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Überleben in der Sozialen Arbeit -
Ansätze zur Förderung entsprechender Resilienzkompetenzen

Prof. Dr. Franz Josef Krafeld

veröffentlicht am 07.04.2014

Vorbemerkung

Veranlasst haben mich zu dem folgenden Text zwei sich häufende Erlebnisse: einmal höre ich immer häufiger von einst engagierten Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern die Klage, dass unter ihren Arbeitsanforderungen und Arbeitsbedingungen „das Menschliche immer mehr zu kurz komme“ und der Anspruch, „wirklich helfen zu wollen“ immer mehr auf der Strecke bleibe Und auf der anderen Seite drängt sich mir in Gesprächen mit hoch motivierten und hoch engagierten jungen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern immer öfter die Frage auf, ob jene nicht in hohem Maße Gefahr laufen, mit ihrem Engagement sehr schnell aufgerieben und „verschlissen“ zu werden.

Die immer wieder zu hörenden Forderungen nach überfälligen Verbesserungen der Arbeitsanforderungen und Arbeitsbedingungen in der Sozialen Arbeit sind zwar wichtig, helfen da aber erst mal nicht wirklich weiter. Denn gerade in Feldern Sozialen Handelns kann man ja meist nicht warten, bis sich wirklich etwas an den Rahmenbedingungen geändert hat.

Was daher offenbar Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter heute dringend brauchen, das ist ein Ausbau ihrer Fähigkeiten und Kompetenzen, notfalls auch unter unvertretbaren Rahmenbedingungen noch irgendwie möglichst wirksam, möglichst befriedigend – und dazu noch möglichst achtsam sich selbst gegenüber – tätig sein zu können. – Dazu Anregungen und Anstöße zu geben, darum soll es in dem folgenden Beitrag gehen. Ich wähle dafür die Form schlagwortartiger pointierter Thesen mit jeweils kurzen Erläuterungen:

1. Auch Soziale Arbeit ist fremdbestimmte Lohnarbeit

Gerade da, wo man beruflich unmittelbar mit Menschen zu tun hat, steht natürlich immer wieder als Anspruch oder Wunsch im Raum, diesen Menschen möglichst optimal zu helfen. So wichtig solche Motivation ethisch sein mag, so wirklichkeitsfremd ist sie gleichzeitig als Maßstab allen praktischen Handelns in der Sozialen Arbeit. Damit klar zu kommen, das fällt vielen in diesem Berufsfeld allerdings ungemein schwer, zumal in Zeiten wie den gegenwärtigen. Denn es ist ja leider so, dass nicht die Probleme oder die Bedarfe der Menschen entscheidend dafür sind, was unsere Gesellschaft an Sozialer Arbeit anbietet und was nicht, sondern ganz andere Kriterien und Interessen. Und darauf muss man sich einstellen, wenn man in solchen Berufen nicht ganz schnell „untergehen“ will. Das heißt natürlich nicht, die „Wut im Bauch darüber“ runterzuschlucken oder Träume über Änderungen zu verdrängen. Es heißt aber, sich auf das „Heute“ einzustellen. Denn nur dann ist man heute handlungsfähig – und natürlich auch veränderungsfähig.

Soziale Arbeit ist – das mag einem passen oder nicht –, letztlich in unserer Gesellschaft wie jede andere Erwerbsarbeit fremdbestimmte Arbeit, allerdings eine, die vergleichsweise relativ viele Freiheiten der Einmischung, der Selbstgestaltung und Selbstentfaltung lässt. Und ohne solche „Spielräume“ würde sie letztlich auch gar nicht funktionieren können, zumal sie ja ganz überwiegend mit Menschen zu tun hat, die in ihrer aktuellen Lebensrealität besondere Schwierigkeiten haben, zurecht zu kommen. Und gerade im Umgang mit solchen Menschen, kann es immer wieder wichtig sein, auch jenseits typischer Standardvorstellungen über gelingende Lebensbewältigung nach „Lösungen“ zu suchen.

Wie wichtig einer Gesellschaft Soziale Arbeit ist, was sie von Sozialer Arbeit erwartet und wie sie Bedarfe an Sozialer Arbeit überhaupt aufgreift, das ändert sich natürlich im Laufe der Zeit. Gegenwärtig erleben wir – nach einer kurzen Zeit deutlicher Verbesserungen seit den 1970ern – überall einschneidende Verschlechterungen. So empörend und so frustrierend das vielfach sein mag, ändert das aber nichts daran, dass damit der Bedarf von Menschen an Sozialer Arbeit gewiss nicht geringer geworden ist. Daher wäre auch widersinnig, in ein „das macht doch alles keinen Sinn mehr“ zu flüchten oder in entsprechende „Jammerkulturen“.

2. In Zeiten struktureller Überlastung wird Prioritätensetzung zur zentralen Schlüsselkompetenz

Wenn eigentlich für die Klienten viel mehr getan werden müsste (und wenn der Arbeitgeber auch viel mehr erwartet), als mit den vorhandenen Ressourcen geleistet werden kann, dann führt die verbreitete Haltung, vieles gleichermaßen für wichtig oder gar für unbedingt notwendig zu halten, fast zwangsläufig in irgendeine Form von Kollaps.

Wie viel oder wie wenig geleistet werden kann, dafür sind letztlich allein(!) das vorhandene Volumen und die vorhandene Qualität der nutzbaren personellen und materiellen Ressourcen entscheidend, nicht selbst gesehene oder eingeforderte Bedarfe (über Ausnahmen siehe den Punkt 4: Umgang mit Extremsituationen). Das im Auge zu behalten ist gerade wichtig in Zeiten, in denen es gängig ist, auf den Berg der Arbeitsanforderungen noch immer weitere zu packen, ohne dafür aber andere Aufgaben zu reduzieren oder zusätzliche Ressourcen einzusetzen.

Wenn aber nicht alles geht, dann geht nicht alles – und erst recht nicht alles auch noch ausreichend gut. Dann müssen Prioritäten gesetzt werden. Und zum Prioritätensetzen gehört zwangsläufig – was oft vergessen wird –, nicht nur zu entscheiden, was ganz oben auf der Liste steht, sondern ebenso, was nach ganz unten kommt oder ganz gestrichen werden muss. Und ob etwas gestrichen werden muss, dafür spielt dann – was vielen ebenfalls sehr schwer fällt – überhaupt keine Rolle, ob man das selbst ethisch rechtfertigen kann, dieses oder jenes nicht tun zu können. Es spielt allein die Relation der Wichtigkeit eine Rolle: Was ist im Abwägen gegeneinander wichtiger oder unwichtiger? Und wo ist der Einsatz der beschränkten Mittel letztlich effizienter? Da hilft dann, gezielt Abstufungen zu treffen zwischen

  • zentralen Aufgaben,
  • wichtig, aber nicht vorrangig,
  • drittrangig,
  • nur nebenbei erledigen,
  • nur noch zum Schein erledigen,
  • möglichst unbemerkt nicht tun,
  • offen künftig nicht tun.

Für die praktische Handhabung könnte man diese Punkte in einer Tabelle untereinander schreiben und sich dann jeweils noch senkrecht für unterschiedliche Qualitäten der künftig angestrebten Arbeitsleistung entscheiden, ob sie „intensiv“, „ordentlich“ oder nur „hoppla-hopp“ erbracht werden sollen – und als letztes auch noch in weiteren Senkrechtspalten, ob man diese Tätigkeit „gern“ oder „ungern“ macht. Denn auch das hat immer wieder unterschätzten Einfluss auf die eigene Effektivität! (Eine ähnliche Tabelle steht auf www.franz-josef-krafeld.de, Bereich 11.)

Schwierig werden solche Prioritätensetzungen (und noch mehr deren Kehrseite, die Posterioritäten-Setzungen) gerade in der Sozialen Arbeit. Denn in der Sozialen Arbeit haben wir es meist direkt mit Menschen und deren Problemen zu tun – gleichzeitig aber mit Strukturen und Arbeitsbedingungen, die gar nicht vorsehen, dass tatsächlich allen Klienten angemessen „geholfen“ wird. Und in Zeiten immer weiterer Verknappung von Ressourcen nimmt das noch zu!

Dazu kommt, dass über entsprechende Vorrangigkeiten oft bei Trägern, Vorgesetzten, Klienten und Kollegen sehr unterschiedliche, sich oft sogar gegenseitig ausschließende Vorstellungen herrschen. Man muss also entscheiden, welche Prioritätensetzungen man mit wem gemeinsam vornimmt – und welche man unterschwellig und möglichst unbemerkt für sich selbst trifft.

Gegen Aufforderungen zu Prioritätensetzungen hört man immer wieder den ganz grundsätzlichen Einwand, dass das nicht ginge, weil alles unverzichtbar sei und immer wieder neue Aufgaben hinzukämen. Die Folge sind dann aber wildwüchsig wuchernde „schicksalhafte“ und unterschwellig wirksame Entscheidungsprozesse. Im Übrigen ist aber auch sachlich nicht haltbar zu behaupten, nichts sei unverzichtbar. Man sehe sich da nur die vielen frustrierten und resignierten Kollegen an – und was für die alles verzichtbar ist, ohne dadurch ihren Job zu verlieren. Also sind bedeutende Spielräume da. Und die zu nutzen, das sollte man wirklich nicht den inaktiven Kollegen überlassen.

Prioritätensetzungen fördern die eigenen Handlungskompetenzen allerdings vor allem dann, wenn man selbst voll und ganz dahintersteht und sich entscheidend als eigensinniges Subjekt der eigenen Arbeit empfindet. Um eigene entsprechende Resilienzkompetenzen zu fördern, ist also unabdingbar, dass zum einen künftigen Prioritätensetzungen in möglichst hohem Maße tatsächlich eigene Selbsteinschätzungen von Wirksamkeit zugrunde liegen – und zum zweiten, dass für neue, zusätzliche Aufgaben sofort(!) eine andere Aufgabe reduziert oder gestrichen wird (offen oder verdeckt).

3. Prioritätensetzungen haben mit Ansprüchen anderer umzugehen

An Fachkräfte Sozialer Arbeit werden üblicherweise Ansprüche von unterschiedlichsten Seiten gestellt, die teils sehr unterschiedlich bis gegensätzlich sind – und die vor allem viel zu viele sind, um alle bewältigt zu werden. Zudem ist es gängige Erfahrung, dass sich zwischen vehement vorgetragenen Ansprüchen und tatsächlicher Machbarkeit oft riesige Klüfte zeigen. Und solche Klüfte sind oft umso größer und unüberbrückbarer, je weiter die Fordernden von der realen Arbeit entfernt sind. Zweitens sind solche Klüfte oft umso größer und umso unüberbrückbarer, je weniger die Fordernden bereit sind, auch selbst zur Bewältigung der jeweiligen Probleme beizutragen. Schon aus diesen Gründen erweist es sich immer wieder als ungemein wichtig, vor der Entscheidung über die „Bedienung“ von Forderungen eine Zusage für eine klar definierte und tatsächlich relevante Eigenbeteiligung der Fordernden zu erwarten. Wer das nicht tut, riskiert, dass Forderungen sich nicht auf das „Machbare“ herunterbrechen lassen – und das der Sozialen Arbeit angelastet wird.

Fachkräfte müssen folglich immer wieder nach Wegen suchen, die destruktive Wirkung unrealistischer Ansprüche zu entschärfen oder zu neutralisieren. Da gibt es sicher viele Möglichkeiten, offene, verdeckte und unterlaufende. Aber allen gemeinsam ist, dass sie nur Erfolg haben können, wenn man letztlich nicht den Anspruchstellern die tatsächliche Entscheidung überlässt, was gemacht wird, sondern wenn die handelnden Fachkräfte das letztlich selbst entscheiden.

Auch die eigene Arbeitszufriedenheit hängt letztlich ganz entscheidend davon ab, in wieweit man das Gefühl hat, es letztlich selbst in der Hand zu haben, wie sehr man sich irgendwo einbringt und engagiert und wie man seine eigene Arbeit und Arbeitsleistung managt. Und dazu gehört auch, in möglichst großem Maße selbst den Rhythmus der eigenen Arbeit zu bestimmen und sich nicht als Objekt von Sachzwängen oder Aufträgen durch den Arbeitsalltag gehetzt und getrieben zu fühlen.

4. Extremsituationen sind Ausnahmesituationen

Extremsituationen sind Situationen, die außergewöhnliches Handeln erfordern. Aber Extremsituationen sind natürlich nur Extremsituationen, so lange sie seltene Ausnahmesituationen bleiben. Wenn aber z.B. die fünfte Nacht hintereinander ein obdachloser Jugendlicher um Unterschlupf bei einer Fachkraft zu Hause bittet, ist das keine Ausnahmesituation mehr – selbst bei Minusgraden nicht! Aber in etlichen sozialen Berufssparten ist es längst ganz normal geworden, tagtäglich mit Überlastungen umzugehen, die jede für sich als Extremsituation, als Notfall interpretiert werden. Das sind sie aber oft letztlich nur, weil sie in der Ausstattung jener Angebote nicht mitberücksichtigt wurden. Das ist dann aber keine Extremsituation, sondern eine absichtliche Unterausstattung. Gängige Mehrarbeit aufgrund angeblicher Extremsituationen ist daher letztlich meist nichts als gefährliche Ausbeutung und/oder Selbstausbeutung. Gerade in heutigen Arbeitsverträgen in sozialen Berufen sind vielfach längst Phasen des Spitzenbedarfs (und mehr) völlig ausgespart und werden den Beschäftigten dann als kostenlose Zusatzleistungen abverlangt. Es ist gesellschaftlich so gewollt, dass das so ist.

Und gesellschaftlich ist damit auch entschieden, dass damit zum Beispiel immer wieder völlig übermüdete Ärzte oder fallzahlenüberhäufte Sozialarbeiter schreckliche Fehler machen. Das können selbst noch so aufopferungsbereite Fachkräfte nicht auffangen, auch wenn das von manchen natürlich sehr schwer auszuhalten ist. Aber arbeitsfähig wird man auf die Dauer nur bleiben, wenn man sich von solch strukturellen Überforderungen nicht „auffressen“ lässt und wenn man alles dafür tut, dass Zusatzleistungen in Extremsituationen tatsächlich Ausnahme bleiben.

In allen Arbeitssituationen, in denen es als normaler Alltag gilt, dass immer wieder Extremsituationen „außergewöhnliche Anstrengungen“ verlangen, kann eine sinnvolle Konsequenz daher nur sein, entweder sich dem zu verweigern oder die aktuellen Prioritäten so zu ändern, dass eine Umwandlung etlicher bisheriger Prioritäten in Posterioritäten, also in nachrangig oder gar nicht mehr zu erledigende Angelegenheiten, erfolgt – sei es gemeinsam und offen oder auch einzeln und versteckt.

Vielen allerdings, vor allem vielen jungen Fachkräften, fällt es sehr schwer, zu solchen Schritten auch zu stehen, weil sie ihre eigene ethische und soziale Mitverantwortung herausgefordert fühlen und davon ausgehen müssen, dass sich sonst sicher keiner kümmern wird, wenn sie es nicht selbst machen. Gerade wenn die eigene Arbeitshaltung von hohen ethischen Ansprüchen geleitet ist, fällt es deshalb oft besonders schwer, damit klarzukommen, sich nicht überall einbringen zu können, wo es unbedingt nötig wäre. Und zum realistischen Maß gehört unbedingt auch, an sich selbst zu denken, nicht nur an andere. In der Sozialen Arbeit ist das allerdings vielfach verpönt. Da wird jenes immer wieder beschworene christliche Leitmotiv „Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst“ fast schon systematisch pervertiert in einen moralischen Druck, immer selbstloser zu werden. Eigentlich heißt es aber: „Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst“ – nicht mehr und nicht weniger!

5. Sachzwänge entpuppen sich immer als Machtzwänge

In der Sozialen Arbeit resilient zu werden, das setzt auch die Abkehr von zentralen Ideologemen zur Rechtfertigung der bestehenden – und oft auch erlittenen – Bedingungen voraus. Da ist als erstes das ständige Gerede von den angeblichen Sachzwängen. Aber das, was als angeblich unausweichliche Sachzwänge dargestellt wird, das sind tatsächlich fast immer „lediglich“ Ausflüsse konkreter Machtverhältnisse und machtvoller Interessen. Unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen könnte das also auch ganz anders aussehen, was heute alles als unausweichlicher Sachzwang gilt. Sachzwänge sind also gewollt und nicht „gottgegeben“. Und wer Sachzwänge für „alternativlos“ hält, der ist letztlich mit ihnen einverstanden und will nichts anderes – und ist demnach auch bereit, entsprechende Folgen hinzunehmen.

Das Ganze wird sich gesellschaftlich in absehbarer Zeit gewiss nicht ändern. Aber man muss das ja nicht mitmachen – oder, wie Kurt Tucholsky mal sehr schön plastisch formuliert hat: Man muss den Kakao ja nicht auch noch trinken, durch den man gezogen wird. Und man muss sich durch solche Ideologeme erst recht nicht unter entsprechenden Handlungszwang setzen lassen. Das schafft innere Freiheit, seine eigenen Wege zu suchen und eigene Resilienzkompetenzen zu stärken.

Ähnliches gilt dabei, ob man der öffentlichen Debatte abnimmt, dass die öffentlichen Kassen leer seien. Man schafft sich mehr eigene Handlungsfreiheit, wenn man zu der Überzeugung kommt, dass das keine Frage von Mangel an Geld ist, sondern eine Frage von dessen Verteilung. Und die erfolgt nicht nach Sachzwängen, sondern ist eine Interessen- und Machtfrage, die Gewinner hat und Verlierer. Daran können einzelne Sozialarbeiter (bei allem gesellschaftlichen Engagement) jedenfalls kurz- oder mittelfristig auch nichts Wesentliches ändern. Man muss sich also notgedrungen auf diese Realität einstellen und in dieser Realität Leben leben und sich entfalten – egal, ob man lieber eine andere hätte oder nicht.

6. Soziale Arbeit soll nicht Probleme lösen, sondern sich nur begrenzt einmischen

Auch Klientinnen und Klienten Sozialer Arbeit sind letztlich Subjekte ihres Lebens – und auch als solche ernst zu nehmen. Sie selbst entscheiden letztendlich, was sie aus ihrem Leben machen und wie. In der Fachdiskussion ist das längst Konsens, in der Praxis allerdings längst noch nicht. Da ist immer noch jener Typus von Sozialarbeitern sehr verbreitet, der selbstverständlich zugrunde legt, besser zu wissen, was für die Klientinnen und Klienten gut ist – und was nicht. Und der dann immer wieder völlig konsterniert, überrascht oder gar persönlich enttäuscht reagiert, wenn es dann nicht so läuft, wie er sich das ausgemalt hat.

Klientinnen und Klienten als die eigentlichen Subjekte ihres Lebens ernst zu nehmen, das verlangt als erstes, mit ihnen einen ergebnisoffenen und respektvollen Dialog darüber zu entfalten, was angestrebt werden soll und wie – statt von oben herab besserwisserisch für deren Probleme „Lösungen aufzuzeigen“. Damit vermeidet man nicht zuletzt jene immer wieder beklagten Prozesse voller Stress und Frust, in denen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sich vergeblich die Zähne ausgebissen haben an erfolglosen Bemühungen, Klienten von Mustern abzubringen, die jene momentan selbst in ihrer Lebenssituation als sinnvolle und erfolgversprechende Bewältigungs- und Entfaltungsstrategien ansehen. Und so lange jene nicht Besseres, und zwar Besseres aus eigener Sicht, gefunden haben, wird man sie auch kaum zu wirklichen Änderungen bewegen können. Denn keiner will nur „Weg von …“ ohne ein vielversprechenderes „Hin zu …“ (außer Pädagogen und Politiker vielleicht).

Außerdem soll ja Soziale Arbeit weder von ihrem fachlichen Verständnis her noch von ihren konkreten Aufträgen her wirklich „Probleme lösen“. Ihre Aufgabe ist immer lediglich eine begrenzte Einmischung in Anliegen und Probleme anderer – mal mehr unterstützend, mal mehr direktiv oder kontrollierend. Das heißt aber, dass – entgegen weitverbreiteten Selbstverständnissen – Soziale Arbeit nicht dafür verantwortlich ist, was ihre Klienten machen und welchen oft kurvenreichen Weg diese beschreiten. Solch überzogenes Verantwortungsgefühl kann schier erdrücken – mit unterschiedlichsten Folgen. Soziale Arbeit ist für das verantwortlich, was sie selbst macht – oder was sie versäumt. Aber sie ist nicht verantwortlich dafür, dass ihre Klienten diejenigen Wege erfolgreich nehmen, die andere für sie angemessen finden.

7. Entscheidend ist nicht der Bedarf, sondern sind immer die Wirkungschancen

Immer wieder heißt es von außen oder aus der Sozialen Arbeit heraus, dass hier oder dort unbedingt etwas getan werden müsse. Insbesondere, wenn solche Forderungen von außen kommen, sind aber oft kaum oder gar keine Voraussetzungen gegeben, in der Angelegenheit auch tatsächlich wirksam tätig werden zu können. Immer wieder sind dafür sogar dann genau diejenigen verantwortlich, die lautstark nach der Sozialen Arbeit rufen. Gerade in Zeiten knapper Ressourcen hat aber Soziale Arbeit besonders darauf bedacht zu sein, ihre begrenzten Ressourcen auch möglichst wirkungsvoll einzusetzen. Und eine immer wiederkehrende Erfahrung ist in allen zwischenmenschlichen Prozessen (sei es beruflich oder privat), dass es Erfolge fast durchweg nur dann geben kann, wenn es dafür mindestens zwei „Willige“ gibt. Wo aber die fordernde Seite selbst passiv bleibt, da werden immer wieder unendlich viel Energien und Ressourcen geradezu verschwendet.
Nach dem Capability Approach (dem Befähigungsansatz) sind vier Ebenen entscheidend für eine tatsächliche Entfaltung von Befähigungskompetenz:

  • die realenVerwirklichungschancen
    • aufgrund gesellschaftlicher Bedingungen
    • aufgrund eigener Fähigkeiten
  • die eigenen subjektiven Selbstwirksamkeitsgefühle
  • wertschätzende Beziehungen
  • Anerkennungsquellen im eigenen Umfeld. (Krafeld 2010, S.315)

Bei der Einschätzung von Wirkungen und Wirkungschancen ist allerdings zu berücksichtigen, dass diese oft sehr verschieden ausfallen, je nachdem, wer sie aus welcher Sicht trifft. Für die Kompetenzentwicklung in der Sozialen Arbeit ist aber letztlich am wichtigsten, wie sie selbst die Wirksamkeit einschätzt.

Zur Einschätzung von Wirkungen gehört als Kehrseite immer auch die Einschätzung von Risiken. Gerade in der Arbeit mit Menschen, die sich selbst teilweise in hochriskanten Lebenssituationen befinden, ist oft couragiertes und riskantes Handeln gefordert. Fachkräfte, die selbst gar keine Risiken eingehen wollen, geraten dabei natürlich sehr leicht an Grenzen. Daher gehört es zu den ganz wichtigen beruflichen Kompetenzen in der Sozialen Arbeit, mit wachsender Erfahrung – und durch Vernetzung und Beratung – Risiken immer besser einschätzen zu können, um dann für sich möglichst angemessene und vertretbare Entscheidungen zu treffen. Das geht natürlich nur, wenn man es selbst in der Hand hat zu entscheiden, welche Risiken man eingeht – und welche nicht. Solche Entscheidungen kann – und sollte – letztlich aber auf keinen Fall ein Team oder ein Vorgesetzter abnehmen oder aufdrängen. Denn gerade in Risikosituationen ist es oft ganz entscheidend, wirklich Subjekt seiner selbst zu sein.

8. Soziale Arbeit braucht Optimisten

Alle Arbeitgeber haben schwer damit zu tun, dass die Beschäftigten kaum mal genau das tun – und auch noch „gut“ tun –, was man von ihnen erwartet. Das ist die Kehrseite einer Realität, in der- laut Gallup – seit Jahren nur (noch) 15% aller Beschäftigten ihren Beruf wirklich engagiert betreiben (Gallup 2012). Und die Mehrzahl der Unzufriedenen wird natürlich nach Gelegenheiten und Möglichkeiten suchen, sich ungeliebten Anforderungen oder Bedingungen weitmöglichst zu entziehen. Solch Bemühen nimmt freilich durchaus unterschiedliche Wege. So gibt es in der Sozialen Arbeit (und noch mehr vielleicht unter Lehrern) eine lange kultivierte Tradition von resignativen und lähmenden Jammerkulturen.

Alle kennen Situationen wie folgende: Da beginnt jemand mit der wortreichen Beschwörung seiner eigentlich guten Absichten, um sich dann aber schnell in eine endlose Klage darüber auszubreiten, dass das aber ja leider alles nicht (oder nicht mehr) gehe, weil bestimmte Personen oder Bedingungen das skandalöserweise verhindern würden. Und nebenbei werden dabei immer wieder mehr oder weniger enthusiastisch überfällige Veränderungen eingefordert, die zwar verbal auf Zustimmung stoßen, an deren tatsächliche Durchsetzung aber der oder die Redende eigentlich selbst nicht glaubt. Da werden dann allzu leicht allenfalls noch entsprechend wirklichkeitsferne Erlösungshoffnungen kultiviert. Mit derartigen Mustern inszenieren sich die so Redenden dann selbst als gut meinende und eigentlich Engagierte, aber leider zu Hilflosigkeit und Untätigkeit verdammter Opfer skandalöser Realitäten. Solche Fachkräfte allerdings nützen der Sozialen Arbeit kaum noch. Und sich selbst auch nicht!

Die Resilienzforschung hat demgegenüber immer wieder gezeigt, wie wichtig es gerade auch für Menschen in extrem schwierigen Lebensphasen ist, sich trotzdem als Subjekte ihres Lebens zu empfinden, als Subjekte, die die Fähigkeit und Chance haben, selbst mit Extrembelastungen und Extrembedrohungen sehr unterschiedlich umzugehen. Wer da zum Pessimisten wird und keine sinnvollen Handlungschancen mehr sieht, verzichtet mit solcher Sichtweise letztlich auf immer gegebene Einmischungs- und Veränderungsmöglichkeiten – so klein sie auch sein mögen. Optimisten umgekehrt verfügen selbst in Extremsituationen über ein unendliches Selbstwirksamkeitsgefühl, das ihnen letztlich Mut und Kraft gibt, selbst schlimmste Situationen möglichst „gelingend“ (Thiersch 1986, S.36) zu bewältigen. Überraschenderweise scheint es dabei gar nicht so wichtig zu sein – so ebenfalls die Resilienzforschung –, wie realistisch oder unrealistisch optimistische Einschätzungen oder Selbstwirksamkeitsgefühle sind. Nicht zuletzt ist deshalb auch eine immer wieder zitierte Forderung in der Pädagogik so ungemein wichtig, dass Pädagoginnen und Pädagogen unbedingt Optimisten sein müssten – Optimisten, die immer real vorhandene Entwicklungs-, Veränderungs- und Verbesserungschancen unterstellen, um dann geeignete Wege dafür zu suchen. Und selbst, wenn das alles zu nichts führen sollte, bleibt jedenfalls das selbstwertstärkende Gefühl, wenigstens alles versucht zu haben, was auch nur irgendwie vertretbar war. (Zum optimistischen Menschenbild siehe auch Krafeld 2007, auch auf www.franz-josef-krafeld.de, Bereich 4).

Ein Letztes dazu: Die Forschung zu Resilienzkompetenzen hat immer wieder gezeigt, wie zentral für den Erfolg – und für die Stabilität von Erfolgen – verlässliche und stabile Bezugspersonen sind (und man sich nicht als „lonesome rider“ fühlt). Ideal ist natürlich, wenn man sich von einem Team getragen und von Vorgesetzten verstanden fühlt. Aber oft ist dem ja nicht so. Und erst zu warten, bis man alle überzeugt hat, das würde oft den Start in Veränderungen auf den St. Nimmerleinstag verschieben. Viele wirksame Veränderungen beginnen in der Praxis bei einer einzigen Person, die zunächst alleine damit anfängt. Aber all diejenigen, die im Team keine offene Austauschmöglichkeit haben, brauchen dafür zumindest eine Person außerhalb. Oft muss die gar nicht mal „vom Fach“ sein, sondern nur offen sein zuzuhören und zu kommentieren.

9. Resiliente Soziale Arbeit braucht eindeutigere Kompetenzorientierung

In den bisherigen Abschnitten ist wahrscheinlich immer wieder deutlich geworden, dass es bei der Förderung von Resilienzkompetenzen um keinen festen Kanon von Fähigkeiten gehen kann. Mit Resilienz bezeichnet man vielmehr eine den jeweiligen Situationsanforderungen angemessene, elastische Widerstands- und Entfaltungsfähigkeit (vgl. ausführlicher den Beitrag auf www.franz-josef-krafeld.de. Bereich 3). Und für die Soziale Arbeit heißt das, sowohl gegenüber den Klientinnen und Klienten wie auch bei den Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern das umzusetzen, was ja in Absichtserklärungen längst unstrittig ist: nämlich einen wirklich durchgreifenden Perspektivenwechsel von Defizit- und Devianzorientierungen zu konsequenter Ressourcen- und Kompetenzorientierung. Nicht zuletzt ist das – so sehr wie weniges andere – geeignet, engagierte Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter von übermächtigem Erwartungsdruck von außen und von übermäßigen Ansprüchen an sich selbst freier zu machen. Die pauschale Verantwortung für andere ist letztlich ein Relikt aus feudaler und patriarchaler Zeit. In eine demokratische Gesellschaft passt solch Denkmuster allerdings längst nicht mehr. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sind verantwortlich für das, was sie tun oder tun müssten. Sie sind aber nicht verantwortlich dafür, wie die Klientinnen und Klienten mit sich, mit ihrem Leben – und nicht zuletzt auch mit den Angeboten Sozialer Arbeit – umgehen. Und das gilt trotz bestehender Interventions- und Sanktionsrechte in bestimmten Feldern der Sozialen Arbeit. Denn selbst die sind immer nur partiell.

Die bisherigen Debatten um eine Abkehr von tradierten Devianzorientierungen schleppen aber bis heute noch immer zumindest zwei Denkmuster mit, die jeder wirklichen Kompetenzorientierung im Wege stehen:

  • erstens das Selbstverständnis, entscheiden zu können und entscheiden zu dürfen, was im Einzelfall eigentlich „deviant“ ist und was tatsächlich eine Kompetenz.
  • und zweitens die Vorstellung, dass es heute möglich sei, eindeutige Entschei dungen darüber zu treffen, was gut ist und was schlecht für andere Menschen.

Vieles, was dem einen als deviant erscheint, erweist sich für andere als hilfreicher Weg der Lebensentfaltung und Lebensbewältigung. Und was für die Zukunft tatsächlich nützt, das ist immer schwieriger zu sagen in Zeiten, in denen die Erwachsenengesellschaft jungen Menschen kaum noch tragfähige und erfolgversprechende Wege in Zukunft weisen kann. Die Jugendsozialarbeit hat z.B. jahrzehntelang mit immer hohleren Zukunftsversprechen mächtig mit dazu beigetragen, dass uns heute so erschreckend viele junge Menschen als unmotiviert, nicht leistungsfähig, nicht belastbar usw. erscheinen. Die wurden schließlich nicht unfähig geboren, sondern wurden in dieser Gesellschaft dazu gemacht.

Was inzwischen dagegen immer wichtiger wird in der Sozialen Arbeit, das ist das Bemühen darum, verstehen zu wollen, wie Klientinnen und Klienten selbst ihre belastenden Lebenssituationen sehen und wie diese sich selbst vorstellen können, diese bewältigen und trotzdem ein einigermaßen gelingendes und befriedigendes Leben entfalten zu können, um sich dann in diesen Dialog mit anderen Sichtweisen, Vorschlägen oder Unterstützungsangeboten einzumischen. Solch Handeln kann nebenbei vieles an übermäßigem Verantwortungsdruck (der üblichen Kehrseite von Entmündigung) abbauen und öffnet gleichzeitig wichtige interaktive Chancen für beziehungsgetragenes statt funktionales und devianzzentriertes professionelles Handeln mit Klientinnen und Klienten, die dafür auch viel eher offen sind. Und nicht zuletzt ist ein dialogischer Umgang sehr hilfreich dabei, dass alle mit der Kommunikation zufriedener werden – und daraus neue Kraft ziehen.

Literatur

Gallup Engagement Index 2012. auf: www.gallup.com

Krafeld, Franz Josef (2007): Anregungen zur Reflexion des eigenen Menschenbildes. In: Sozialmagazin, 32.Jg., H.7-8, S.56-61.

Krafeld, Franz Josef (2010): Der Befähigungsansatz (Capability Approach) als Perspektivenwechsel in der Förderung junger Menschen. In: deutsche jugend, 58.Jg., H.7-8, S.310-317.

Thiersch, Hans (1986): Die Erfahrung der Wirklichkeit. Perspektiven einer alltagsorientierten Sozialpädagogik. Weinheim.

www.franz-josef-krafeld.de

Verfasst von
Prof. Dr. Franz Josef Krafeld
em. Hochschullehrer an der Hochschule Bremen
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Zitiervorschlag
Krafeld, Franz Josef, 2014. Überleben in der Sozialen Arbeit -
Ansätze zur Förderung entsprechender Resilienzkompetenzen
[online]. socialnet Materialien. Bonn: socialnet, 07.04.2014 [Zugriff am: 01.04.2023]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/materialien/184.php

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