch, in der Gesellschaft die Lebensgewohnheiten, Werte und Normen „an die Spitze“ zu stellen, also den Menschen anderskultureller Herkunft und Identität aufzuzwingen. Wie aber sollen, unter den Bedingungen im „globalen Dorf“ Gemeinwesen entstehen, die der Autor „interdependenzkulturelle“ Gesellschaften nennt? Als Perspektive sieht er „Empowerment“, also die aktive Teilnahme aller an den gesellschaftlichen Veränderungsprozessen Beteiligten. Dazu aber bedarf es des Perspektivenwechsels bei den vielfältigen Konzepten und Auffassungen von Kulturalismus hin zur Multiethnizität und einer Interdependenzkultur (Jürgen Nowak, Leitkultur und Parallel-Gesellschaft. Argumente wider einen deutschen Mythos; 2006, Rezension).
Kolonialismus = Fremdherrschaft und Höherwertigkeitsideologie
In dem von Ernst Gerhard Jacob 1938 herausgegebenen Reclam-Bändchen, "Die deutschen Kolonien", wurde mit dem damaligen, großmachtsüchtigen, nationalistischen und rassistischen Duktus darauf hingewiesen, "das deutsche Volk gehört zu den ältesten und erfolgreichsten Kolonialvölkern der Welt. Ohne die Deutschen wäre die Erde zu einem sehr großen Teil überhaupt nicht kolonisiert und kultiviert". Die Wurzeln des deutschen Kolonialgedankens lägen dabei sowohl auf geistig-moralischem (kulturellem), auf völkisch-staatlichem (politischem), als auch auf wirtschaftlich-materiellem (ökonomischem) Gebiet. Diese Ansprüche und Begründungen lassen sich im reinsten Sinn als kolonialistisch bezeichnen. Zwar hat es Kolonisierung in der Geschichte der Menschheit, als Eroberung, Besetzung und Wanderung immer gegeben; doch der europäische Kolonialismus, beginnend im 15. Jahrhundert und faktisch endend mit der Zeit der Dekolonisierung des 19. / 20. Jahrhunderts hat als Expansions- und imperiale Machtausübung in der Geschichtsschreibung der Menschheit eine besondere Bedeutung. Der Freiburger Historiker Wolfgang Reinhard hat das erstmals 1996 im Stuttgarter Alfred Kröner Verlag herausgegebene Buch 2008 in der Reihe Kröners Taschenbuchausgabe Band 475 als überarbeitete und erweiterte Ausgabe vorgelegt. Damit berücksichtigt er nicht nur die neueren Forschungsergebnisse bei der Frage, wie der europäische Kolonialismus die Entwicklung und Werdung der Menschheitsgeschichte beeinflusst hat; er setzt sich auch damit auseinander, wie in der sich immer interdependenter entwickelnden, entgrenzenden (globalisierten) Welt der "historische Blick" als eurozentrisches und hegemoniales Faktum verändernd wirkt. So wird seine "kleine Geschichte des Kolonialismus" zu einer Aufforderung, gerade bei der historischen Einschätzung und Bewertung des europäischen Kolonialismus an der "Dekolonisation des Denkens" zu arbeiten, zuvorderst die Historiker! Seine Definition von Kolonialismus, als "die Kontrolle eines Volkes über ein fremdes, unter wirtschaftlicher, politischer und ideologischer Ausnutzung der Entwicklungsdifferenz zwischen beiden", ist bei einer Neubewertung des europäischen Kolonialismus hilfreich (Wolfgang Reinhard, Kleine Geschichte des Kolonialismus, 2008, Rezension).
Kritik an Kapitalismus und Neoliberalismus = Systemkritik
Es sind die Schlag- und Reizwörter – Globalisierung, Macht, Hegemonie – die insbesondere kapitalismuskritische Vertreter in den öffentlichen, lokalen und globalen Diskurs bringen und dazu auffordern, eine fundierte Analyse der ökonomischen Entwicklung in der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden Welt wissenschaftlich vorzunehmen und „die Grundstruktur der globalen politischen Ökonomie in den Blick zu nehmen“. Im Juni 2004 hat sich ein Kreis von Sozialwissenschaftlerinnen und –wissenschaftlern aus dem deutschsprachigen Raum (Deutschland, Schweiz, Österreich) zur „Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung (AkG)“ zusammen geschlossen, um über „gesellschaftskritische Theorieansätze, deren Reproduktion und Weiterentwicklung in Zeiten ihrer zunehmenden Marginalisierung an den Hochschulen“ zu diskutieren, mit gemeinsamen Forschungsprojekten Theorie- und Praxisperspektiven zu entwickeln und die wissenschaftliche Disziplin der kritischen Internationalen Politischen Ökonomie (IPÖ) in das Blickfeld für eine humanere Welt zu bringen. Die WissenschaftlerInnen der IPÖ verstehen sich nicht als eine geschlossene Schule; vielmehr sind ihre Analysezugänge von unterschiedlichen Sichtweisen und Lösungsansätzen bestimmt. Was sie eint, ist „die Kritik an dem herrschaftsförmigen Prozess der neoliberalen-imperialen Globalisierung“. Die Positionen und Forschungsansätze beanspruchen, „über die Untersuchung der gegenwärtigen Krise hinaus(zu)gehen und die gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Transformationen der letzten zwanzig bis dreißig Jahre sowie die Grundstruktur der globalen politischen Ökonomie in den Blick (zu) nehmen (Eva Hartmann / Caren Kunze / Ulrich Brand, Hrsg., Globalisierung, Macht und Hegemonie. Perspektiven einer kritischen Internationalen Politischen Oekonomie, 2009, Rezension).
Zivilgesellschaft – Signal oder Verwirrbegriff?
In der gesellschaftspolitischen Diskussion gibt es immer wieder Begriffe und Entwürfe, die für die einen das Heil, ja gar die Erlösung aus selbstverschuldetem Elend in der Welt, lokal und global, verheißen; die anderen winken ab und verweigern sich dem Diskurs, weil sie vermuten oder befürchten, dass der neue (Heils)Begriff nun für alles herhalten müsse und zur Anwendung komme, passe was wolle! So mutierte der Begriff „Nachhaltigkeit“, der sich aus dem Nachdenken darüber, dass die Entwicklung der Welt, will die Menschheit überleben, „tragfähig“ (sustainable development) sein müsse, zu einem Schlagwort, der in der öffentlichen Auseinandersetzung über die Nutzung und den Verbrauch der Ressourcen auf der Erde für Alles und jede Situation angewendet – und damit unbrauchbar wird für seriöse und objektive Analysen und Benennungen von Problemen. Ähnlich könnte es, wenn wir nicht aufpassen, einem anderen Begriff gehen, der von den einen „als Allheilmittel gegen die Verwerfungen in der sozialen Welt angesehen“ wird, während die anderen ihn beinahe schon als untauglich für die exakte Bezeichnung von gesellschaftlichen Entwicklungen bezeichnen: Zivilgesellschaft. Dabei ist der Begriff und das, was darunter verstanden werden will, so alt, wie Menschen über das politische und gesellschaftliche Zusammenleben nachdenken. Während die einen in der „Zivilgesellschaft“ ein radikales Reformkonzept sehen, um demokratisches Selbstregieren zu stärken und Übergriffe des Staates wie auch der Wirtschaft zu bändigen, erhoffen sich die anderen, dass sich die Bürger nicht länger auf den Sozialstaat verlassen, sondern ihre Angelegenheiten in eigener Verantwortung regeln. Unter civil society, also Zivil- oder Bürgergesellschaft, wird in der Regel ein gesellschaftlicher Raum, nämlich die plurale Gesamtheit der öffentlichen Assoziationen, Vereinigungen und Zusammenkünfte verstanden, die auf dem freiwilligen Zusammenhandeln der Bürger und Bürgerinnen beruhen. Vereine, Verbände und soziale Bewegungen sind dabei typische Organisationsformen. Bereits Aristoteles meint Zivilgesellschaft, wenn er von der politeia als der rechtlich-sozialen, ökonomischen und sittlichen Ordnung eines Gemeinwesens und vom Gemeinwohl (to koinê sympheron) spricht. Erst ab 1700 vollzieht sich durch John Locke (1632 – 1704), Charles Montesquieu (1689 - 1755) , Adam Ferguson (1723 – 1816), Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831)und Alexis Tocqueville (1805 – 1859) eine Änderung des Begriffs und der philosophischen und politischen Bedeutung. Zivilgesellschaft wird als deutliche Abgrenzung vom Staat verstanden, jedoch noch nicht klar von der entstehenden Marktwirtschaft. In der marxistischen Interpretation von Antonio Gramsci (1891 – 1937) und der pragmatischen Theorie John Dewey (1858 – 1937) erfährt Anfang des 20. Jahrhunderts der Begriff auch eine Abgrenzung zur Wirtschaft. Die Freiheits- und Unabhängigkeitsbewegungen in Osteuropa, nach dem Scheitern der Reformbewegungen in Ungarn, Polen und der Tschechoslowakei („Prager Frühling“) Anfang der 60er und 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts verstärkten die Idee der Zivilgesellschaft als eine Gemeinschaft von freien Bürgern und zogen endgültig die Grenze hin zum totalitären Staat. Schließlich führte die Parole „Wir sind das Volk“ hin zum Zusammenbruch des Ostblocks und zu einer (vorläufigen) Neuordnung der Welt. In der aktuellen, soziologischen und politischen Diskussion geht es überwiegend um die Frage, wie viel Staat nötig und wie viel Privatheit möglich ist; oder: Wie ist das Verhältnis von individueller Freiheit des Menschen und kollektiven Anforderungen? In der so genannten Kommunitarismusdebatte tritt der amerikanische Philosoph John Rawls (1921 – 2002) für die Gleichheit der Grundrechte und Grundpflichten und den Grundsatz ein, dass soziale Ungleichheiten, etwa unterschiedlicher Reichtum oder verschiedene Macht, nur dann gerecht sei, wenn sich aus ihnen Vorteile für alle ergeben, besonders für die Schwächsten in der Gesellschaft (Frank Adloff, Zivilgesellschaft. Theorie und politische Praxis, 2005, Rezension).
Der Diskurs um Moral und Ethik
Schwierigkeiten haben wir Menschen immer mit Sollens- und Wollensvorstellungen, bei denen im Hinterstübchen unserer Lebenserfahrung das Wissen sich eingenistet hat, dass es einerseits gut und notwendig ist, ein bestimmtes ethisches Verhalten an den Tag zu legen, andererseits die drängende, störende oder auch aufregende Erkenntnis wie ein lastendes Paket in der Ecke steht: Wollen ja, aber auch können? Das ist die Diskrepanz zwischen Ethik und Wirklichkeit, zwischen dem Haben und Sein, wie dies Erich Fromm zum Ausdruck gebracht hat. Von der Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein, sprechen in dem Zusammenhang Annita Kalpaka und Nora Räthzel (1990); dass es schwierig ist, tolerant zu sein, drückt K. Peter Fritzsche (2001) aus; und es sei auch schwierig, solidarisch zu sein, formuliert Jörg Schlömerkemper seinen Hinweis auf die Notwendigkeit, Solidarität als eine neue globale Herausforderung zu verstehen (1997). Dabei geht es um die uralte Menschheitsfrage: „Was soll ich tun?“, die Sokrates mit der Aufforderung zur moralischen Reflexion beantwortet hat; bei der Aristoteles in der Tugend die Lösung findet; und die schließlich Immanuel Kant mit den Schlüsselfragen „Was kann ich wissen?“, als metaphysische Aufforderung, „Was darf ich hoffen?“, als Glaubenssatz und „Was soll ich tun?“ uns als ethische Anforderung aufgibt. Die Frage nach der richtigen Moral entpuppt sich als Provokation in zweierlei Hinsicht: Zum einen gehen wir selbstverständlich davon aus, dass die richtige Moral nur ein friedliches, humanes Zusammenleben der Menschen ermöglicht; warum also die Frage stellen? Zum anderen aber wissen wir natürlich, dass die Auffassung, was eine „richtige Moral“ ist, vielfach unterschiedlich zum Ausdruck kommt, sowohl im eigenen Umfeld, wie in ethnischen und inter-ethnischen, globalen Zusammenhängen (Kurt Bayertz, Warum überhaupt moralisch sein? Verlag C.H.Beck, München 2004, 288 S.).
Der Fremde als interessengeleitete Erfindung
Besonders in den Zeiten, in denen Völker, Staaten und Kulturen sich immer interdependenter entwickeln, wird der Ruf und die Aufforderung an die Menschen drängender, Kompetenzen im lokalen, regionalen und globalen Umgang miteinander zu entwickeln, um zu einer „interkulturellen Kompetenz“ zu gelangen. „Ich schaue in den Spiegel und sehe das fremde Ich“, diese Metapher kann zweierlei ausdrücken: Die eine, dass die Suche nach der eigenen, individuellen und gesellschaftlichen Identität immer auch das Problem beinhaltet, das eigene Ich entwickelt und entfaltet sich vielfältig, nicht immer in vorher plan- und technisch abrufbaren Strukturen. „Ich weiß, wer ich bin“, ist nicht selten ein imaginäres (Schutz-)Schild, das Menschen vor sich her tragen. Das andere ist die Erfahrung, dass selten Antworten und Lösungsansätze von alltäglichen Problemen und Konflikten „eindeutig“ sind. Möglichkeiten eines professionellen, interkulturellen Handelns und das Erkennen von Grenzen der Belastbarkeit und Lösbarkeit, das ist der Spagat, den sich Professionelle im Umgang mit gesellschaftlichen Konfliktfeldern gegenüber sehen (Christian Büttner, Lernen im Spiegel des Fremden. Konzepte, Methoden und Erfahrungen zur Vermittlung interkultureller Kompetenz, 2005, Rezension).
Die Heterogenität des religiösen und politischen Islam
Im Widerstreit der Meinungen, Programme und Ideologien darüber, was Islam als Religion und Lebenshaltung für die Menschen bedeuten kann, bedarf es einer möglichst objektiven Analyse dessen Geschichte. Die Islamwissenschaftlerin an der Freien Universität Berlin, Gudrun Krämer, macht sich an den durchaus nicht unproblematischen Versuch, eine Geschichte des Islam zu schreiben. Dabei ist sie sich der Probleme bewusst, die von der Gefahr des „Orientalismus“ reichen, als den Versuchung, „alle Lebensregungen von Muslimen und alle Erscheinungen der von ihnen bewohnten Welt auf den Islam“ zu beziehen, sie mit den Lehren von Koran und Sunna gleichzusetzen und so zu einem einförmigen Bild des Islam zu kommen, bis zur Wiedergabe von in unseren Geschichtsbildern tradierten Stereotypen. Das Konzept der Autorin lässt sich erkennen in der Aussage: „Die frühen Muslime haben erobernd ihren Horizont geweitet, ich den meinen lesend, schreibend, zuhörend, diskutierend“ – und zwar sowohl in der theoretischen Reflexion der geschichtlichen Ereignisse, als auch im Sinne ihrer Wissenschaft, konkret beobachtend und teilnehmend, als Feldforschung. Als Anders- oder Nichtgläubige, die in der Gesellschaft die Mehrheit darstellen, sind wir herausgefordert, uns einerseits mit der Geschichte der islamischen Völker und Kulturen auseinander setzen, andererseits uns bewusst zu machen, dass ein notwendiger Dialog Kenntnisse und Empathie voraussetzen muss (Gudrun Krämer, Geschichte des Islam, C. H. Beck Verlag, München 2005, 336 S.).
Die vermeintlichen Gegensätze zwischen Eigenem und Fremdem
Das Kopftuch ist eine Kopfbedeckung, ein Wetterschutz, ein Modeaccessoire, ein Tuch… Trägt eine Bäuerin aus den oberbayerischen Landen ein Kopftuch, ist das praktisch für ihre Arbeit auf dem Feld oder im Stall; vielleicht sagen einige auch, es sei altmodisch und es wäre gar nicht notwendig, ein Kopftuch zu tragen. Zeigt ein Modegeschäft in einem Schaufenster Kleiderpuppen, die mit schicken und farbenfrohen Kopftüchern bekleidet sind, ist das nicht selten ein Hingucker für die Passanten und Kunden. Trägt aber eine muslimische Lehrerin in der Schule ein Kopftuch, schlagen die Wellen der Empörung hoch. Was will sie damit ausdrücken, so wird gefragt; etwa eine militante Haltung gegen das Herkömmliche? Oder vielleicht nur, um bestimmte Vorschriften, die ihre religiöse Überzeugung ihr aufgibt, einzuhalten? Die leidliche, aufgeregte und nicht selten von Höherwertigkeitsvorstellungen und Rassismen begleitete Diskussion um das Tragen des Kopftuchs in unserer Gesellschaft macht deutlich, dass ein Kopftuch, wenn es eine Muslima trägt, eine andere Bedeutungsdeutung erhält. Es wird konnotiert, dass ein Kopftuch eigentlich nicht in die üblichen Auffassungen über Kleidung in unserer Kultur passt, dass es etwas Fremdes und Ungehöriges sei. Hier haben wir den eigentlichen Dissens, der sich bei der Frage nach dem Tragen eines Kopftuchs in mehrere Einstellungsstränge gliedert: Da ist zum einen erst einmal die Auffassung, die sich im kulturellen Wandel als sozialer Marker entwickelt hat, insofern nämlich, dass kopftuchtragende Frauen rückständig seien, altmodisch und der eigenen, definierten Schicht nicht zugehörig wären, also Putzfrauen etwa; was zu gesellschaftlichen Ab- und Ausgrenzungstendenzen führt – sie gehören nicht zu uns! Diese erst einmal sozial definierten Einstellungen werden übertragen auf Frauen, die anderskultureller Herkunft sind, etwa Türkinnen mit muslimischem Glauben. Ein zweiter Strang bildet sich dadurch, wenn ein Kopftuch, das von einer Frau getragen wird, die von ihrem Aussehen, ihrer Kleidung und ihrem Verhalten das Fremde signalisiert, das „Andere“, Abzulehnende, Bedrohliche sei. Wird nun von solchen Frauen das Kopftuch gar noch getragen in einer selbstbewussten Haltung, wird sofort vermutet, dass diese Frau das Kopftuch deshalb trägt, weil sie nicht zu uns gehören will! Sogar, dass sie die kulturellen Werte und Normen der Mehrheitsgesellschaft ablehnt und möglicherweise bekämpft. Dadurch wandelt sich das Kopftuch in den Auffassungen der „Eingesessenen“ vom „primitiven“ Gegenstand hin zur Waffe (Sabine Berghahn / Petra Rostock, Hrsg., Der Stoff, aus dem Konflikte sind. Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz, 2009, Rezension).
Entwurzelung = Radikalisierung ?
Mord-, Selbstmord- und Bombenattentate, terroristische Aktivitäten und Krawalle, wie sie in den letzten Jahren überall in den westlichen Großstädten zu verzeichnen waren, wurden vielfach von jungen Muslimen begangen, die an diesen Orten geboren wurden und aufgewachsen sind – in London, Paris, den Niederlanden und anderswo in Europa. Fundamentalistisches und terroristisches Gedankengut islamischer Prägung – das ist hier wichtig zu betonen, weil es eben auch christlichen, hinduistischen ... Fundamentalismus gibt – entsteht mitten in einer vermeintlich religiös-christlich-homogenen Kultur; das ist die in der Öffentlichkeit mit Erstaunen und Unverständnis wahrgenommene Reaktion. Damit wird ein hegemonialer und hierarchisch motivierter Anspruch von Mehrheitsgesellschaften auf die „richtige Wahrheit“, den „richtigen Glauben“ und die „richtige Gesellschaftsordnung“ postuliert; und der Anspruch von Minderheiten in der jeweiligen Gesellschaft zumindest geringer wertig betrachtet. Zu Recht? Der Forschungsdirektor am Pariser Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) und Experte für Islamismus, Olivier Roy, geht dieser Frage nach und formuliert gleich zu Anfang seiner umfassenden Studie über sich verändernde Muster der Religiosität bei Muslimen eine aufsehenserregende These: „Der gegenwärtige islamische Fundamentalismus, der im Westen häufig als Reaktion einer massiv unter Beschuss geratenen traditionellen Kultur angesehen wird, ist in Wirklichkeit das deutlichste Zeichen der Entwurzelung und der Säkularisierung“. Diese Auffassung stützt er auf die Beobachtung, dass die Muslime, die in westlichen Mehrheitsgesellschaften leben, aber auch solche in islamischen Gemeinschaften und Staaten, durch westliche Formen der neoliberalen Modernisierung und Technisierung den in ihrer Religion traditionell bestehenden fundamentalen Zusammenhang von Religion und Kultur, von Religion und Politik, verlieren, zumindest vermissen. Die dabei entstehenden Lebensauffassungen und Ideologien stellen sich sowohl als säkularisierte, wie als fundamentalistische Auffassungen dar; nicht im Sinne einer „Reformation“, etwa eines liberaleren und offeneren religiösen Denkens. In seiner Analyse widerspricht Roy der gängigen Auffassungen in den europäischen Öffentlichkeiten, dass die Mehrheit der europäischen Muslime dem Muster eines „Kampfes der Kulturen“ anhängen würden. Vielmehr sieht der Autor in den Bestrebungen der Muslime in Europa den Wunsch, ihre (religiöse und kulturelle) Identität als Minderheiten in anderskulturellen Mehrheitsgesellschaften geschützt zu sehen: „Sie versuchen nicht, den Staat oder die öffentliche Meinung zu kontrollieren, sondern sind darauf aus, ihre Identität und ihren Raum anerkennen zu lassen, einen Raum, der nicht länger an ein Territorium gebunden ist“. Die Lösung des Problems besteht also darum, den erkennbaren Veränderungsprozess des Islam verstehend zu begleiten; was bedeutet, „dem Islam im Westen einen Platz einzuräumen als einer westlichen Religion unter anderen, nicht als Ausdruck einer ethnokulturellen Gemeinschaft“. Hier deutet Olivier Roy in der Tat die Aufforderung nach einem Perspektivenwechsel der „Westler“ an, hin zu einer wirklichen Integration und pluralistischen gesellschaftlichen Entwicklung (Olivier Roy, Der islamische Weg nach Westen. Globalisierung, Entwurzelung und Radikalisierung, Pantheon Verlag, München 2006, 368 S.).
"Die Guten, obwohl sie an das Gute glaubten, wussten bald nicht mehr, was das Gute ist",
mit dieser Parabel führt der Kölner Orientalist, Autor, Übersetzer und Chefredakteur der auf arabisch, persisch und englisch erscheinenden Kulturzeitschrift "Fikrun wa Fann", Stefan Weidner, in das schwierige Terrain ein, wie eine Auseinandersetzung mit dem Islam (welchen?) möglich ist, oder besser: sein könnte. Denn es ist ein "Versuch", den er dabei startet, kein Rezeptbuch und auch keine Offenbarung. Dabei geht es ihm nicht darum, den vielfältigen und vielschichtigen Meinungen und Informationen über den Islam weitere hinzuzufügen, sondern "eine Analyse des vorhandenen Meinungsspektrums vorzulegen". Weidner will mit seinem Handbuch eine "hermeneutische Wende" im Diskurs über und mit dem Islam herbei führen. Ein starkes Anliegen und ein notwendiges Unterfangen! Dabei geht er empathisch vor, wohlwollen und mit seiner Kompetenz als Islamkenner danach fragend, "was im Sandsturm der Informationen mit uns geschieht". Er analysiert die unterschiedlichen und gegenseitigen Strategien und kommt zu dem Ergebnis: "Wir streiten weniger dialogisch mit dem Islam, als monologisch … über ihn; wir streiten miteinander über unser Islamverständnis und über das Verhältnis, das wir zum Islam einnehmen wollen". In gleicher Weise geschieht dies im Islam, wobei allerdings dort die Gewaltbereitschaft zur Verteidigung der eigenen Werte größer als bei uns ist. Dieses schiefe Bild schreibt Weidner in erster Linie der westlichen Übermacht auf kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Gebieten zu; und auch der kulturellen Ignoranz: "Wir orientieren uns nicht an den anderen, weil wir es nicht für nötig halten, weil wir das, was die anderen zum Diskurs beitragen, als irrelevant für uns einschätzen" (Stefan Weidner, Manual für den Kampf der Kulturen. Warum der Islam eine Herausforderung ist, 2008, Rezension):
Dschihad für Verständigung
Ist der Islam für den Westen die „andere Kultur“, bedrohlich, exotisch und unverständlich? Wie wäre es, wenn es gelänge, die Entwicklung der eigenen kulturellen Identität einer kritischen Reflexion zu unterziehen und die ethnozentrierte Blickrichtung umzulenken und in den Spiegel zu schauen; nicht, um die „eigene Fratze“ zu entdecken, sondern das (vermeintlich und tatsächliche) Fremde nicht als Bedrohung der eigenen Identität wahrzunehmen, sondern als das Eigene aufzudecken? (Iman Attia, Die >westliche Kultur< und ihr Anderes. Zur Dekonstruktion von Orientalismus und antimuslimischem Rassismus, 2009, Rezension). Dabei könnte hilfreich sein, Religionskritik als Weltanschauungskritik, Ideologie- und Gesellschaftskritik aufzufassen (Maxi Berger / Tobias Reichardt / Michael Städtler, Hrsg., „Der Geist geistloser Zustände“. Religionskritik und Gesellschaftstheorie, 2012, Rezension). Gegen die fundamentalistischen Auffassungen, dass der Islam (das gleiche kann man für das Christentum und alle anderen monotheistischen Religionsgemeinschaften anführen) und damit die Offenbarungstexte einer Interpretation und zeitgemäßen Auslegung nicht bedürften, weil sie vollkommen seien, wird in zunehmendem Maße durch reformorientierte muslimische Intellektuelle argumentiert (z. B.: Kai Hafez, Heiliger Krieg und Demokratie. Radikalität und politischer Wandel im islamisch-westlichen Vergleich, 2009, Rezension). Im orient-oxidentalem Dialog haben immer Begriffsdeutungen Mauern errichtet und Brücken gebaut. Der Begriff des „Dschihad“ wurde, nicht zuletzt durch fundamentalistische, kriegerische und unversöhnliche Höherwertigkeitsvorstellungen, für Nichtmuslime zu einem Kampfbegriff, der die Richtung „Gegen“ signalisiert. Die Reformdenker im Islam benutzen den Begriff jedoch als das Bemühen, sich auf den aktiven Weg zu Gott zu machen. Die Islamwissenschaftlerin von der Universität Hamburg, Katajun Amirpur gehört zum (wachsenden) Kreis von Theologinnen und Theologen, die den Islam neu lesen und praktizieren wollen (Katajun Amirpur, Den Islam neu denken. Der Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte, 2013, Rezension).
Wer die Grenzen (s)einer gewissen, kulturellen Selbstverständlichkeit verlässt, entdeckt die eigenen Zugehörigkeiten in neuen Dimensionen
Das, was im interkulturellen Diskurs als die Aufforderung zum „Perspektivenwechsel“ bezeichnet wird, gewissermaßen als die Anstrengung zum Nachdenken über die eigene Identität, mit dem Ziel, sich selbst und die Gruppe und Ethnie, der man angehört, „in den Anderen zu erkennen“, gilt mittlerweile als einigermaßen gesicherte Diskussionsgrundlage über ein gerechte(re)s, humane(re)s Leben der Menschen in der Einen Welt, die gelegentlich auch als „globales Dorf“ bezeichnet wird. Verstehen und Lernen, im eigentlichen Sinne des Wortes als „Verhalten ändern“, dass wir Menschen überall auf der Erde „Fremde“ und „Eingeborene“ sind, was nicht dazu führen darf, den Anderen in seinem Anderssein abzulehnen oder zu diskriminieren, in der eigenen Gesellschaft und Ethnie genau so wenig wie im globalen Kontext, hat also etwas zu tun mit der eigenen sozialen Identitätsarbeit. Dass dies im nahen, europäischen Umfeld genau so möglich ist, wie mit dem interkontinentalen Blick, zeigt Silke Schuster mit ihren Reflexionen zur „antirassistischen Pädagogik“ auf (Silke Schuster, Minderheiten, Mehrheiten und soziale Identitätsprozesse. Perspektive für eine antirassistische Pädagogik, 2004, Rezension).
Diallele oder Dialog?
Die Zeichen stehen eher auf Sturm als auf Verständigung. Der „Kampf der Kulturen“, wie er von Samuel P. Huntington als „clash“ bezeichnet wird, was eigentlich eher mit „Zusammenprall“ übersetzt werden sollte, wird unter den Beobachtungen des Wiedererstarkens der Religionen, des Islam, des Hinduismus, des Christentums, betrachtet. Huntingtons Prognose: „Auf absehbare Zeit werden die Beziehungen zwischen dem Westen und dem Islam im besten Falle distanziert und erbittert, im schlimmsten Falle konfliktreich und gewalttätig sein“ (Alfred Herrhausen Gesellschaft für internationalen Dialog, 1997). Die nationalen und internationalen, interreligiösen Bemühungen, die Konfliktfelder im Verständnis des Islam und des Christentums zu benennen, um sie diskutieren zu können, scheinen bisher wenig Erfolg beschieden zu sein. Der Austausch von Positionen ähnelt mehr einer Diallele, einer sich im Kreis drehenden Art des Denkens, als einem Dialog. In einer solchen Situation ist es dann gut, wenn jemand, der in mehr als 15 Jahren Menschen begegnet ist, die sich zum Islam oder zum Christentum bekennen, in Afrika, einem Kontinent, in dem einerseits der Islam an Einfluss gewinnt; andererseits aber auch vielfältige Missionierungsaktivitäten von christlichen Gemeinschaften zu verzeichnen sind. Der Historiker und Journalist Erhard Brunn hat beruflich als ehemaliger Entwicklungshelfer viele Jahre in Ost- und Westafrika verbracht. Er hat sich mit Extremisten und Idealisten, mit Fundamentalisten und Integrationisten auseinander gesetzt. Er war Beobachter und Beteiligter am Dialog, der immer aus der alltäglichen Situation entstanden ist; nicht als „Botschafter“ einer Religionsgemeinschaft, natürlich auch nicht als „Missionar“, sondern als Partner und Parteinehmer für das Menschenrecht auf Leben, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Erhard Brunn, Christentum und Islam – ein neuer Dialog des Handelns. Begegnungen in Europa und Afrika, 2006, Rezension).
Politische Milieus in Deutschland
Die Klagen und Verwunderungen darüber, dass die Menschen in Deutschland mit ihrer gesellschaftlichen Situation unzufrieden sind, dass sie das sprichwörtliche „halb leere Glas“ dem halb vollen vorziehen, dass die Stimmung insgesamt mies ist, oder dass die von der Politik und den gesellschaftlichen Kräften in Gang gebrachten Reformen an den tatsächlichen Bedürfnissen und Erwartungen der Bürger vorbei gehen, dass den einen die Reformen zu schnell und den anderen zu langsam gehen – und dass schließlich sich daraus egoistische Einstellungen ergeben, die letztendlich münden in eine undifferenzierte Ohne-mich-Haltung und Politikverdrossenheit, bis hin zur Suche nach allzu einfachen und nicht zuletzt antidemokratischen, rechtsradikalen, rassistischen und nationalistischen Lösungen, bestimmen immer öfter den gesellschaftlichen Diskurs. Eine Reihe von Analysen zur Frage nach den Ursachen dieser gemeinschaftsschädigenden Entwicklung liegen vor; etwa, wenn sich Ulrich Beck, der mit seinem 1986 erschienenem Buch „Risikogesellschaft“ den Weg in eine andere Moderne aufgezeigte, mit seiner neuen Arbeit „Weltrisikogesellschaft“ (2007) erneut auf die Suche nach der verlorenen Sicherheit begibt. Im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung hat der am Otto-Stammer-Zentrum für Empirische Politische Soziologie der FU Berlin tätige Gero Neugebauer eine Forschungsarbeit eben zu der Frage durchgeführt, welche dominanten Faktoren die oben beschriebene Stimmung in der deutschen Gesellschaft bestimmen. Die Untersuchung „geht der Frage nach, wie es um die Einstellungen der Bürger zu den Reformen bestimmt ist, worauf die Politik bei der Konzipierung von Reformvorhaben mit Blick auf die Erwartungen der Bürger achten sollte und wie sie Unterstützung für ihre Vorhaben erreichen kann“ (Gero Neugebauer, Politische Milieus in Deutschland. Die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, 2007, Rezension).
Rechtsextremismus als soziale Bewegung
Die politische und öffentliche Aufregung ist groß: Die neuen Daten des Bundeskriminalamts über die gravierende Zunahme von rechtsextremen Gewalttaten in Deutschland bringen eine Aufmerksamkeit in den Medien und Parteien zu Tage, die die bisherigen Reaktionen auf rechtsextremes Gedankengut ablösen durch Forderungen nach dem, was einmal „streitbare Demokratie“ (Hans-Gerd Jaschke) bezeichnet wurde. Die bis in die 80er Jahre im politischen Diskurs über Rechtsextremismus benutzten Formeln, es handele sich beim rechtsextremen Denken und Handeln um Ideologien der „Ewiggestrigen“ und von „Demokratiefeindlichkeit“, bedürfen heute einer neuen Bewertung. Rechtsextremismus in Deutschland – und auch in anderen europäischen Ländern – gründet sich nicht mehr nur auf die Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen und der Verherrlichung des Führertums, sondern erreicht mit rassistischen Ausgrenzungstendenzen und der Verfolgung von Minderheiten eine Ausweitung, die weit in die „Mitte der Gesellschaft“ zeigt. Nicht zuletzt das Buch von Thilo Sarrazin - „Deutschland schafft sich ab“ – verdeutlicht die Gefahren von extremistischen bis fundamentalistischen Aktivitäten für die Demokratie. Zur Bewertung, wirksamen Einschätzung und Auseinandersetzung mit dem politischen Rechtsextremismus ist es wichtig zu erkennen, dass sich seit den 80er Jahren verschiedene Modernisierungsprozesse vollzogen haben und weiterhin wirken: Da ist zum einen die Veränderung der bis dahin hierarchisch bestimmenden Vorherrschaft von rechtsextremen Parteien und paramilitärischen Jugendorganisationen bei der Rekrutierung von Anhängern hin zu bewegungsförmigen und informellen Zusammenschlüssen und Subkulturen. Damit vollzieht sich in der rechtsextremen Entwicklung so etwas wie eine Enthierarchisierung. Die Entdeckung der öffentlichen Medienwirksamkeit durch rechtsextreme Gruppierungen und die sich in diesem Zusammenhang vollziehende Ausbildung und Trainierung von jugendlichen Rechtsextremen stellt eine zweite Ebene der neuen Aktionsformen dar. Sie ist verbunden mit einer neuen Aufmerksamkeit von jungen Menschen, vor allem denjenigen, die sonst als „Verlierer“ im gesellschaftlichen Prozess gelten. Eine besondere Bedeutung hat hierbei auch, dass die rechtsextremen Agitatoren und Meinungsführer zur Verbreitung ihrer Ideen eine regelrechte rechtsextreme Kulturindustrie aufgebaut haben, mit der Produktion und Verbreitung von Musik-CD, Kleidung u.a. Die dritte Ebene der Modernisierungsprozesse stellt die veränderte ideologische Ausrichtung des rechtsextremen, fremdenfeindlichen und rassistischen Gedankenguts dar. Nachdem der „Urfeind“ des nationalistischen und rechtsextremen Denkens, der Kommunismus, nicht mehr in dem Maße Reibe- und Stoßfläche bietet, wird die Idee des „Dritten Wegs“ zwischen Kapitalismus und Kommunismus propagiert; eine vor allem für junge Leute nicht uninteressante Sichtweise (Andreas Klärner / Michael Kohlstruck, Hg., Moderner Rechtsextremismus in Deutschland, 2006, Rezension).
Transnationalität als globale Verflechtung
Transnationalität oder Supranationalität wird in der semantischen Bedeutung synonym mit „Überstaatlichkeit“ bezeichnet. Besonders in der Diskussion um das Völkerrecht finden die Begriffe Anwendung, etwa bei der Kennzeichnung der Europäischen Union, wenn die Übertragung von nationalstaatlicher Gesetzgebung auf überstaatliche Institutionen, wie auf den supranationalen Staatenbund der EU, beschrieben wird. Eine gewisse Differenzierung in den Begriffsanwendungen hat sich jedoch in der letzten Zeit ergeben: Während Supranationalität als Überstaatlichkeit im internationalen Zusammenhang bezeichnet wird, wird von transnationalen Prozessen dann gesprochen, wenn überwiegend ökonomische Beziehungen, wie etwa bei transnationalen Konzernen, dargestellt werden. Transnationalität wird jedoch auch dann benutzt, wenn weltweite kulturelle Phänomene analysiert und verglichen werden. Mit der Hereinnahme von Aspekten der sozialen Unterstützungsforschung und von sozialwissenschaftlichen agency-Theorien in die sozialwissenschaftliche Diskussion um Transnationalisierung und Transnationalität, gleichzeitig der Abgrenzung bzw. der Anschluss-Überlegungen zum Begriff der Globalisierung, soll deutlich werden, dass die bisherigen Theorien und Formen von sozialen Unterstützungsbeziehungen und Agent-Konzepten weitgehend noch innerhalb von nationalstaatlicher und –gesellschaftlicher Verortung diskutiert werden. Notwendig sei „die globale Einbettung von sozialen Problemlagen und Unterstützungsformen“ in die Überlegungen zu Transmigrationsprozessen. Die aus der anglophonen Diskussion eingebrachten Aspekte von „social development“, im Sinne von lokaler und globaler sozialer Entwicklung, sowie „civil society“, als demokratische, politische Handlungsermächtigung und –befähigung der Bürger, verweisen auf die Notwendigkeit, im Diskurs um den Zusammenhang von Transnationalität, sozialer Unterstützung und agency auf die Aspekte der ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Eingliederung sowohl auf lokaler, mikroregionaler und nationaler, als auch auf transnationaler Ebene aufmerksam zu werden (Hans Günther Homfeld / Wolfgang Schröer / Cornelia Schweppe, Transnationalität, soziale Unterstützung, agency; 2006, Rezension).
Die Ungewissheiten der Welt – zwischen Skepsis und Hoffnung
Die Meldung in den Zeitungen, dass die neueste Liste der reichsten Menschen der Erde nur noch, weil es sonst zu viele wären, die Multimilliardäre aufführt; und als Gag die Information, dass einer derjenigen, die im oberen Drittel dieser Liste stehen, ein Amerikaner natürlich, in der Stunde etwa drei Millionen US-Dollar verdient, könnte als ein Witz der Weltgeschichte aufgefasst werden – wenn er nicht so ernst und real wäre. Die Liste der Habenichtse allerdings wird, weil sie viel länger und skandalträchtiger wäre, meist nicht in der Tagespresse veröffentlicht, sondern eher in den alternativen Medien – oder in Büchern wie dem hier zu besprechenden: Der Historiker für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Erlangen und seit 1998 auch Chefkorrespondent für Die Welt, Michael Stürmer, stellt in seinem Buch die Frage danach, wer denn, in den Zeiten der sich immer interdependenter (und chaotischer, zumindest aber unüberschaubarer?) entwickelnden Welt dieses Lebensgebilde der Menschen erben wird (oder will?). Es sind die hegemonialen, fundamentalistisch sich aufbauenden oder fatalistisch-depressiv sich gebenden Ordnungsvorstellungen, die das Dasein der Menschen Hier und Heute bestimmen. Wie auf einer Stufenleiter (oder einer Treppe ins Nichts?) analysiert der Autor die Entwicklung der weltpolitischen Lage vom Kalten Krieg bis zu den neuen nuklearen Drohgebärden eines agitatorisch geschulten Teheraner Präsidenten. Sein Denkspagat, den er dabei als quergelegtes globales Messinstrument benutzt, pendelt zwischen den Wirklichkeiten der traditionellen und neuen Weltordnern von der verzögerten USA, den nachhinkenden Europäern, bis zu den aufstrebenden asiatischen Mächten. Nicht als Wahrsager oder Visionist, sondern mit dem Anspruch, die realen Asymmetrien auf der Erde zu erkennen und zu berücksichtigen, formuliert Stürmer die Frage: „Wer wird die Erde erben?“ Die vordergründigen Antworten, etwa diejenigen, die es verstehen, die weltweiten Märkte offen zu halten, über Informationstechnologien zu verfügen und sich ihrer zu bedienen, genug Energie sein Eigen zu nennen..., reichen nicht aus. Für den Autor müssen zu aller erst Freiheit und Sicherheit der Menschen gewährleistet sein. Diese unverzichtbaren Menschengüter allerdings müssen von allen Menschen beansprucht werden können. Dazu bedarf es der Lebenskunst des Einzelnen und der Staatskunst der Regierungen (Michael Stürmer, Welt ohne Weltordnung. Wer wird die Erde erben? 2006, Rezension).
Gezielte Demokratie- und Toleranzerziehung ist notwendig
Über den Zustand, die Verfasstheit und die Befindlichkeiten der Menschen in unserer Gesellschaft gibt es zahlreiche Analysen, Forschungsergebnisse und Prognosen. Dabei überwiegen eher pessimistische denn optimistische Einschätzungen. Zukunftsangst, Perspektivlosigkeit, das Auseinanderdriften der gesellschaftlichen Gruppen in Wohlhabende und immer Wohlhabender werdende und Arme, die immer ärmer werden, in Gewinner der globalisierten Entwicklung und Verlierer. Allen Bestandsaufnahmen ist dabei gleich, dass es einen Zusammenhang zwischen der Fähigkeit und Möglichkeit gibt, entweder am gesellschaftlichen Leben aktiv teilnehmen zu können, oder am Rande zu stehen und davon ausgeschlossen zu sein. Weil der Mensch, das ist ein Allgemeinplatz seit der Antike, ein zoon politikon, ein politisches, mit Vernunft begabtes Lebewesen ist, deshalb muss die Fähigkeit, politisch zu denken und zu handeln, anerzogen werden. Dazu aber, wie bei allem Lernen, bedarf es des aktiven Tuns und Mittuns eines jeden Menschen, egal welchen Alters und aus welcher gesellschaftlichen Gruppe. Politikerziehung muss also von frühester Kindheit an beginnen bis ins hohe Alter fortgesetzt werden. Lebenslanges Lernen als Daueranforderung und –anspruch hat hier seine originäre Bedeutung. Weil Lernen aber nicht vom Himmel fällt und auch nicht in die Wiege gelegt, auch nicht im Supermarkt gekauft oder sich, wie in der Konsumsprache ausgedrückt, einfach „geholt“ werden kann, bedarf es der Lernanleitung. Die Forschungsgruppe Jugend und Europa am Centrum für angewandte Politikforschung (C.A.P) in München, hat 2006 ein vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördertes Bildungs- und Seminarkonzept entwickelt. Ziel ist es, „zur Stärkung der demokratischen Identität und einer darauf begründeten Toleranzkompetenz bei jungen rechtsgefährdeten Jugendlichen, aber auch bei ihren Altersgenossen im Allgemeinen“ beizutragen und die verschiedenen Aktivitäten, Lerneinheiten und didaktischen und methodischen Anregungen in Zusammenarbeit mit einem Netzwerk von relevanten Einrichtungen im Bereich der Jugendbildung zu verbinden (Eva Feldmann-Wojtachnia, Hrsg., Praxishandbuch. Aktiv eintreten gegen Fremdenfeindlichkeit. Seminarbausteine zur bewussten Auseinandersetzung mit Identität und Toleranz, Rezension).
Globales Lernen ist Existenzlernen, ist Zukunftslernen, ist Lernen
Es gibt viele Begriffe für die eine Tatsache: Wir Menschen leben in Einer Welt! Wir haben nur eine; und es gilt sie mit Menschenkraft und -verstand zu erhalten! So nämlich, dass sowohl gegenwärtige als auch künftige Generation friedlich, leichberechtigt, gerecht, also human auf der Erde leben können. Die Fähigkeit dafür fällt weder vom Himmel, noch wird sie den Menschen in die Wiege gelegt; sie muss lernend erworben werden! Begriffe gibt es dazu viele. Einer, der sich mittlerweile durchgesetzt hat ist Globales Lernen, differenziert (und weiterentwickelt) als Transkulturelle Bildung (vgl. dazu auch: Wiltrud Gieseke / Steffi Robak / Ming-Lieh Wu, Hrsg., Transkulturelle Perspektiven auf Kulturen des Lernens, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/7674.php; sowie: Wolfgang Welsch, Homo mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14323.php). Dabei hat sich im erziehungswissenschaftlichen und global-ethischen Diskurs ein Wandel vollzogen. Wurde anfangs noch von der „Ausländerpädagogik“ gesprochen, bei der die didaktischen Ansatzpunkte im „Lernen für…“ standen, hat sich beim Globalen Lernen der ganzheitliche Gedanke des „Lernens mit …“ durchgesetzt (Gregor Lang-Wojtasik / Ulrich Klemm, Hrsg., Handlexikon Globales Lernen, 2012, Rezension).
Das Gegenwartswort, das in die Zukunft weist
Der „ökologische Fußabdruck“, als Maßband für die Vermessung des notwendigen Lebensraums für ein gerechtes, lebenswertes menschliches Leben auf der Erde, bedarf der Neuvermessung, damit die schreckliche Spirale des zunehmenden Reichtums der bereits Wohlhabenden und der zunehmenden Armut der Habenichtse lokal und global beendet und zurückgedreht werden kann und ein humanes Leben für alle Menschen auf der Erde möglich wird. Dazu ist es angebracht, sich sowohl der semantischen Bedeutung, als auch der historischen und kulturellen Entwicklung bewusst zu werden, die den Begriff zur existentiellen Menschheitsfrage werden ließ (Ulrich Grober, Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/9284.php). Balance als Lebensziel? Das Nachdenken darüber, wie es gelingen kann, dass die Menschheit im individuellen, lokalen und gesellschaftlichen, globalen Bewusstseinswandel begreift, was ein „gutes, gelingendes Leben“ ist und wie es erreicht werden kann, hat viele Facetten. Sie reichen von der Auffassung, dass der homo oeconomicus in der Lage sei, sein wirtschaftliches Denken und Handeln kraft seines Verstandes zu regeln und ein bisschen weniger Mehr für sein Leben zu brauchen, bis hin zur radikalen Umkehr, dass es eines homo empathicus bedürfe, um eine humane Weiterentwicklung der Menschheit zu ermöglichen. Wenn wir die Ansprüche und Erwartungshaltungen nicht so hoch aufhängen wollen, sondern eher danach fragen, was junge Menschen Hier und Heute vom Anspruch nach einer humanen, nachhaltigen Entwicklung halten, kommen wir zu einem interessanten Studienprojekt, das vom Masterstudiengang Wirtschaftspsychologie an der Universität Bremen durchgeführt wurde: „Die Nachhaltigkeitsanforderung verlangt von uns ein anderes Denken – ein Denken, dass widersprüchlich zu unseren heutigen Glaubensvorstellungen ist. Nachhaltig leben wir dann, wenn wir die Ressourcen, die wir zum Wirtschaften brauchen, nicht schneller verbrauchen als sie neu entstehen. Dies gilt für jeden Einzelnen, für Institutionen und Unternehmen, für eine Nation genauso wie die Welt: Passen wir unsere Wirtschaftstätigkeit den Möglichkeiten unserer materiellen und immateriellen Ressourcenquellen an, müssen wir sehr komplexe und dilemmatische Entscheidungsprozesse treffen lernen. Wir sind sehr gut darin, Jetzt-für-Jetzt-Entscheidungen zu treffen. Heute die Kosten, am besten gleich morgen den Nutzen. Wir haben noch keine guten Wege gefunden, Jetzt-für-Dann-Entscheidungen zu treffen: Was müssen wir heute tun, um in den nächsten Jahren noch ausreichend materielle und immaterielle Ressourcen zur Verfügung zu haben? Selbstbeschränkung erfordert Abstimmungsprozesse über das Nichtzuerreichende, über Abwägungen und Kompromisse, die wir erst noch lernen müssen“; diese Auffassung stammt von Georg Müller-Christ, der in Bremen die Professur für „Nachhaltigkeitsmanagement“ inne hat. Zusammen mit der wissenschaftlichen Mitarbeiterin Anna Katharina Liebscher hat Georg Müller-Christ mit 22 Studierenden danach gefragt, wie es ganz konkret und praktisch möglich sein könnte, eine zuverlässige Bedürfnisbefriedigung für alle Menschen auf der Erde zu erreichen, bei gleichzeitiger Sicherstellung der Erhaltung der Lebensgrundlagen für die Menschen (Georg Müller-Christ, Anna Katharina Liebscher (Hrsg.): 55 Gründe für mehr Nachhaltigkeit. Ein Projekt von Studierenden der Universität Bremen für eine Welt mit Zukunft, 2013, Rezension).
Vom Homo oeconomicus zum Homo empathicus
Zivilisationsgeschichten sind Erzählungen, Berichte, Analysen und Betrachtungen über die Entwicklung der Menschheit. Sie beruhen auf je spezifischen Weltbildern und philosophischen, politischen und gesellschaftlichen Vorstellungen „wie wir geworden sind, was wir sind“, und zwar meist bezogen auf die jeweilige eigene kulturelle Identität und Herkunft. Betrachten wir die Zivilisations-(Welt)Geschichte, so können wir erkennen, wie dies Norbert Elias in seiner „Theorie der Zivilisation“ ausgedrückt hat, dass „der Prozess der Zivilisation eine Veränderung des menschlichen Verhaltens und Empfindens in einer ganz bestimmten Richtung ist“ (Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation, Frankfurt/M. 1976). Dabei werden in den Zivilisationsgeschichten überwiegend die kulturellen und technologischen Leistungen und Veränderungen hervorgehoben, während die ursprünglich auf dem eu zên, der Fähigkeit zum guten Leben beruhenden Menschform, wie dies der griechische Philosoph Aristoteles postuliert hat, verloren gegangen ist oder in der Euphorie des „Wirtschaftsmenschen“ einfach vergessen wurde. Immerhin wird der Begriff „Zivilisation“ in der Wirklichkeit einer immer interdependenter und sich entgrenzender entwickelnden Welt, der Globalisierung, heute verstanden, den menschlichen und kulturellen Werten einen zentralen Platz im Rahmen der technischen und ökonomischen Entwicklung einzuräumen, wie dies in der von den Vereinten Nationen ausgerufenen Weltdekade für kulturelle Entwicklung in den 1980er und 1990er Jahren gefordert wurde. Der US-amerikanische Soziologe, Ökonom und Schriftsteller Jeremy Rifkin weiß, wie man die zivilisatorischen Entwicklungen, die positiven und negativen Vorgänge zur Lage der Welt wissenschaftlich fundiert mit allgemeinverständlichen Worten an die Menschen bringt. Das zeigt sich nicht nur darin, dass seine Bücher zu Bestsellern und in vielen Sprachen verlegt werden, sondern auch, dass er mehrfach dafür ausgezeichnet wurde. Mit seinem Buch „Die empathische Zivilisation“ will Rifkin, „eine völlig neue Interpretation der Geschichte der Zivilisation“ vorlegen. Er rekurriert dabei auf die neuen Forschungsergebnisse von Biologen und Kognitionswissenschaften, von Hirnforschern und Entwicklungspsychologen, in denen die bisher gültigen Auffassungen, dass wir Menschen aggressive, materialistische, utiliaristische und egoistische Lebewesen seien, in Frage gestellt werden: Wir sind dem Wesen nach eine empathische Spezies (Jeremy Rifkin, Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein, 2010, Rezension).
Nach dem Menschsein des Menschen fragen
Der Historiker und Kulturwissenschaftler Jörn Rüsen forscht seit langem über die Frage, wie ein Dialog über Menschheit, Kultur und humane Werte in den Zeiten der Globalisierung befördert werden kann. Das Forschungsprojekt „Humanismus im Zeitalter der Globalisierung“ hat zahlreiche interdisziplinäre Analysen, Fragestellungen und Prognosen hervor gebracht, die in der wissenschaftlichen Reihe „Der Mensch im Netz der Kulturen – Humanismus in der Epoche der Globalisierung / Being Human: Caught in the Web of Cultures – Humanism in the Age of Globalization“ publiziert werden. Im Rahmen des o. a. Forschungsprojektes hat sich eine Arbeitsgruppe mit dem Themenkreis „Theorie des Humanismus“ beschäftigt. Jörn Rüsen legt als Herausgeber die Denkansätze dieser interdisziplinären Arbeit vor, wobei er bedauernd feststellt, dass in der vorliegenden Veröffentlichung Beiträge über religiöse Formierung von Menschheitsvorstellungen und über künstlerisch-ästhetische Fragestellungen fehlen, weshalb er von einer „disziplinären Fragmentierung“ spricht.
Der Sammelband konzentriert sich mit den einzelnen interdisziplinären Beiträgen auf die Frage, wie „Menschsein im Diskurs der Disziplinen“ gedacht und verhandelt wird (Jörn Rüsen, Hrsg., Perspektiven der Humanität. Menschsein im Diskurs der Disziplinen, 2010, Rezension).
Jeder Mensch trägt tagtäglich die Verantwortung für die Gegenwart und Zukunft der Menschheit mit sich
Diese Prämisse drückt aus, was sich als Bewusstsein des Menschseins in der Einen Welt postuliert, mit dem Begriff der Universalität belegt wird und der Forderung nach einer globalen Ethik in der sich immer interdependenter, entgrenzender und planetarisch vernetzter Erde zum Ausdruck kommt. Doch der Trägheits- und Egoismuseffekt wirkt lokal und global mächtig. Als wesentliches Gegenargument gegen den Anspruch einer kosmopolitischen Entwicklung lautet z. B., dass die Suche nach einer Moral, die für alle Menschen gilt und von allen auch eingehalten werden muss, weder möglich noch sinnvoll sei, weil ethische Normen sich immer auf kulturelle Traditionen beziehen müssten (was z. B. zur Relativierung der in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 proklamierten Werte und Normen führt). Die Conditio Humana macht es allerdings notwendig, eine gemeinsame, ethische und humane Orientierung der Menschen auf der Erde zu erreichen. Der Bonner Kulturanthropologe Christoph Antweilerplädiert dafür zu erkennen, dass die Menschen auf der Erde nicht in verschiedenen Welten, sondern verschieden in einer Welt leben. Dabei geht es ihm nicht in erster Linie darum, ein „Weltdorf“ zu fordern, auch keine Weltregierung; vielmehr macht er sich auf die Suche nach einem „inklusiven Humanismus“, was bedeutet, nicht eine unerfüllbare Utopie an die Wand zu malen, die den homo sapiens per se als perfekten Weltenmenschen darstellt, sondern nach Kulturuniversalien zu suchen, die den Menschen in seiner individuellen und kulturellen Vielfalt und Unterschiedlichkeit als Menschheit zeigt (Christoph Antweiler, Mensch und Weltkultur, 2010, Rezension).
Dynamik und Wandel des transkulturellen Raumes
Kultur ist …? In der Geschichte der Menschheit hat sich die Vorstellung von Kultur vom ursprünglichen Bearbeiten und der Pflege des Bodens, der agricultura, bis hin zu den intellektuellen und humanen Tätigkeiten, der cultura animi, entwickelt. Der Mensch ist nur da ein humanes Lebewesen, wo er Kultur besitzt, so die Auffassung, die bis heute gilt. „Kultur ist die Gesamtheit der Formen menschlichen Zusammenlebens“, definiert die UNESCO, die Kulturorganisation der Vereinten Nationen, das individuelle und gesellschaftliche, humane Leben der Menschen. In der sich immer interdependenter, entgrenzender und globalisierender entwickelnden (Einen?) Welt ist es bedeutsam, dem Lebensraum der Menschen „Dynamik und Wandel und damit eine eigene Dimension von Geschichte einzuschreiben“ und neue, komplexe Kulturidentitäten zu schaffen (Dorothee Kimmich, Hrsg., Kulturtheorie, 2010, Rezension). Während transkulturelle Konzepte, als Entgrenzungen, politikwissenschaftlich, ökonomisch und bildungstheoretisch den Diskurs bestimmen (vgl. dazu auch: Wiltrud Gieseke / Steffi Robak / Ming-Lieh Wu, Hrsg., Transkulturelle Perspektiven auf Kulturen des Lernens, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/7674.php; sowie: Wolfgang Gippert / Petra Götte / Elke Kleinau, Hrsg., Transkulturalität. Gender- und bildungshistorische Perspektiven, 2008, Rezension), und philosophisch und historisch die Internationalisierung des Raums behandelt wird (Patrick Ostermann, Hrsg., Der Grenzraum als Erinnerungsort. über den Wandel zu einer postnationalen Erinnerungskultur in Europa, 2012, Rezension), wird bisher kulturwissenschaftlich eine eher distanziert bestimmte Auseinandersetzung um die Dynamik von Raumveränderungen und Grenzüberschreitungen geführt (Willi Jasper, Hrsg., Wieviel Transnationalismus verträgt die Kultur? 2009, Rezension). Raumbezogene Phänomene in das transkulturelle Denken und Handeln einzubeziehen, erhält insbesondere aus kultur- und literaturwissenschaftlicher Betrachtung eine neue Dynamik, weil kulturelle und literarische Grenzüberschreitungen zum einen neue Horizonte öffnen können, zum anderen aber auch Schattenseiten zeigen, wie „ökonomische, politische und rassistische Strategien der Exklusion“. Transkulturalität, die Dynamik und Offenheit zwischen Kulturen schaffen will, muss sich deshalb auch darüber bewusst sein, dass „kein einziges Problem, kein einziger Konflikt transkultureller Dynamik tatsächlich auf ‚kulturelle‘ Gründe zurückzuführen ist, sondern dass es jeweils ökonomische, soziale (religiöse, JS) oder politische Gründe sind, die Kulturkonflikte auslösen“ (Dorothee Kimmich / Schamma Schahadat, Hrsg., Kulturen in Bewegung. Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität, 2012, Rezension).
Die Komplexität des Vertrauens
Es ist ein Zauberwort, das eingesetzt wird, wenn scheinbar Gespräche, Situationen und Verhaltensweisen aus dem Ruder zu laufen drohen, wenn Konflikte Kommunikationen erschweren oder gar unmöglich machen. „Vertrauen haben“, als ethische und moralische Charaktereigenschaft hat deshalb im philosophischen, gesellschaftlichen und individuell-alltäglichen Denken und Handeln einen hohen Stellenwert. Der Mensch, so eine biologische Interpretation, entwickelt von sich aus ein Grundvertrauen, insbesondere wenn es um Beziehungen zu anderen Menschen, um Kontakte und Kommunikation geht. Damit Vertrauen aber mehr sein kann als die Abwesenheit von Misstrauen, bedarf es eines Sozialverhaltens, das auf den Grundlagen des Logos wie des Pathos (Aristoteles) beruht. Niklas Luhmann etwa geht davon aus, dass Vertrauen ein elementarer Tatbestand des sozialen Lebens ist. Demnach ist die Frage danach, was Vertrauen ist und sich auswirkt, nicht einfach damit zu beantworten, dass Vertrauensfähigkeit eine „weiche“ Einstellung und Verhaltensweise ist; vielmehr, das zeigen die vielfältigen Formen und Erfahrungen des Alltagslebens, dass Unvertrauen und Vertrauensverlust eng zusammenhängen mit den gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen, wie mit den Werten, Normen, kulturellen und interkulturellen Identitäten des menschlichen Daseins. „Vertrauen ist ein Phänomen, das… Komplexität reduzieren kann und Kooperation erleichtert oder überhaupt erst möglich macht“ – diese Lesart steckt in den Gewissheiten, mit denen wir eine vertrauensvolle Einstellung verbinden und einfordern für alle individuellen, lokalen und globalen Lebensbedingungen der Menschen auf der Erde. In der Charta der Vereinten Nationen (1945) wird an die Völker der Erde appelliert, „unseren Glauben an die Grundrechte der Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau…, nach Treu und Glauben…“ zu entwickeln und auszuüben. Ohne Zweifel steckt in dieser Aufforderung und Hoffnung die Erwartung, dass es der Menschheit gelingen möge, Vertrauen zueinander aufzubauen, „durch Förderung der Zusammenarbeit zwischen den Völkern auf den Gebieten der Erziehung, Wissenschaft und Kultur zur Wahrung des Friedens und Sicherheit beizutragen, um in der ganzen Welt die Achtung vor Recht und Gerechtigkeit, vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten zu stärken, die den Völkern der Welt ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder Religion durch die Charta der Vereinten Nationen bestätigt worden sind“, wie es in der Verfassung der UNESCO vom 16. 11. 1945 heißt.
Es geht um die „Praxis des Vertrauens“, das sich entwickelt in intakten und guten Vertrauenspraktiken und aufgehoben ist in einem rationalem Bewusstsein, dass der Vertrauenserwerb ein aktives, soziales Verhalten bedingt, das sich in „dichten Interaktionsprozessen häufig in einem praktischen Rahmen vollzieht, der als solcher einen Teil der Gründe generiert, die das Vertrauen, das die Subjekte zueinander haben“ (Martin Hartmann: Die Praxis des Vertrauens, 2011, Rezension).
Verfasst von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 17 Materialien von Jos Schnurer.
Zitiervorschlag
Schnurer, Jos, 2013.
Wie Deutschland zu den Fremden kam [online]. socialnet Materialien.
Bonn: socialnet, 20.12.2013 [Zugriff am: 20.06.2025].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/materialien/171.php
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